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Theorienkrise: »Wir Psychologen haben das theoretische Denken verlernt«

Zu selten präzisieren Psychologen ihre Theorien – doch das wäre dringend notwendig, findet Gerd Gigerenzer. Im Interview erklärt der bekannte Risikoforscher, wie die Psychologie aus der Theorienkrise finden kann.
Eine Frau mit langen, rotbraunen Haaren und einer orangefarbenen Mütze putzt sich mit einer Bambuszahnbürste die Zähne. Sie trägt einen roten Pullover und steht an einem bewölkten Strand vor dem Meer. Im Hintergrund sind Wellen zu sehen.
Laut dem Psychologen Walter Mischel behandeln psychologische Wissenschaftler ihre Theorien wie Zahnbürsten: Jeder verwendet nur die eigene.

Herr Gigerenzer, wie steht es um die Psychologie – steckt sie in einer Theorienkrise oder nicht?

Davon, dass die Psychologie in einer Krise steckt, wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts geredet. Und tatsächlich sind noch immer viele Bereiche unseres Fachs nicht besonders theoretisch. Stattdessen werden oft Ersatztheorien präsentiert, also vage Konzepte, die im Nachhinein alles erklären können. Dabei sind Theorien das, was am Ende alles zusammenhält. Ich würde mir schon wünschen, dass man in der Psychologie mehr denkt.

Wann ist Ihnen das Problem zum ersten Mal selbst aufgefallen?

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich Student in München war. Zu Beginn des Studiums hatte ich psychoanalytische Texte gelesen, zum Beispiel »Grundformen der Angst« von Fritz Riemann. Darin fand sich ein wunderbares Schema der Persönlichkeitsstrukturen, das mich anfänglich beeindruckt hat: Ich konnte jede Person – all meine Freunde und mich selbst – in ein 2-mal-2-Schema einordnen. Und irgendwann kam es mir dann: Das ist genau das Gegenteil von dem, was Wissenschaft ausmacht. Wenn man mit einem Schema alles erklären kann, es also nichts gibt, was dem widersprechen könnte, dann macht man keine Wissenschaft. Eine gute Theorie soll angeben, was nicht passieren darf; das ist das alte Grundprinzip von Falsifizierbarkeit. Nur dadurch wird es interessant.

Wie kommt es, dass viele Psychologinnen und Psychologen keine tiefgehenden Theorien entwickeln?

Theorien zu entwickeln ist eben schwieriger, als Experimente durchzuführen. Deswegen ersetzt man sie durch Ersatztheorien. Dazu gehört beispielsweise »redescription«, also zirkuläre Erklärungen. Man beschreibt einen Effekt, den man in einer Studie gefunden hat, einfach mit anderen Worten und verkauft dies als Erklärung. Der französische Dramatiker Molière hat sich schon im 17. Jahrhundert über solche zirkulären Erklärungen lustig gemacht: »Warum macht uns Opium müde?« Die Erklärung: »Wegen seiner dormativen Eigenschaften.« Sie merken, in dieser »Erklärung« steckt keine zusätzliche Information.

Was wäre ein Beispiel für eine Wiederbeschreibung in der Psychologie?

In einem vielfach zitierten Experiment zu automatischem Verhalten – dem Priming – berichteten die Autoren, dass Personen, bei denen das Stereotyp »Professor« aktiviert wurde, intelligentere Leistungen zeigten. Das Ergebnis wurde so erklärt: »Konkret wird erwartet, dass die Aktivierung des Professorenstereotyps zu intelligentem Verhalten führt, weil die Aktivierung des Professorenstereotyps zur Aktivierung von Intelligenz führt« (Dijksterhuis & van Knippenberg, 1998, S. 872). Es ist keine Schande, wenn man keine Erklärung für einen Effekt hat, aber es ist zirkulär, wenn man einen Effekt durch den gleichen Effekt »erklärt«. Eine zweite Version der Ersatztheorien sind Ein-Wort-Erklärungen.

Was bedeutet das?

In einer klassischen Studie von Daniel Kahneman und Amos Tversky hat man Menschen gefragt: »Gibt es mehr englische Wörter mit dem Buchstaben ›k‹ an erster oder an dritter Stelle?« Darauf antwortete ein Großteil der Befragten: »An erster Stelle«. Während das für die meisten anderen Buchstaben gestimmt hätte, ist es bei »k« falsch. Die Autoren haben dann behauptet, dieser Fehler komme dadurch zu Stande, dass es Menschen leichter fällt, ein Wort mit dem Anfangsbuchstaben »k« zu produzieren als eines mit einem »k« an dritter Stelle, und nannten diese Erklärung »availability« (Verfügbarkeit). Es klingt plausibel, aber das ist genau das Problem. Was »availability« genau bedeutet, wurde nie definiert, und so konnte man diese »Erklärung« in einem halben Dutzend verschiedener Bedeutungen verwenden: etwa wie schnell das erste Wort in den Sinn kommt (»ease«), wie viele Worte in den Sinn kommen (»frequency«), ob etwas anschaulich ist (»vividness«) und so weiter. Doch diese verschiedenen Bedeutungen sind nicht dasselbe. Peter Sedlmeier, Ralph Hertwig und ich haben die gleichen Experimente durchgeführt, aber wir haben tatsächlich gemessen, wie lange die Menschen brauchen, bis ihnen ein Wort mit »k« an der ersten oder einer späteren Position einfällt. Und wir haben auch gemessen, wie viele Wörter Menschen innerhalb eines bestimmten Zeitraums einfallen. Dabei zeigte sich, dass keine dieser Messungen die Urteile der Teilnehmer erklären konnte. Es war also nur eine gute Geschichte, die auch in vielen Lehrbüchern unkritisch wiederholt wurde. Das ist genau der Punkt: Man kann so gut wie alles mit einem plausiblen Wort »erklären«, solange man dabei nicht präzise wird.

Verfolgen Psychologen noch andere Strategien, um Theorien zu vermeiden?

Eine dritte Strategie ist, eine Liste von Dichotomien statt einer Theorie aufzustellen. Am bekanntesten sind so genannte duale Prozesstheorien zur Erklärung menschlichen Denkens.

Was sagen duale Prozesstheorien vorher?

Sie sagen nichts vorher, das ist es ja! Stattdessen erklären sie alles im Nachhinein. Von dualen Theorien gibt es viele; die meisten unterscheiden ein System 1, das schnell, intuitiv, assoziativ, unbewusst und fehlerhaft ist, und ein System 2, das langsam, analytisch, reflektiert, bewusst und rational ist. Obwohl dies als »Prozesstheorie« bezeichnet wird, wird kein psychologischer Prozess spezifiziert – man hat nur allgemeine Oppositionen, wie »intuitiv versus analytisch« und »fehlerhaft versus rational«. Wenn Menschen beim Lösen eines Problems einen Denkfehler begehen, dann war es System 1. Wenn sie dagegen richtig antworteten, war es System 2 – also tiefer an Erklärungskunst geht es kaum.

Mit welchen Studien hat man versucht, die zwei Systeme zu belegen?

Für die Existenz dieser zwei Systeme gibt es keinen neurologischen Nachweis. Auch sind deren Komponenten keine Oppositionen: Intuitives Denken geht in der Regel mit analytischem Denken einher. Ein erfahrener Arzt spürt etwa, dass heute mit seinem Patienten etwas nicht stimmt. Das ist Intuition, die auf langjähriger Erfahrung beruht, wo man etwas spürt, aber es noch nicht erklären kann. Diese Intuition ist dann der Anlass für den Arzt, bewusst diagnostische Methoden einzusetzen. Nochmals: Intuition und Analysen sind keine Gegensätze, sondern man braucht beides. Doch manche Verhaltensforscher polarisieren das und denken, dass nur Logik, nicht Intuition zu guten Entscheidungen führt.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein klassisches Beispiel findet man in dem Buch »Nudge« des Ökonomen Richard Thaler und des Rechtswissenschaftlers Cass Sunstein: Stellen Sie sich vor, Sie haben eine schwere Krankheit und denken über eine gefährliche Operation nach. Sie fragen Ihre Ärztin: Was soll ich unternehmen? Darauf kann Ihre Ärztin auf zwei Weisen antworten: Sie kann sagen, Sie hätten eine 90-Prozent-Chance, die Operation zu überleben. Oder sie sagt, Sie hätten eine 10-Prozent-Chance, dabei zu sterben. Psychologen nennen das positives und negatives »Framing«. Bei positivem Framing sind deutlich mehr Menschen bereit, die Operation zu machen. Thaler und Sunstein sind jedoch der Meinung, dass diese Menschen irrational seien, da beide Frames logisch identisch sind. Nach dieser abstrakten logischen Rationalität sollten Sie also nicht hinhören, welche Formulierung Ihr Arzt wählt. Dabei wird hier jeder intelligente Mensch hinhören.

Wieso sollte man als Patient hinhören?

Die Studien zeigen: Wenn Ärzte der Meinung sind, eine Person solle die Operation durchlaufen, dann formulieren sie ihre Empfehlung auch auf die positive Weise – weisen also auf die 90-Prozent-Chance zu überleben hin. Wenn sie hingegen der Meinung sind, man sollte lieber seine Finger von der Operation lassen, dann wählen sie eher die negative Formulierung– in dem Fall die 10-Prozent-Chance zu sterben. Ein Arzt weiß in der Regel mehr – und ein intelligenter Patient hört hin.

Das heißt, die Vorannahmen über die Welt, die hier in eine Theorie gesteckt werden – dass wir alle einer logischen Vernunft folgen –, sind eigentlich falsch.

Stimmt, und genauso ist die Idee ein Irrtum, dass logische Rationalität immer zum besten Ergebnis führt. Intelligenz ist mehr als abstrakte Logik – wir können zwischen den Zeilen lesen. Der Patient versucht hier herauszufinden, was der Arzt indirekt mitteilt, und das wird von Thaler und Sunstein als irrational missinterpretiert. Das Beispiel zeigt, dass die Normen, an denen Menschen gemessen werden, oft rein logisch statt psychologisch sind. Nur: Mit Logik allein würde man nicht verstehen, was einem andere mitteilen wollen.

»Daten ohne Theorien sind wie Babys ohne Eltern: Sie haben eine geringe Lebenserwartung«

Warum sind Theorien überhaupt so wichtig für wissenschaftlichen Fortschritt – geht es nicht auch ohne?

Daten ohne Theorien sind wie Babys ohne Eltern: Sie haben eine geringe Lebenserwartung. Wenn Sie nur Daten erheben ohne eine Theorie, die dahintersteht, werden Sie wenig erkennen außer einigen Effekten, die Sie nicht verstehen. Als ich Professor an der University of Chicago war, fanden meine Kollegen und ich einmal einen erstaunlichen Effekt, den wir nicht verstanden: Befragten wir amerikanische Studenten, welche von zwei deutschen Städten – beispielsweise Bielefeld oder Hannover – mehr Einwohner hat, so fanden mehr von ihnen die richtige Antwort, als dies bei deutschen Studenten der Fall war. Das war völlig unglaublich, denn die Studenten in Chicago wussten ja deutlich weniger über deutsche Städte! Dieses Ergebnis widersprach allen herkömmlichen Theorien des Wissens, die annehmen, dass man besser antwortet, je mehr man weiß. Was meinen Sie: Hat Hannover oder Bielefeld mehr Einwohner?

Sicher bin ich nicht, aber ich würde sagen, Hannover.

Richtig! Aber vielen Deutschen fällt die Entscheidung schwer – sie wissen zu viel. Die amerikanischen Studenten wussten weniger, daher sprechen wir von einem »Less is more«-, einem »Weniger ist mehr«-Effekt. Aber erst wenn man den kognitiven Prozess präzise modelliert, kann man herausfinden, in welchen Situationen er auftritt.

Was steckt hinter dem Effekt?

Erst nach einiger Zeit wurde uns klar, dass Menschen hier die Rekognitionsheuristik anwenden. Die amerikanischen Studenten hatten noch nie von Bielefeld gehört und urteilten daher richtig, dass Hannover wohl mehr Einwohner hat. Die deutschen Studenten hatten von beiden Städten gehört und konnten daher die Rekognitionsheuristik nicht anwenden. Dieser Weniger-ist-mehr-Effekt wurde auch bei Vorhersagen im Tennis demonstriert: »Welcher von zwei Tennisspielern wird ein Match gewinnen?« Sich auf Rekognition zu verlassen, bedeutet hier: Wenn eine Person von einem Tennisspieler gehört hat und von dem anderen noch nicht, dann schätzt sie, dass derjenige, den sie kennt, das Match gewinnt. Die Heuristik kann man also nur anwenden, wenn man halb ignorant ist, das heißt von dem einen Tennisspieler gehört hat, von dem anderen aber noch nicht. Der Weniger-ist-mehr-Effekt tritt genau dann auf, wenn Rekognition valide ist, also mit dem Kriterium korreliert, und das ist im Tennis der Fall. Eine Studie über die Vorhersage der Ergebnisse der 127 Wimbledon-Matches im Herren-Einzel zeigte, dass die ATP-Ranglisten der Tennisspieler zu 66 bis 68 Prozent richtige Vorhersagen machen, Tennisexperten zu 69 Prozent – und die Rekognitionsheuristik zu 72 Prozent.

Das bedeutet aber auch: Man muss sich für diese Theorie auf bestimmte Bereiche der Realität beschränken.

Richtig. Jede Theorie hat einen beschränkten Anwendungsbereich. Das vergessen wir in der Psychologie immer wieder. Die Quantentheorie in der Physik hat einen beschränkten Anwendungsbereich: Sie hilft einem herzlich wenig, wenn man es mit den großen Phänomenen im Kosmos zu tun hat. Da braucht man die Relativitätstheorie. Und es wäre wünschenswert, dass man auch in der Psychologie für jeden theoretischen Ansatz angibt, wo man davon ausgeht, dass er funktioniert – und wo er nicht funktionieren könnte. Beim Weniger-ist-mehr-Effekt bedeutet das: Wenn Rekognition keine Validität hat, dann verlassen sich auch nur wenige Menschen auf die Rekognitionsheuristik. Wenn Sie beispielsweise nicht fragen, ob Hannover oder Bielefeld mehr Einwohner hat, sondern stattdessen, wo mehr Katholiken leben, dann werden die meisten Menschen die Heuristik nicht mehr anwenden, weil sie intuitiv wissen, dass Religion mit Rekognition nicht korreliert.

»Dieses mangelnde Interesse an den kognitiven Prozessen verblüfft mich immer wieder«

Die Psychologie braucht Theorien also sowohl, um die Gründe hinter menschlichem Verhalten herauszufinden, als auch, um die Rahmenbedingungen dafür zu kennen.

Genau. Wir brauchen Theorien, um den Prozess abzubilden: Wie kommt eine Person dazu, sich so zu verhalten? Hier am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat gerade unser jährliches Sommer-Institut zu »Bounded Rationality« stattgefunden. Von knapp 40 Teilnehmern aus aller Welt waren etwa die Hälfte Psychologen, die anderen kamen aus der Ökonomie und anderen Fächern. Es war erstaunlich zu beobachten, dass fast alle Psychologen ausschließlich untersuchten, ob eine Intervention einen Effekt auf eine Entscheidung hat. Nur ganz wenige versuchten, den Prozess zu modellieren, mit dem Menschen zu dieser Entscheidung kommen. Dieses mangelnde Interesse an den kognitiven Prozessen verblüfft mich immer wieder.

Woran liegt es, dass Psychologinnen und Psychologen hier selten in die Tiefe gehen?

Dazu trägt ein Forschungsparadigma bei, das in der Psychologie sehr verbreitet ist: das Testen von Nullhypothesen. Man hat eine Kontrollgruppe und eine Experimentalgruppe, und dann schaut man: Hat die Intervention einen signifikanten Effekt? Dieses Paradigma ist im letzten Jahrhundert durch den britischen Statistiker Ronald Fisher in die Psychologie gekommen, ursprünglich hat er es in der Landwirtschaft angewendet. Auf ein Feld wurde Mist geworfen, auf ein anderes nicht, und nachher hat man überprüft, wo die Kartoffeln besser wachsen. Es ist eine Methode, die nicht gerade zum theoretischen Denken ermuntert, denn man fragt nur: Liegt ein Effekt vor oder nicht? Ist der Effekt signifikant, versucht man die Studie zu publizieren. Man interessiert sich nicht weiter für das eigentlich Psychologische – den Prozess dahinter – oder begnügt sich mit Ersatztheorien. Wir Psychologen haben das theoretische Denken verlernt, und ich bin der Meinung, dass das Testen von Nullhypothesen einer der Gründe dafür ist.

Was bedeutet »Nullhypothese« in diesem Kontext?

Man möchte wissen, ob ein bestimmter Eingriff einen Effekt hat. Die Nullhypothese lautet meistens: »Es gibt keinen Unterschied.«

Also etwa keinen Unterschied zwischen Medikament und Placebo?

Richtig. Bloß ist das eine Fehlinterpretation, denn das war nicht, was Fisher meinte, die Psychologen haben es nur so interpretiert. Richtiges Hypothesentesten funktioniert so: Man stellt eine eigene Hypothese auf, die eine klare Vorhersage macht. Die Vorhersage sollte möglichst präzise sein. Die eigene Hypothese testet man dann gegen die besten alternativen Theorien, die ebenfalls präzise Vorhersagen machen. Beim Nullhypothesen-Testen testet man dagegen meist eine präzise Nullhypothese, ohne die eigene Hypothese überhaupt zu spezifizieren.

Ist die menschliche Psyche vielleicht einfach zu komplex für derart präzise Aussagen? Fachleute führen zum Beispiel an, dass psychologische Phänomene sich nicht zuverlässig zeigen, dass Effekte hochgradig kontextabhängig sind und psychologische Variablen in Experimenten nur schwer isoliert betrachtet werden können. Ist es am Ende einfach zu schwierig, dies theoretisch zu erfassen?

Theorien zu entwickeln, ist natürlich eine mentale Herausforderung. Und in der Psychologie ist es vielleicht noch schwieriger als in anderen Feldern. Aber das, was Sie beschreiben, ist nicht notwendigerweise die Ursache für wenig theoretisches Denken, sondern kann auch die Folge davon sein. Zurück zum Beispiel des Weniger-ist-mehr-Effekts – also dass Menschen, die weniger über ein Thema wissen, dennoch bessere Urteile treffen können: Auch dieser Effekt trat manchmal auf, manchmal aber wieder nicht. Jetzt kann man sagen: »Es ist alles kompliziert!« Doch in dem Moment, in dem wir den kausalen Mechanismus erkannten und eine formale Theorie aufstellten, konnten wir vorhersagen, wann der Effekt eintritt und wann nicht. Man beginnt zu verstehen. Und aus Wirrwarr wird Klarheit.

Eine weitere Herausforderung der Psychologie ist es, verschiedene Analyseebenen zu verbinden, sozusagen vom einzelnen Neuron bis zum fertigen Gedanken. Ist es nicht schwierig bis unmöglich, diese Kluft zu überwinden?

Das stimmt, eine kausale Brücke vom Aktionspotenzial von Neuronen zum Verhalten in der wirklichen Welt zu schlagen, ist zu schwierig. Wenn ein solcher Reduktionismus in der Wissenschaft gelingt, ist das ein riesiger Erfolg. Aber es gibt nur wenige Beispiele, etwa, Temperatur auf die Bewegung von Molekülen zu reduzieren. Hier sollte man daher nicht zu viel von der Analyse von Neuronen erwarten. Doch man kann innerhalb eines Levels – ob auf dem neuronalen Level, dem kognitiven Level oder dem Verhaltenslevel – sehr wohl versuchen, präzise zu sein.

Trägt auch das Wissenschaftssystem Schuld daran, dass das nicht öfter passiert?

Sicherlich, zumindest in der Psychologie wird erstaunlicherweise wenig Wert auf theoretische Bildung gelegt. Den Studenten werden meist nur statistische Methoden – wie Nullhypothesen-Testen – beigebracht, die dann auch noch gedankenlos wie ein Ritual praktiziert werden. Ein anderes Problem ist, dass heute zu viel publiziert wird. Es wird zu viel Wert auf Quantität statt auf Qualität gelegt. Daran sind auch wir Professoren schuld, denn in den Auswahlkomitees sitzen immer mehr Kollegen, die die Publikationen eines Bewerbers zählen, anstatt sie zu lesen. Um möglichst viel zu publizieren, teilen manche Forscher eine größere Forschungsarbeit zudem in mehrere so genannte »least publishable units« auf.

In Einzelteile einer Publikation, die man gerade noch veröffentlichen kann?

So ist es. Zum Beispiel hatte eine meiner Postdocs eine exzellente Arbeit über soziales Lernen durch Imitation durchgeführt, in der sie erst mittels Simulationen präzise Vorhersagen machte und diese dann experimentell testete. Sie kam dann auf die Idee, Simulationen und Experimente zu trennen und so aus der Arbeit zwei Papiere zu machen, um sie an zwei verschiedene Journale zu senden. Dabei wäre jedoch der ganze theoretische Zusammenhang verloren gegangen – genau das, was ihre Arbeit ausmachte! Ich war Koautor und sagte ihr, sie könne das machen, aber ich würde in dem Fall meinen Namen zurückziehen, denn diese Zerstückelung widerspricht meinen wissenschaftlichen Prinzipien.

Wie ging die Sache aus?

Sie hat darüber nachgedacht, und schließlich haben wir die Arbeit gemeinsam veröffentlicht, in einer einzigen Publikation.

»Wissenschaftler haben heute mehr Angst als noch vor 20 Jahren«

Junge Wissenschaftler sind nun einmal mit der Erwartung konfrontiert, möglichst viel zu publizieren. Sie müssen sich ihre Karriere ja erst noch aufbauen.

Es gibt viele falsche Anreize im heutigen System, unter denen junge Wissenschaftler leiden. Aber ich beobachte auch, dass Wissenschaftler heute mehr Angst haben als noch vor 20 Jahren. Manchmal ist es sogar vorauseilender Gehorsam, und sie machen sich mehr Angst, als sie eigentlich müssten. Mein Rat ist: Wenn Wissenschaft das ist, wofür Sie leben wollen, dann machen Sie es einfach so gut, wie Sie können! Denken Sie nicht ständig an die Karriere – was am Ende zählt, ist Qualität.

Angesichts all dieser Probleme: Gibt es auch Bereiche, wo Psychologen theoretische Fortschritte gemacht haben, die Ihnen Hoffnung machen?

Ja, etwa in dem Bereich der Entscheidungsforschung. Über Jahrzehnte beschränkten sich Entscheidungstheorien auf Situationen, in denen alles sicher ist, einschließlich der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintritt. Typisch dafür ist zum Beispiel die Frage: »Möchten Sie lieber 100 Euro mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent bekommen oder 40 Euro ganz sicher erhalten?« Auf solchen kleinen Welten, in denen alles sicher ist, basierten auch die Analysen des Ökonomie-Nobelpreisträgers Robert Lucas. In seiner Ansprache vor der amerikanischen ökonomischen Gesellschaft AEA im Jahr 2003 sagte er, die makroökonomische Theorie hätte das Problem von wirtschaftlichen Depressionen – also Finanzkrisen – ein für alle Mal gelöst. Und fünf Jahre später kam es zur Finanzkrise. Theorien, die eine stabile Welt annehmen, können einem in der wirklichen, ungewissen Welt illusionäre Sicherheiten vorspiegeln.

Wie sehen Entscheidungstheorien heute aus?

Wir sehen heute eine Bewegung weg von der »Psychologie der Sicherheit« hin zur »Psychologie der Ungewissheit«. Das ist etwa die Forschung zur ökologischen Rationalität – »ecological rationality« –, die auf den Sozialwissenschaftler Herbert Simon zurückgeht. Simon ist bis heute der Einzige, der sowohl den Ökonomie-Nobelpreis als auch den Turing-Preis, das Pendant für Leistungen in der Informatik, erhalten hat. Entsprechend entwickeln meine Kollegen und ich Theorien über Entscheidungen unter Unsicherheit – also in Situationen, wo man die Risiken nicht vollständig berechnen kann – und auch über die Situationen, in denen einfachere Algorithmen erfolgreicher sind als komplexe Algorithmen, wo also »Weniger ist mehr« gilt. Diese Forschung ist normativ und deskriptiv. Wir entwickeln etwa schnelle heuristische Methoden, die Ärzte dann in der Intensivstation anwenden, um bessere Entscheidungen unter Zeitdruck zu treffen. Aber wir modellieren auch, wie ganz normale Laien Entscheidungen treffen. Jemand hat zum Beispiel ein paar zehntausend Euro geerbt: Wie legt die Person das Geld an?

Gibt es bereits eine Theorie, die bei einer derartigen Fragestellung konkrete Vorhersagen macht?

Um es kurz zu machen: Wir haben Studien in Italien durchgeführt und in Gemeinschaftsbanken die Entscheidungsprozesse von Personen untersucht, die mindestens 50 000 Euro investierten. Der durchschnittliche Italiener informiert sich nicht, sondern verlässt sich auf einen heuristischen Prozess. Im ersten Schritt versucht die Person zu klären: Ist der Bankberater kompetent und kann ich vertrauen? Um das herauszufinden, wäre es sinnvoll, Fragen zu stellen wie »Können Sie mir erklären, was Volatilität ist?«. Aber nein, die Vertrauensfrage basierte im Wesentlichen auf drei anderen Kriterien: Hält der Bankberater Augenkontakt, hört er zu und nickt er? Das ist alles! Nach diesen Kriterien wären Sie zum Beispiel ein guter Bankberater.

Danke schön, aber behalten Sie lieber erst mal Ihr Geld. Was ist der zweite Schritt?

Der Durchschnittsitaliener hat nun Vertrauen, es folgt die Frage, für welche Anlageoption er sich entscheidet. Hier werden meistens nur zwei Fragen gestellt: »Ist die Anlage sicher?« Wenn der Bankberater darauf mit Ja antwortet, wird die Option gekauft – dabei ist natürlich nichts sicher auf der Welt. Und die zweite Frage lautet: »Kann ich während der Laufzeit noch aussteigen?« Auch keine brillante Frage, denn jeder kann aussteigen; die Frage ist bloß, wie viel man dafür bezahlen muss. Hier wäre mehr Finanzbildung nötig, und das nicht nur in Italien.

Sie sagen, die Psychologie könne angesichts der Theorienkrise etwas von der Physik lernen. Wie geht das?

Über einige Dinge haben wir schon gesprochen – Präzision von Theorien etwa und anzugeben, wo eine Theorie angewendet werden kann. Außerdem könnte die Psychologie von der Physik lernen, dass man auf bestehende Theorien aufbaut. In der Psychologie passiert das leider selten. Selbst wenn man theoretische Gebäude hat, wie das skinnersche operante Konditionieren oder Pawlows klassisches Konditionieren, verschwinden diese plötzlich und spielen kaum noch eine Rolle, zumindest in der kognitiven Psychologie. Die Konditionierung kann allerdings heute jeder hautnah beobachten, da Technologiefirmen damit erfolgreich das Verhalten vieler Menschen kontrollieren – uns etwa dazu bringen, ständig und ganz automatisch das Handy zu checken. Walter Mischel hat einmal gesagt: Viele Psychologen behandeln Theorien wie Zahnbürsten: Niemand möchte die eines anderen benutzen. Jeder will selbst irgendwas Neues machen, statt auf dem aufzubauen, was vorliegt.

Was sollten psychologische Wissenschaftler stattdessen tun?

Was in der Psychologie öfter passieren sollte, ist Theorienintegration, und zwar auf einem präzisen Niveau. Ich habe dazu ein Paper mit vielen Beispielen geschrieben. Man sammelt zunächst Phänomene, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Anschließend kann man etwa bestimmte Asymmetrien finden: In manchen Bedingungen ist einer der Effekte größer, dann ist er wieder kleiner – man weiß noch nicht, warum. Erst durch Integration der verschiedenen Effekte und der darunterliegenden kausalen Prozesse kann man plötzlich sehen, dass der Grund, warum der eine Effekt asymmetrisch ist, womöglich darin liegt, dass der andere genau diese Asymmetrie erzeugt.

Der Psychologie scheint also noch viel Arbeit bevorzustehen. Würden Sie sich als junger Wissenschaftler heute wieder für die Psychologie entscheiden?

Ja, das würde ich. Aber andere Wissensgebiete wie Verhaltensforschung im Meer würden mich auch neugierig machen. Ich habe viel Zeit unter Wasser verbracht. Ein Korallenriff ist nicht nur unglaublich schön – das Verhalten der Tiere in diesem Ökosystem zu verstehen ist auch eine Herausforderung. Besonders Schwarmverhalten fasziniert mich: Es gibt kein Tier, das diktiert, wo es hingeht, und doch schwimmen alle gemeinsam in die gleiche Richtung. Das Geheimnis liegt hier ebenfalls in heuristischen Regeln wie Imitation; durch sie gelingt es den Tieren, dauerhaft eine bestimmte Distanz zu den benachbarten Tieren einzuhalten. Nimmt man einem Schwarmtier die Teile des Gehirns heraus, die diese Heuristiken steuern, dann imitiert das hirnlose Tier nicht mehr die anderen, sondern schwimmt einfach irgendwohin. Es wird dadurch zum Führer des Schwarms – die anderen schwimmen ihm nach. Bei Menschen kann man das auch beobachten.

Gerd Gigerenzer | Der Psychologe ist Direktor am Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Bis 2017 war er Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat ihn als einen der 100 einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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  • Quellen
Tversky, A., Kahneman, D., Cognitive Psychology 10.1016/0010–0285(73)90033–9, 1973
Gigerenzer, G., et al., Heuristics: The foundations of adaptive behavior, 2011
Berg, N. et al., SSRN 10.2139/ssrn.1692433, 2010
Gigerenzer, G., Decision 10.1037/dec0000082, 2017
Gigerenzer, G., Theory & Psychology 0.1177/09593543231209342, 2024

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