Mütter mit Borderline: Mama im Schleudergang

Sie kleben Pflaster auf aufgeschlagene Knie und trösten, wenn die Welt keinen Sinn macht: Für viele ist die Mutter der Mensch, der uns bedingungslos liebt und sich um uns sorgt – auch wenn wir vielleicht längst erwachsen sind. Doch nicht für jeden: »Ich habe schon gemerkt, dass die Beziehung zu meiner Mutter speziell war«, sagt Sandra. Sie ist heute 28 und erinnert sich an eine weniger behütete Kindheit. »Die Mütter meiner Freundinnen waren viel offener und gingen anders mit ihnen um.« Heute kennt sie den Grund dafür: Sandras Mutter hat Borderline.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist tief greifend. Betroffene zeigen problematische Muster im Denken, Erleben und Verhalten, die teils schon beginnen, wenn sie selbst noch Kinder sind. Vor allem im Umgang mit anderen gibt es große Schwierigkeiten; Beziehungen verlaufen turbulent. Das macht das Elternsein für sie zu einer noch größeren Herausforderung, als es das ohnehin schon ist.
»Diese Menschen sind sehr sensibel für die Stimmungen und Schwingungen anderer«, erklärt Charlotte Rosenbach. Sie ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Health and Medical University Erfurt und erforscht, wie sich Borderline auf die Mutterschaft auswirkt. »In Zuständen hoher Anspannung haben Betroffene jedoch Schwierigkeiten, das Verhalten ihres Kindes richtig zu lesen und adäquat darauf zu reagieren. Wenn eine Mutter nicht weiß, was das Schreien des Babys bedeutet – ob es Hunger oder Durst hat, müde ist oder auf den Arm will –, kann es dazu kommen, dass seine Bedürfnisse in diesem Moment unbefriedigt bleiben. Dies wiederum führt zu mehr Schreien des Babys und mehr Frust auf Seiten der Mutter. Im schlechtesten Fall eskaliert die Situation.«
Eskalieren bedeutet in dem Fall oft: Brüllen, Toben, Wüten. Kernmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind extreme Gefühle und schnelle Wechsel der Stimmungslage. »Das führt auch dazu, dass betroffene Mütter inkonsistent in ihrem Verhalten sind, so dass die Kinder keine klare Orientierung bekommen. Sie wissen nicht, ob das, was sie tun, in Ordnung ist oder nicht«, sagt Rosenbach. »Wenn das Kind fröhlich in eine Pfütze springt und dann voller Matsch ist, lacht die Mutter das eine Mal, ein anderes Mal ist sie sauer, und manchmal ist es ihr völlig egal – je nach aktueller Stimmung.«
All das geschieht nicht aus bösem Willen, hat aber Folgen für den Nachwuchs: Kinder von Müttern mit Borderline verhalten sich schon als Säuglinge anders. Darauf deutet das so genannte Still-Face-Experiment hin, mit dem Forschende testen, wie ein Baby reagiert, wenn seine Bezugsperson emotional nicht erreichbar ist: Im ersten Versuchsdurchgang sollen Probandinnen zurückalbern, wenn ihre Kinder sie angucken und brabbeln. Spannend wird es, wenn die Forschenden die Mütter im zweiten Durchgang dazu anhalten, überhaupt nicht auf die Kontaktversuche ihres Babys zu reagieren und ihren Nachwuchs nur mit einem starren Ausdruck anzusehen – auf Englisch »still face«. Die Babys von Müttern ohne Borderline-Diagnose versuchen, durch Laute oder Zappeln die Aufmerksamkeit ihrer Mütter zurückzugewinnen. Babys von Frauen mit Borderline zeigen sich in dieser Situation häufig reglos und benommen und meiden den Blickkontakt mit ihrer Mutter. Wahrscheinlich haben sie bereits gelernt, dass in solchen Momenten Kontaktversuche nichts bringen oder sogar negative Folgen haben können.
In einer 2017 erschienenen Studie zeigten betroffene Mütter Probleme, das Verhalten ihres zwölf Monate alten Kindes zu deuten. Forschende um die Psychiaterin Andrée-Anne Marcoux von der Universität Montreal hatten Frauen mit und ohne Borderline beim Spielen mit ihrem Kind beobachtet und ihr Verhalten ausgewertet. Mütter mit Borderline sagten während des Spiels mehr als dreimal so häufig Dinge, die in diesem Moment gar nicht passten, etwa »Oh, du willst nicht mehr mit dem Laster spielen, lass uns ein Puzzle machen«, wenn das Kind sich gerade noch vergnügt mit dem Lastwagen beschäftigte. Marcoux und ihre Kollegen sehen das als Beleg für Defizite beim so genannten Mentalisieren – der Fähigkeit, innere Zustände richtig zu erkennen.
Mal ignoriert, mal überrollt
Mütter mit Borderline reagieren mitunter gleich auf zwei Arten unsensibel auf ihr Kind. Mal sind sie abwesend, mal aufdringlich; das Kind fühlt sich abwechselnd ignoriert und überrollt. »Wenn ein Kind nie genau weiß, was als Nächstes passiert, führt das zu einer angespannten Erwartung«, erklärt Charlotte Rosenbach. Und noch auf eine andere Weise verhalten sich betroffene Mütter paradox. Sie sind oft gleichzeitig überbehütend und feindselig. Mit den Jahren müssen ihre Kinder lernen, mit der Unvorhersehbarkeit zu leben – wie ist Mama wohl heute drauf?
Auch Sandra hatte Schwierigkeiten, ihre Mutter einzuschätzen. »Wenn ich in der Pubertät mal zu spät nach Hause gekommen bin oder keine guten Noten mitgebracht habe, ist sie manchmal regelrecht explodiert«, erinnert sie sich. »Dann schrie sie mich an, und fünf Minuten später war wieder alles, als wäre nichts gewesen.« Als sie ein Teenager war, sei ihre Mutter einmal so wütend geworden, dass sie eine Tür hinter sich zuschmetterte. Dabei sei das Glas geborsten.
Irgendwann habe ihre Mutter begonnen, andere zu manipulieren: »Später, da war ich 15, hatte sie einen Streit mit ihrem Mann. Und da sie nicht mehr weiterwusste, hat sie ihm damit gedroht, sich umzubringen.« Damals lebten Sandra und ihre Mutter nahe den Bahngleisen. »Ich bin ihr hinterher und habe nur geweint. Ich habe mich so hilflos gefühlt«, erinnert sie sich. »Das war das erste Mal, dass sie das vor uns Kindern gemacht hat.« Danach habe ihre Mutter immer wieder mit Selbstmord gedroht. »Oft war der Grund, dass sie das Gefühl hatte, meinem Vater nicht zu reichen«, sagt Sandra. Als Sandra auszog in eine eigene Wohnung, entwickelte die Mutter dieses Gefühl auch ihr gegenüber. »Sie glaubte, dass sie mich als Tochter verliert«, sagt Sandra. »Sie war mit vielen Sachen emotional überfordert.«
Was Sandra über ihre Mutter erzählt, ist typisch für die Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung: Die Betroffenen sind häufig so überwältigt von den eigenen Emotionen, dass diese als Aggression nach außen treten. Sie haben große Angst davor, verlassen zu werden; Kleinigkeiten können zu heftigen Gefühlsausbrüchen führen. Deshalb sind Beziehungen zu anderen Menschen – auch Partnerschaften – oft nicht stabil. Lange hielt man Borderline für eine typisch weibliche Störung. Heute weiß man: Männer sind ähnlich oft betroffen wie Frauen – und damit nicht nur viele Mütter, sondern auch Väter. Zur Verbreitung der Störung gibt es unterschiedliche Schätzungen. Laut einer 2018 erschienenen Metaanalyse, die eine Vielzahl internationaler Studien zusammenfasst, erfüllen etwa 1,9 Prozent der Bevölkerung die Kriterien des Störungsbilds.
»Viele Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung denken in Extremen: Mal ist der Partner oder die Freundin der tollste Mensch auf der Welt, im nächsten Moment das schlimmste Monster. Von Bewunderung geht es manchmal direkt zu Hass«, sagt Charlotte Rosenbach. »Genauso schwankend nehmen sie auch sich selbst wahr. Das Selbstbild und zwischenmenschliche Beziehungen sind von hoher Instabilität gekennzeichnet, was auch das Selbstbild als Mutter und die Beziehung zum Kind betreffen kann. Den Kindern wiederum fehlt dann ein stabiles Gegenüber.«
Wenig Platz für die eigene Entwicklung
Ein weiteres Merkmal der Störung ist, dass Betroffene sich schnell zurückgewiesen fühlen, auch vom eigenen Kind. Auf normale Schritte der Entwicklung und der Abnabelung reagieren Mütter mit Borderline deshalb oft negativ. Auch wenn ein Kleinkind seinen eigenen Willen zeigt und sich vor der Quengeltheke im Supermarkt auf den Boden wirft, kann es sein, dass die Mutter das persönlich nimmt und nicht angemessen reagieren kann.
Menschen mit Borderline erleben außerdem häufig Zustände starker Anspannung. Um den quälenden Gefühlen zu entgehen, greift die Psyche zu einem Trick: der Dissoziation. Dabei erleben sich die Betroffenen als von ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken, Handeln und Fühlen getrennt. Betroffene erleben diesen Zustand als dumpf und traumartig, oft wirken sie dabei von außen wie weggetreten. Gerade auf kleine Kinder kann das beängstigend wirken.
Einige Kinder von Betroffenen leben wie Sandra zusätzlich mit der Angst, ihre Mutter könnte sich etwas antun. »Ich habe ihre Selbstmorddrohungen lange ernst genommen«, sagt sie. »In den letzten Jahren bin ich darauf aber nicht mehr eingegangen, auch wenn es mich innerlich immer noch beschäftigt. Ihre Androhungen sind nicht jedes Mal in einem Suizidversuch geendet. Manchmal hat sie sich aber selbst verletzt.« Selbstverletzendes Verhalten wie das von Sandras Mutter ist ein häufiges Symptom. Viele Betroffene nutzen es, um sich von emotionaler Anspannung zu befreien.
Kinder sollten erfahren, warum Mama sich so verhält
Was kann man tun, um Kindern, wie Sandra eines war, zu helfen? »Es ist zunächst wichtig, dass sie verstehen, was mit ihrer Mutter los ist«, sagt Charlotte Rosenbach. Wenn Bezugspersonen – Angehörige, Therapeutinnen oder pädagogische Fachkräfte – dem Kind erklären, dass es nicht seine Schuld ist, wie Mama sich verhält, kann das ein erster Schritt sein. Falls möglich, solle die Mutter selbst in einem ruhigen Moment mit dem Kind offen über die Erkrankung reden.
Doch wie spricht man altersgerecht über Borderline? Charlotte Rosenbach empfiehlt bei kleinen Kindern, zusammen Kinderbücher zum Thema zu lesen, zum Beispiel »Mama, Mia und das Schleuderprogramm«. Darin erfährt die kleine Mia, dass ihre Mutter innerlich durchgeschüttelt wird und deshalb oft traurig oder wütend ist. Man könne dem Problem auch einen kindgerechten Namen geben oder ein Codewort vereinbaren: »Damit können Mütter ihre emotionale Lage den Kindern gegenüber schnell transparent machen. Und die Kinder können leichter einschätzen, ob sie tatsächlich etwas falsch gemacht haben oder ob Mama wieder Besuch vom lila Monster hat.«
Als Sandra zwölf Jahre alt war, begannen sich die Psychiatrieaufenthalte ihrer Mutter zu häufen und es kam zu etwas, was Psychologen Parentifizierung nennen: Das Kind muss die Rolle eines Elternteils für die eigenen Eltern übernehmen. »In meiner Jugend war ich zwar nicht so sehr emotional für sie verantwortlich, aber ich musste viel im Haushalt tun oder mich um meinen kleinen Bruder kümmern«, erinnert sich Sandra. »Ich war häufig sehr wütend, dass es so gelaufen ist. Ich fand es unfair.« Und weiter: »Die Diagnose meiner Mutter zu kennen, hat mir sehr geholfen«, sagt sie. »Ich habe viel darüber gelesen und später, als ich selbst eine Therapie angefangen habe, konnte die Therapeutin meine Thematik schneller einordnen.« Sandra hat sich inzwischen intensiv mit der Biografie ihrer Mutter und auch mit sich selbst auseinandergesetzt: »Heute bin ich meiner Mutter emotional eine Stütze. Aber ich habe gelernt, ihr dabei Grenzen zu setzen.«
So musste Sandras Mutter irgendwann lernen, nicht zehnmal anzurufen, wenn ihre Tochter nicht umgehend auf einen Kontaktversuch reagiert. Anfangs habe sie dann gedroht, sich selbst zu verletzen. »Da musste ich wiederum lernen, stark zu bleiben«, sagt Sandra. Doch einfach war es nicht. Zwischenzeitlich brach sie den Kontakt zu ihrer Mutter ab. »Sie hat versucht, mich emotional zu erpressen. Es kam so vieles zusammen.« Einmal, bei einem ihrer Psychiatrieaufenthalte, sei ihre Mutter zum Beispiel nachts weggelaufen. »Die Klinik hat sich dann bei mir gemeldet, aber ich konnte dafür nicht mehr verantwortlich sein.«
Borderline ist behandelbar
Um betroffene Mütter und ihre Kinder zu unterstützen, hat Charlotte Rosenbach gemeinsam mit den Psychologinnen Sigrid Buck-Horstkotte und Babette Renneberg das Gruppentraining »Borderline und Mutter sein« entwickelt. Das Programm richtet sich explizit an Frauen, da diese deutlich häufiger allein für ihre Kinder sorgen als Väter. Frauen mit Borderline sind besonders oft allein erziehend. Zielgruppe sind betroffene Mütter mit Kindern vom Baby- bis zum Einschulungsalter. In zwölf Sitzungen à zwei Stunden lernen jeweils sechs Teilnehmerinnen wichtige Fertigkeiten, etwa kindliche Grundbedürfnisse zu verstehen und mit Konflikten umzugehen. »Die Mütter lernen zum Beispiel, was sie machen können, wenn die Anspannung zu groß wird und die Gefahr besteht, dass sie die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren. Was können sie tun, bevor sie ausrasten und sich oder dem Kind etwas antun?«, erklärt Rosenbach. Eine Methode sei, die Sinne abzulenken, zum Beispiel mit einem scharfen Bonbon oder einem Gummiband, das man gegen das Handgelenk schnipst. »Das ist wie ein kleiner Wecker. So bekommen die Betroffenen wieder etwas mehr Kontrolle.« Im nächsten Schritt lernen sie in Rosenbachs Programm, mit schwierigen Situationen im Alltag umzugehen. »Dazu gehört auch, das Verhalten des Kindes realistisch zu deuten, etwa wenn es auf dem Boden liegt und schreit. Meist machen Kinder das, weil sie hungrig oder müde sind oder ein anderes Bedürfnis haben.« Dabei werden Rollenspiele und Imaginationsübungen eingesetzt und die Frauen erproben das Gelernte im Alltag. Absolventinnen des Programms gaben an, dass sie Wut jetzt besser im Griff hätten und dass Routinen wie das Zähneputzen mit dem Kind nun besser klappten.
Leider haben manche betroffene Frauen Angst, sich Hilfe zu holen. Vor allem befürchten sie, dass ihnen ihr Kind weggenommen wird, wenn sie ihre Überforderung eingestehen. Doch gerade für das Wohl des Kindes muss die Erkrankung der Mutter adäquat behandelt werden. Und das lohnt sich, denn die Behandlung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Inzwischen gilt Borderline in vielen Fällen als therapierbar. Am wirksamsten ist eine speziell auf die Störung zugeschnittene Psychotherapie, wobei sich zwei Verfahren als besonders effektiv erwiesen haben: die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT) und die Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie (DBT). An Letztere ist auch das Mütterprogramm »Borderline und Mutter sein« angelehnt. Parallel zu einem solchen Programm ist immer auch eine Einzeltherapie sinnvoll. Laut der offiziellen S3-Leitlinie zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigt etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten bereits nach einem Jahr mit DBT oder MBT deutliche Fortschritte, bis hin zur Genesung. Ein Drittel erreicht dieses Stadium nach etwa zwei Jahren und ein weiteres Drittel der Betroffenen benötigt eine langfristigere therapeutische Begleitung, so das Gremium aus Experten. Erhalten Frauen mit Borderline aber keine passende Behandlung oder kommt die Unterstützung zu spät, kann es zur Misshandlung der Kinder kommen.
Besonders die Trotzphase und später die Pubertät bringen Mütter mit Borderline an ihre Grenzen. »Das sind die Phasen, in denen die Kinder selbst Schwierigkeiten damit haben, ihre Emotionen zu kontrollieren, und zugleich ein starkes Autonomiebestreben haben«, sagt Charlotte Rosenbach. »Da treffen zwei Personen mit heftigen Gefühlen und starken Bedürfnissen aufeinander. Das kracht auch ohne Borderline-Persönlichkeitsstörung – und mit der Störung eben besonders heftig.« So kommt es in betroffenen Familien während der Pubertät mitunter zum Abbrechen der Beziehung. Kinder von Eltern mit Borderline verlassen mitunter sehr früh das Elternhaus. Was wird aus ihnen?
»Es gibt viel Forschung zu den Auswirkungen auf die Kinder«, erklärt Rosenbach. »Ein wichtiger Befund ist, dass sie selbst Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation haben, da ihnen das Vorbild fehlt. Oft kommt es auch zu Angst vor der Schule, davor, verlassen zu werden oder sich zu binden. Auch kann es sein, dass sie nicht gut einschätzen können, wie viel Nähe oder Distanz in bestimmten sozialen Situationen angemessen ist.« Diese Defizite können wiederum dazu führen, dass sie psychische Auffälligkeiten entwickeln, etwa Ängste, Depressionen und selbstschädigendes Verhalten. Manchmal sogar Borderline.
Das verdeutlicht der Fall von Renate, die in Wirklichkeit anders heißt: »Erst hatte ich Angst, als ich hörte, dass meine Tochter Mutter wird«, erinnert sich die Rentnerin. Ihre Tochter hat als Jugendliche die Diagnose Borderline bekommen, nachdem sie immer wieder durch ihre Impulsivität und selbst zugefügte Wunden aufgefallen war. »Und ab und zu sehe ich gewisse Züge davon auch bei meinen Enkeln.« Wenn die Borderline-Persönlichkeitsstörung weitergegeben wird, dann womöglich auf verschiedenen Wegen. Bei ihrer Entstehung kommen mehrere Faktoren zusammen, etwa das Umfeld, in dem man groß wird, aber auch eine genetische Anfälligkeit (siehe »Versehrt oder vererbt«).
Versehrt oder vererbt
Kinder von Müttern oder Vätern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme. Sie laufen auch eher Gefahr, selbst Borderline zu entwickeln. Ein naheliegender Grund dafür ist, dass das unberechenbare Verhalten der Eltern seelische Spuren hinterlässt. So manches deutet allerdings darauf hin, dass die Störung zum Teil auch vererbt wird, denn sie tritt bei Mitgliedern derselben Familie gehäuft auf – selbst wenn sie gar nicht miteinander leben oder aufgewachsen sind. Ein Team um die Psychiaterin Charlotte Skoglund, heute an der Universität Uppsala, hat mit einer 2021 erschienenen Studie versucht, diesen genetischen Einfluss zu beziffern. Dazu analysierte es Daten aus schwedischen Nationalregistern von insgesamt 1,8 Millionen Menschen, die zwischen 1973 und 1993 geboren wurden. Etwa 11 600 davon hatten eine klinisch bestätigte Borderline-Diagnose. Die Forschenden wollten wissen, wie oft die Störung unter Angehörigen derselben Familie auftrat. Das Ergebnis: Je näher jemand mit einer betroffenen Person verwandt war, desto höher das Risiko, selbst zu erkranken. Eineiige Zwillinge von Menschen mit Borderline waren fast zwölfmal so häufig betroffen wie jene ohne einen eineiigen Zwilling mit der Störung. Normale Geschwister von Betroffenen hatten immerhin ein knapp fünfmal so hohes Erkrankungsrisiko wie Menschen ohne Brüder oder Schwestern mit Borderline. Bei Cousinen und Cousins von Betroffenen war das Risiko noch knapp verdoppelt.
Charlotte Skoglund und ihre Kollegen kamen zu dem Schluss, dass sich rund 46 Prozent des Risikos, an Borderline zu erkranken, durch genetische Faktoren erklären lässt. Der Rest liegt demnach an Umwelteinflüssen, etwa traumatischen Erfahrungen in der Kindheit: Früher Stress kann dazu führen, dass sich die Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, nicht richtig ausbilden kann – ein Kernmerkmal der Störung. Doch längst nicht jeder Mensch, der eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt, hat ein Trauma erlebt oder wurde von den Eltern schlecht behandelt. In manchen Fällen bleiben die Gründe unklar.
»Meine Tochter hat Borderline, seit sie 12 ist, jetzt ist sie 43«, so Renate. »Sie hat in dieser Zeit so toll an sich gearbeitet.« Ihre Tochter Jutta, deren echter Name ebenfalls anders lautet, sagt: »Ich weiß, dass ich mich und andere kaputtgemacht hätte, hätte ich nichts geändert.« Jutta hat eine Therapie gemacht und später Psychologie studiert. »Das alles hat mir geholfen, meine Art zu denken und zu fühlen zu verändern.«
Mittlerweile leben Jutta und ihre beiden eigenen Kinder mit Renate unter einem Dach. »Der Weg zu einem harmonischen Miteinander war jedoch keineswegs einfach«, erinnert diese sich. »Aber vor etwa drei Jahren saßen wir zusammen im Garten und fanden es schön, wie wir uns nicht zanken und uns ganz normal unterhalten können. Und wir dachten: Das müssen wir weitergeben.« Kurz darauf gründeten die beiden einen Selbsthilfeverein. Damit wollen sie die Kommunikation zwischen Borderline-Betroffenen und ihren Angehörigen stärken. Das Schwerste, aber auch das Wichtigste sei gegenseitiges Verständnis.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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