Territoriale Expansion der USA: Der eiskalte Alaska-Deal

»Warum bis morgen warten?«, soll US-Außenminister William H. Seward entgegnet haben, als ihm der Baron von Stoeckl am Abend des 29. März 1867 vorschlug, den Kaufvertrag für »Russisch-Amerika« am nächsten Tag zu unterzeichnen. In der Hauptstadt war der Amtsbetrieb bereits eingestellt, als der russische Gesandte zum Minister geeilt war, um die gute Nachricht zu überbringen: Soeben sei die Depesche aus Sankt Petersburg eingetroffen – Alexander II. war einverstanden. Doch Seward wollte keine Zeit verlieren. Kaum zwei Stunden später brannte im Außenministerium wieder Licht, und um vier Uhr morgens war alles besiegelt. Noch vor Tagesanbruch endete die russische Präsenz auf dem amerikanischen Kontinent, eine Geschichte, die 126 Jahre zuvor begonnen hatte, als es die Vereinigten Staaten noch gar nicht gab.
Da Russland als letzte der europäischen Mächte in das Rennen um die Kolonisierung Amerikas eingestiegen war, hatte es nicht mehr mit einem großen Stück vom Kuchen rechnen können. Zugleich war das Zarenreich die einzige Macht, die den neuen Kontinent von Osten her erreichte: Während England, Spanien und Frankreich ihre Interessen über den Atlantik hinweg betrieben, expandierte Russland in entgegengesetzter Richtung – quer durch Eurasien bis an den fernsten Rand Sibiriens. Und darüber hinaus. Als 1741 der dänische Seefahrer Vitus Bering als Leiter einer russischen Expedition die Meerenge zwischen Kamtschatka und Amerika überquert und die Küste Alaskas erreicht hatte, erhielt das Zarenreich wie durch die Hintertür Zugang zu einem gigantischen, unerschlossenen Gebiet.
Doch anders als bei der Eroberung Sibiriens, als die Russen ein Jahrhundert zuvor etliche lokale Reiche unterwarfen, war es in Amerikas äußerstem Nordwesten vor allem private Initiative, die die Expansion vorantrieb: Abenteurer, die es zu Fuß bis nach Tschukotka und Kamtschatka schafften, setzten in Booten zu den Aleuten über – interessiert an den Pelzen von Robben und Seeottern. Die Beute wurde in China gegen Seide und Tee getauscht.
Bis 1799 florierte der Handel so prächtig, dass die russische Krone ihn unter ihre Kontrolle zu bringen gedachte. Dafür rief sie die Russisch-Amerikanische Kompanie ins Leben. Nach dem Vorbild der Britischen Ostindien-Kompanie sollte die Gesellschaft neue Gebiete erschließen und dort die russische Herrschaft sichern – finanziert durch selbst erwirtschaftetes Geld.
Während an der südlichen Pazifikküste, von Kalifornien bis Oregon, Europäer jahrhundertelang um jedes Stück Land rangen, das sie den indigenen Ureinwohnern oder einander abluchsen wollten, hatte Russland in Alaska lange Zeit keine Rivalen. Erst in den 1820er Jahren, als sich die russische Herrschaft entlang des Nordpazifiks von der Mündung des Yukon im Norden bis zur Küste British Columbias im Süden ausgedehnt hatte, mussten die Einflusszonen mit England formell abgesteckt werden.
Eine neue Macht trat auf den Plan
Mitte des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt jedoch. Eine neue Macht trat auf den Plan – die Vereinigten Staaten. Eine Nation, die ihre eigene Vision vom Schicksal Amerikas hatte, festgeschrieben in der Monroe-Doktrin. Amerika, so deren Kern, dürfe kein Objekt der Kolonisierung sein. Es gehöre denen, die dort leben: den Amerikanern.
Diese Doktrin, benannt nach dem fünften US-Präsident James Monroe, der sie 1823 in einer Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress formulierte, war zunächst lediglich eine bloße Deklaration. Doch in weniger als 100 Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatten sich die Vereinigten Staaten von einer Hand voll armer Kolonien zu einer ernst zu nehmenden Regionalmacht mit Armee, Flotte und aufstrebender Wirtschaft entwickelt, die in der Lage war, ihre Ansprüche durchzusetzen.
Während England, Spanien und Frankreich ihre Interessen über den Atlantik hinweg betrieben, expandierte Russland genau in entgegengesetzter Richtung
Mit ihrer Haltung widersprachen die USA eigentlich den Interessen Russlands als Kolonialmacht. Aber ein einschneidendes Ereignis veränderte die Lage für das Zarenreich grundlegend: der Krimkrieg. Als Russland 1853 versuchte, das geschwächte Osmanische Reich auf dem Balkan zu besiegen, sah es sich einer Koalition aus England und Frankreich gegenüber, die dem Sultan zur Seite stand. Preußen und Österreich hielten sich zwar aus dem Konflikt heraus, zeigten aber ebenfalls offen ihre feindliche Haltung. Mit ganz Europa im Streit, fand Russland ausgerechnet jenseits des Atlantiks einen stillen Verbündeten. Nach außen hin wahrten die USA zwar Neutralität, unterstützten das Zarenreich jedoch diskret mit Waffenlieferungen und halfen, die Seeblockade der Alliierten in der Ostsee und im Schwarzen Meer über die nordrussischen Weißmeerhäfen und die Beringstraße zu umgehen.
Nach blutigen Kämpfen auf der Krim erlitt Russland im Februar 1856 eine vernichtende Niederlage, die den Krieg nach knapp zweieinhalb Jahren beendete. Die Staatsfinanzen lagen am Boden, die Verschuldung war auf das Dreifache der Jahreseinnahmen gestiegen. Und so reifte in russischen Regierungskreisen der Gedanke, sich von unrentablem Besitz zu trennen und ein Geschäft zu machen. Dies jedenfalls ist die gängige Erklärung, die das wachsende Interesse an einem Verkauf nachvollziehbar machen soll.
Verheerende Versorgungslage
Schnell richtete sich der Blick weit gen Osten: Russisch-Amerika war ohnehin im Niedergang begriffen. Die Pelztierbestände waren durch jahrzehntelange exzessive Jagd nahezu erschöpft. Zudem hatten die Kolonisten große Teile der indigenen Bevölkerung auf dem Gewissen, die an den Folgen von Zwangsarbeit oder an eingeschleppten Seuchen gestorben waren. Die Versorgung der russischen Siedlungen hing vom Wohlwollen Britisch-Nordamerikas ab, dem späteren Kanada. Der Versuch, mit Fort Ross auf dem Gebiet der spanischen Krone, 80 Kilometer nördlich von San Francisco, eine eigene Versorgungsbasis der Russisch-Amerikanischen Kompanie aufzubauen, war gescheitert. Die Logistik war ein einziger Albtraum. Eine Reise von Sankt Petersburg nach Alaska – quer durch Sibirien oder alternativ einmal um die Welt per Schiff – dauerte Jahre. Die Möglichkeiten, das entlegene Überseeterritorium gegen einen eventuellen Angriff der Engländer zu verteidigen, wären gleich null gewesen: Auf einer Fläche, die etwa der Hälfte der heutigen EU entspricht, lebten gerade einmal 500 Russen.
Ein Verkauf erschien daher als gute Option und Washington als williger Käufer, hatten die USA doch bis 1867 rund 63 Prozent ihrer Fläche durch Landkäufe erworben. Und so beauftragte Zar Alexander II. seinen Gesandten in den Vereinigten Staaten, Baron Eduard von Stoeckl, mit der sensiblen Mission.
Stoeckls Trumpf war sein Draht zu US-Außenminister William H. Seward, einem Anwalt aus dem Bundesstaat New York, der 1860 gerne Präsidentschaftskandidat der neu gegründeten Republikanischen Partei geworden wäre. Seward hatte allerdings gegenüber Abraham Lincoln das Nachsehen, diente unter ihm aber als Chef des State Department. Diesen Posten behielt der inzwischen 63-Jährige, als Andrew Johnson einen Tag nach Lincolns Ermordung 1865 als US-Präsident nachrückte. Seward war vom Erwerb Alaskas so besessen, dass das große Geschäft schließlich als »Sewards Wahnsinn« in die Geschichte eingehen sollte. Er war es auch, der Präsident Johnson dazu brachte, den Kauf abzusegnen.
Ein Kauf über Jahre hinweg
Vorausgegangen waren dreimonatige Geheimverhandlungen. Die am Ende vereinbarte Kaufsumme betrug 7,2 Millionen US-Dollar in Gold. Im Vergleich zu anderen bedeutenden Landkäufen der USA erwies sich Alaska als außergewöhnlich preiswert: Es kostete die Hälfte dessen, was Frankreich im Jahr 1803 für Louisiana erhielt, war deutlich günstiger als das 1819 von Spanien erworbene Florida und wesentlich preiswerter als die großen Gebiete wie Kalifornien, Arizona und Nevada, die 1848 von Mexiko abgetreten wurden. Die Vertragsunterzeichnung in der Nacht des 30. März 1867 war jedoch nur der Auftakt; der gesamte Kaufprozess zog sich über mehr als ein Jahr hin.
Zunächst ging es zügig voran: Am 9. April 1867 ratifizierte der amerikanische Senat den Vertrag. Am 20. Juni trat er in Kraft, und bereits am 18. Oktober 1867 fand die offizielle Übergabezeremonie in Nowo-Archangelsk, der Hauptstadt Russisch-Amerikas, statt – dem heutigen Sitka, das damals gerade mal aus gut 100 Blockhäusern bestand.
Doch im Kongress geriet die Genehmigung der Zahlung ins Stocken. Das Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs lag noch keine zwei Jahre zurück. Die Wirtschaft war ausgelaugt, und Präsident Johnson hatte während des Prozesses zur Bewilligung der Kaufsumme für Alaska nur mit hauchdünner Mehrheit das erste Amtsenthebungsverfahren der US-Geschichte überstanden. Darin war ihm zur Last gelegt worden, er hätte Mittel für die Unterstützung ehemaliger Sklaven und den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft des Südens gekürzt. Und nun plötzlich Millionen für ein abgelegenes Stück Eis? Erst nach monatelangem politischem Tauziehen stimmte das Repräsentantenhaus der Zahlung schließlich zu.
Am 28. Juli 1868 unterzeichnete Außenminister Seward die Anforderung für den Zahlungsauftrag Nr. 4217 aus dem Finanzministerium. Am 1. August wurde der entsprechende Scheck ausgestellt und der Betrag der russischen Auslandsbank in London gutgeschrieben. »Die Transaktion wurde so fair und korrekt wie möglich abgewickelt«, sagt die Historikerin Lee Farrow von der Auburn University im US-Bundesstaat Alabama, die mehrere Bücher über die russisch-amerikanische Geschichte publiziert hat.
Muntere Legendenbildung
Wenn der Kauf tatsächlich so transparent vollzogen wurde, stellt sich die Frage: Warum ranken sich um den »Alaska Purchase« mehr Mythen als um jeden anderen Gebietserwerb der USA? Da gibt es etwa die Legende von einem Schiff, das mit dem Gold für Alaska untergegangen sein soll, oder die Behauptung, Russisch-Amerika sei gar nicht verkauft, sondern nur verpachtet worden – oder gar, die Bolschewiki hätten den Vertrag nach 1917 wieder annulliert. Der Historiker Ilya Vinkovetsky von der Simon Fraser University führt die reichhaltige Legendenbildung auf die Rivalität zwischen der Sowjetunion und den USA im Kalten Krieg zurück, die den Alaska-Deal zum Gegenstand von Verschwörungstheorien gemacht habe. Andere Experten weisen auf Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung hin, die die ins Kraut schießenden Spekulationen befeuerten.
»Zunächst einmal verkauften die Russen Alaska eigentlich nicht aus finanzieller Verzweiflung«, erklärt Steve Haycox, emeritierter Professor für Geschichte an der University of Alaska in Anchorage, gegenüber »Spektrum der Wissenschaft«. Zwar brauchte das Zarenreich Geld, doch der Erlös machte nur einen Bruchteil des Staatshaushalts aus und hätte nicht einmal ein Drittel der jährlichen Zinszahlungen für die Auslandsschulden decken können. Allein die Bankgebühren verschlangen rund 1,5 Millionen Dollar. Der Rest floss in den Kauf von Ausrüstung für drei Eisenbahnlinien im europäischen Teil Russlands. Eine gigantische Halbinsel gegen Lokomotiven und etwas Bahntechnik eintauschen – ernsthaft? Angesichts dieses geradezu absurd anmutenden Ungleichgewichts wirkt selbst die Legende vom im Meer versunkenen Gold fast glaubwürdiger.
Auch die angebliche Bedrohung durch Großbritannien erscheint kaum stichhaltig. Russisch-Amerika wurde weniger durch Truppen als durch seinen besonderen Status als Handelszone geschützt. So schloss die Russisch-Amerikanische Kompanie während des Krimkriegs eigenmächtig einen geheimen Neutralitätsvertrag mit dem verfeindeten Großbritannien. Während die englische Flotte jenseits der Beringstraße russische Häfen blockierte, blieben die Handelsstützpunkte in Alaska zugänglich, und die Schiffe der Kompanie konnten weiterhin ungehindert mit Pelzen handeln und Waren einführen.
Noch zweifelhafter ist der Verweis auf die ökonomische Ineffizienz. Russland hat sich nie durch finanzielle Erwägungen davon abhalten lassen, Gebiete zu erobern oder zu halten. Sowohl Sibirien als auch Zentralasien hatten enorme Summen verschlungen – gegen die die Ausgaben für Alaska geradezu lächerlich erscheinen. Angesichts der »berüchtigten Gier, einer unheilbaren und chronischen Krankheit«, wie die 1864 in Wien gegründete »Neue Freie Presse« den territorialen Expansionsdrang Russlands seinerzeit nannte, schien ein freiwilliger Verzicht auf ein großes Territorium kaum vorstellbar. So entstand der Mythos, Alaska sei nur verpachtet worden.
Der Goldrausch kam erst später
»Auch hatte der Kauf von Russisch-Amerika durch die USA wenig mit bekannten oder potenziellen Ressourcen zu tun«, urteilt Haycox. Ihm zufolge wäre es seltsam gewesen, wenn ein und dasselbe Gebiet als unrentabel verkauft, aber als profitabel gekauft worden wäre. Das Klischee von Alaska als Land des Goldes und des Öls sei erst später entstanden. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses habe niemand eine Ahnung von Alaskas Goldvorkommen gehabt. Der berühmte Klondike-Goldrausch setzte erst 30 Jahre später ein, und Erdöl spielte zum Zeitpunkt des Verkaufs als begehrter Rohstoff noch kaum eine Rolle.
»Der teuerste Kühlschrank der Geschichte«, ätzten die Zeitungen
Auf der Gegenseite, in den USA, war der Erwerb von Alaska alles andere als populär. Viele hielten das Geschäft für eine völlige Fehlinvestition. »Der teuerste Kühlschrank der Geschichte«, ätzten die Zeitungen, spekulierten über eine künftige US-Strafkolonie nach sibirischem Vorbild und schlugen vor, Außenminister Seward gleich selbst ins »Walrossland« zu verbannen. Nur mit Mühe konnte der Handel durchgesetzt werden. Und mit Geld abseits der Kaufsumme.
»Offensichtlich wurden Kongressabgeordnete bestochen«, schrieb bereits der frühe Russlandexperte und Historiker Frank Golder (1877–1929). Ein Teil der Kaufsumme gelangte demnach nicht nach Russland, sondern blieb als Schmiergeld in den Taschen einflussreicher US-Politiker und Journalisten im Land. Der Korruptionsexperte Casey Michel von der gemeinnützigen Human Rights Foundation spricht vom »ersten großen ausländischen Lobby-Skandal« in der US-Geschichte – der als Vorbild für spätere Einflussnahmen autoritärer Regime gedient habe.
Wenn diese Einschätzungen zutreffen: Warum gingen die zwei Vertragsparteien das Risiko und die Kosten ein, um ein Geschäft zu machen, das bei Lichte betrachtet für beide Seiten unvorteilhaft war?
Der Drang, Kanada zu schlucken
William H. Sewards persönliche Motive sind bereits seit Langem gut dokumentiert. »Nur wenige Tage nach der russischen Offerte informierte er Präsident Andrew Johnson, dass britische Kolonien im kanadischen Westen bald gleichwertige Mitglieder der USA werden könnten«, schreibt der Historiker David Emory Shi von der Furman University in South Carolina im Fachblatt »Pacific Historical Review«. Der Drang, Kanada zu schlucken, war damals – anders als heute – kein populistischer Größenwahn, sondern eine staatstragende politische Strömung.
Ein Jahr zuvor hatten die USA hohe Zölle auf wichtige kanadische Exportgüter wie Bauholz, Getreide und Wolle eingeführt. Die politischen Motive waren nicht zu übersehen. »In ein paar Jahren werden die Kanadier vor Kälte am Zaun rütteln und um Aufnahme in die Große Republik bitten«, prophezeiten amerikanische Zeitungen. Kurz darauf, am 2. Juli 1866, brachte ein Abgeordneter aus Massachusetts im US-Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf zur Annexion von Britisch-Nordamerika ein, der die Eingliederung und die Aufnahme seiner Provinzen als Staaten und Territorien in die USA forderte – jedoch nie verabschiedet wurde.
War also Sewards Alaska-Besessenheit schon Wahnsinn, so hatte er doch Methode. Wie es Karl Marx (1818–1883) damals formulierte: »Die Erwerbung ist ökonomisch keinen Cent wert, aber dadurch wird England von einer Seite vom Meer abgeschnitten und der Heimfall des ganzen britischen Nordamerika an die US beschleunigt.« Doch die Dinge nahmen eine überraschende Wendung.
Queen Victoria legte vor
Nur einen Tag bevor Zar Alexander II. sein Einverständnis telegrafieren ließ, unterzeichnete Queen Victoria am 29. März 1867 den Stunden zuvor vom britischen Parlament ratifizierten »British North America Act«, der Kanada zum Dominion, zur sich selbst verwaltenden Kolonie, machte. Auf Grundlage dieses Gesetzes sollten zum 1. Juli 1867 die britischen Kolonien zu einem amerikanischen Staat auf amerikanischem Boden werden, ganz im Sinne der Monroe-Doktrin.
Die Kunde von diesem Vorgang könnte Seward dazu veranlasst haben, den Vertragsschluss mit den Russen mit beispielloser Eile voranzutreiben. Wie die weitere Entwicklung zeigte, hatte er »die Stärke und Vitalität des kanadischen Nationalismus unterschätzt«, so Historiker Shi. Dennoch schmiedete Seward noch 1869, ein Jahr vor seinem Rücktritt, Pläne, Grönland von Dänemark zu kaufen, um so Kanada in die Zange zu nehmen und noch stärker unter Druck zu setzen, den USA beizutreten.
Auch die russischen Pläne erschienen Zeitgenossen durchaus transparent und plausibel. Die europäische Presse kommentierte den Verkauf Russisch-Amerikas als gezielte Finte – als Köder, um die USA in einen offenen Konflikt mit Großbritannien zu treiben und sie damit zum Bündnispartner Russlands zu machen. Eine Konstellation, die damals in Europa als ernsthafte Bedrohung galt.
Doch ein Machtwechsel durchkreuzte sämtliche Kalküle. Ein Jahr nach dem Kauf Alaskas ließ der neue US-Präsident Ulysses S. Grant (1822–1885) den tarifpolitischen Druck sowie die Annexionsfantasien gegenüber Kanada kurzerhand fallen. Die Folge: Alaska wurde vom ersten Brückenkopf in Richtung Kanada zur letzten Grenze, zur »Last Frontier« – und 1959, gefolgt nur noch von Hawaii, zum bislang vorletzten US-Beitrittsstaat. Und so wurde es nichts mit dem antieuropäischen Bündnis zwischen Russland und den USA – jedenfalls damals.
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