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Thonis-Herakleion: Die Metropole, die im Meer versank

Vor 30 Jahren begann der Unterwasserarchäologe Franck Goddio, antike Stätten am Grund der Bucht von Abukir zu erkunden. Dabei entdeckte er eine versunkene Stadt, deren Existenz bis dahin nur aus alten Schriften bekannt war: die einst florierende Hafenmetropole Thonis-Herakleion.
Fundpräsentation

Die Stadt lag am westlichen Ende der weit verzweigten Mündung des Nils ins Mittelmeer, am so genannten Kanopischen Arm. Sie war in einem engmaschigen Netzwerk aus Kanälen im Marschland des Deltas errichtet worden. Entlang der Kanäle befanden sich in zahlreichen Becken Handelsschiffe aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum. Die Güter, die sie aus der griechischen Welt, von Zypern oder aus Phönizien brachten, wurden hier verzollt und über einen Kanal nach Kanopus verfrachtet, dem Nachbarort im Westen, oder nilaufwärts ins Landesinnere verschifft.

Im Süden der geschäftigen Hafenstadt ragten – ebenfalls auf einer Nilinsel – die massiven Mauern des Tempels von Amun-Gereb empor. Amun war eine der höchsten Gottheiten des ägyptischen Pantheons. Am Eingang dieses zentralen Heiligtums, von dem aus alljährlich eine Bootsprozession zu Ehren des Gottes Osiris ins benachbarte Kanopus führte, standen kolossale, bis zu sechs Meter hohe Statuen von Pharaonen und Gottheiten aus Rosengranit.

Nach Norden hin und im Osten der Stadt erstreckten sich die einzelnen Bassins des ausgedehnten Hafens. Auf die Becken steuerten vor 2500 Jahren regelmäßig die mit Holz, Edelmetallen, Wein, Öl und anderen Gütern beladenen Schiffe der Händler aus der Fremde zu – oder genauer: Die Schiffsführer waren angehalten, ausschließlich diesen Hafen anzufahren, so verlangte es das ägyptische Gesetz. »Fuhr ein Schiff in eine andere Nilmündung ein, so musste man schwören, dass dies nur aus Not geschehen sei«, notierte der Historiker Herodot von Halikarnassos, der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. selbst das Land am Nil besucht hatte. »Dann musste das Schiff zurück und die Kanopische Nilmündung zu erreichen suchen.«

Die Ägypter nannten diese Stadt, die ihnen Zugang zum »Meer der Griechen« bot, Thonis; bei den Hellenen, für die sie mehr als drei Jahrhunderte das Tor nach Ägypten war, hieß sie Herakleion. Ihnen galt der Tempel des Amunsohns Chons als ein Heiligtum des Herakles. An dessen Stelle soll der Halbgott der Sage nach erstmals ägyptischen Boden betreten haben. Ab dem Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. profitierte der Ort von seinem Status als Torwächter Ägyptens und entwickelte sich sehr bald zu einem geschäftigen »Emporion«, einem Markt- und Handelsplatz für den Fernhandel. Erst die Gründung Alexandrias durch den namensgebenden makedonischen Eroberer 331 v. Chr. beraubte das florierende Zentrum an der Nilmündung seiner wirtschaftlichen Bedeutung.

Antike Waren aus dem gesamten Mittelmeerraum

Davon, wie betriebsam die Hafenstadt einst war, künden die dutzenden Schiffswracks und mehr als 800 Anker, welche die Forscherinnen und Forscher vom Institut Européen d’Archéologie Sous-Marine (IEASM, Europäisches Institut für Unterwasserarchäologie) unter der Leitung von Franck Goddio vor der ägyptischen Küste bislang gefunden haben. »Hier herrschte immenser Schiffsverkehr«, sagt Goddio. Die Ladung der Wracks verrät heute noch ihre Herkunft. »Wir fanden Keramik aus der gesamten griechischen Welt, von Sizilien bis Kleinasien, Silber aus Attika, Amphoren mit Wein, Oliven und Trauben.« Die meisten der Schiffe stammten aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., als Thonis noch ein so reger wie reicher Handelshafen war.

Stele | Die Unterwasserarchäologen bargen die mit Hieroglyphen beschriftete Steinplatte vom Meeresgrund. Der Text lieferte den Namen der versunkenen Stadt: Thonis. Pharao Nektanebos I. hatte die fast zwei Meter hohe Stele um 380 v. Chr. aufstellen lassen.

Zu jener Zeit ließen sich einige griechische Händler und Söldner dauerhaft nieder. Ihre Häuser, die wie jene der Einheimischen aus ungebrannten Lehmziegeln erbaut waren, haben sich längst im Mittelmeer aufgelöst. Doch zahlreiche griechische Münzen, Keramik, Statuetten und auch Waffen, welche die Archäologen im Lauf der letzten Jahre gefunden haben, künden von der hellenischen Präsenz in der ägyptischen Stadt. 2019 schließlich entdeckten die Forscher einen weiteren, noch eindeutigeren Hinweis auf die zugewanderten Bewohner. Nahe dem Amun-Heiligtum fanden sie die Überreste eines typischen griechischen Rundtempels, der wie das imposantere ägyptische Nachbargebäude im 4. Jahrhundert v. Chr. errichtet worden war.

Vor genau 30 Jahren, im Sommer 1992, begannen der französische Unterwasserarchäologe Franck Goddio und sein Team in enger Absprache mit der ägyptischen Altertümerverwaltung ein groß angelegtes Forschungsprojekt in der Bucht von Abukir. Es dauert bis heute an und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen. Aus antiken ägyptischen und griechischen Quellen waren zwar die Namen der Städte bekannt, die einst am Kanopischen Nilarm lagen, die Orte selbst aber waren ebenso im Mittelmeer verschwunden wie Teile Alexandrias.

Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., so Goddio, erschütterte ein Erdbeben die Region. Die dabei entstandene Flutwelle begrub unter anderem den Portus Magnus von Alexandria. Auch der große Tempel von Thonis sowie Teile von Kanopus fielen der Katastrophe zum Opfer. Das war auch der Lage in der Nilmündung geschuldet: Der Boden hatte sich bereits über Jahrhunderte aufgeweicht und sackte daher leicht ab. Riesige Granitblöcke aus der Mauer des Amun-Gereb-Tempels stürzten damals herab und schlitterten gemeinsam mit den Kolossalstatuen in den nächstgelegenen Kanal, wo sie zahlreiche Schiffe unter sich begruben.

Das Wrack einer mehr als 25 Meter langen Galeere

Auch während der letzten Grabungssaison im Sommer 2021 stießen die Unterwasserarchäologen dank des Prototyps eines neuartigen Sediment-Echolots wieder auf ein unter dem Meeresboden liegendes Wrack – das 76. bislang. Dabei handelt es sich um eine ptolemäische Galeere, die bei dem gewaltigen Erdbeben von Gesteinsbrocken aus der Tempelmauer versenkt worden war. Boden und Kiel waren flach, was für die Schifffahrt auf dem Nil und im Delta von Vorteil war.

»Die Galeere muss an einem Steg vertäut gewesen sein, der an der Südfassade des Tempels entlangführte«, meint Goddio. Überreste des mehr als 25 Meter langen Schiffs wurden über Jahrtausende unter den Trümmern des Tempels und samt diesen, bedeckt von einer fünf Meter dicken, harten Lehmschicht, konserviert – und das bleiben sie auch weiterhin. Denn den allergrößten Teil ihrer Entdeckungen belassen die Archäologen am jeweiligen Fundort unter Wasser, da sie an der Luft sofort zu zerfallen drohen. Unter der dichten Sedimentschicht jedoch bleiben die Artefakte für künftige Generationen von Forschenden bewahrt und erreichbar. Sie werden untersucht, registriert und in die Grabungskarte von Thonis-Herakleion eingetragen. Es ist kein besonders glamouröser Job, dem sich Goddio nun schon seit über einem Vierteljahrhundert mit wissenschaftlicher Akribie hingibt.

Vom Manager zum Unterwasserarchäologen

Dabei galt der Franzose am Anfang seiner Karriere in der Unterwasserarchäologie vielen akademischen Kollegen als Schatzjäger und Showman ohne jede Ahnung von den wissenschaftlichen Standards ihrer Disziplin. Als er die Arbeit in der Bucht von Abukir aufnahm, hatte er jedoch bereits mit der Entdeckung und Bergung mehrerer Schiffswracks Aufsehen erregt, darunter einige mit kostbarem Porzellan beladene chinesische Dschunken aus dem 16. Jahrhundert sowie Schiffe der englischen Ostindienkompanie. Auch vor der ägyptischen Küste hatte Goddio zunächst nach den Resten der 1798 von den Briten unter Admiral Nelson versenkten französischen Mittelmeerflotte gesucht, die zuvor Napoleons Expeditionsheer nach Ägypten gebracht hatte.

Doch dann stießen die Forscher etwa 6,5 Kilometer vor der ägyptischen Küste auf die Stadt am Meeresgrund. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert, 1996, begannen die Unterwasserarchäologen mit der Kartierung des Geländes. Schon fünf Jahre darauf konnte Goddio stolz verkünden, sein Team und er hätten zweifelsfrei die bei weiteren Beben endgültig im Meer versunkene Stadt Thonis entdeckt. Zudem gelang es den Forschenden anhand von Inschriften aus verschiedenen Epochen nachzuweisen, dass Thonis mit dem ebenfalls aus antiken Quellen bekannten Herakleion am Kanopischen Arm identisch war. »Es ist immer noch ein in Erfüllung gegangener Traum für mich, diese versunkene Stadt erforschen und ihre Geheimnisse lüften zu dürfen«, sagt Goddio, der dieses Jahr seinen 75. Geburtstag feiert, aber mindestens zehn Jahre jünger wirkt und dessen ursprüngliche Lebensplanung in eine gänzlich andere Richtung wies.

»Ich müsste noch mindestens 300 Jahre hier tauchen, um diese Stadt komplett zu erkunden«Franck Goddio, Unterwasserarchäologe, Institut Européen d'Archéologie Sous-Marine

Der 1947 in Casablanca geborene Franzose studierte Statistik und Mathematik an der École nationale de la statistique et de l'administration économique, einer jener unter dem Sammelbegriff der Grandes Écoles zusammengefassten Kaderschmieden, in denen Frankreichs Nachwuchs für Chefposten in Politik, Wirtschaft, Militär und Kultur ausgebildet wird. »Man musste extrem hart arbeiten, dafür stand einem nach dem Abschluss die Welt offen«, sagt Goddio, den es nach dem Studium tatsächlich in die Welt zog. Als wirtschaftlicher Berater arbeitete er bis Mitte der 1980er Jahre für die Vereinten Nationen sowie diverse Regierungen im Nahen und Fernen Osten. Zuletzt managte er für den Entwicklungsfonds Saudi-Arabiens Infrastrukturprojekte. In jener Zeit war Goddio ständig auf Achse, verbrachte fünf Jahre lang kaum eine Woche am Stück in einem Land. Mit 33 Jahren nahm sich Goddio jedoch eine Auszeit und orientierte sich neu. Er habe Abwechslung gebraucht, sagt er heute. »Und ich wollte wissen, was ich wirklich will.«

Er entschied sich, in die Archäologie einzusteigen, die ihn schon als Kind begeistert hatte. Goddio, der Manager, ging die Sache allerdings systematisch an, er evaluierte quasi den Markt der Altertumswissenschaften und fand eine Nische für sich und seine Pläne. »Ich wusste, es gibt Tausende von exzellenten Archäologen, doch nur ganz wenige arbeiten unter Wasser.« Er gründete sein Institut und machte sich an die Arbeit. Von Anfang an bemühte er sich erfolgreich, Sponsoren und Experten für seine Projekte zu begeistern. Die gemeinnützige Hilti Foundation etwa unterstützt Goddios Tauchgänge seit Langem. Er präsentiert seine spektakulärsten Entdeckungen weltweit in Ausstellungen, Filmen und Bildbänden.

Die Skepsis der ersten Jahre war schnell verblasst. Inzwischen ist Goddio selbst längst Teil der akademischen Welt geworden. Vor fast 20 Jahren war er an der Gründung des Oxford Centre for Maritime Archaeology an der University of Oxford beteiligt, an dem er bis heute als Gastdozent tätig ist.

Der Niedergang der Küstenmetropole

In Thonis-Herakleion wurde der einstige Manager endgültig zum Altertumsforscher. »Wir kennen heute vielleicht fünf bis zehn Prozent dieser Stadt, die ein wirtschaftliches und religiöses Zentrum des alten Ägypten war«, sagt er. Auch nach 25 Jahren gäbe es noch viel zu entdecken. Schließlich, so Goddio, sei Pompeji bereits im 18. Jahrhundert entdeckt worden und bis heute nicht zur Gänze archäologisch erforscht. »Allein Thonis-Herakleion ist aber doppelt so groß wie Pompeji«, sagt er. »Ich müsste also noch mindestens 300 Jahre hier tauchen, um diese Stadt komplett zu erkunden.«

Auch nachdem Alexandria den älteren Städten am Nildelta den Rang als pulsierende Küstenmetropole abgelaufen hatte, selbst noch nach der Katastrophe im 2. Jahrhundert v. Chr., die Teile der Orte verschlang, blieben Kanopus mit seinem Serapisheiligtum sowie Herakleion mit den Tempeln für Amun und Herakles religiöse und gesellschaftliche Zentren der Region. Die nach dem Tod Alexanders in Ägypten herrschenden Ptolemäer führten ihr Geschlecht väterlicherseits auf Herakles zurück, mütterlicherseits auf Zeus, dem in Ägypten Amun entsprach. Eine Stadt, in der ein schon damals als uralt geltendes Heiligtum für gleich beide Gottheiten stand, hatte für sie somit dynastische Bedeutung und konnte auf ihr Wohlwollen zählen.

Sphinx und Entdecker | Grabungsleiter Franck Goddio begutachtet eine Sphinx, die er zusammen mit seinem Team vom Grund der Bucht von Abukir heraufholte.

So fanden die Archäologen eine Stele aus der Zeit Ptolemaios' VIII. (um 180–116 v. Chr.). Darauf bekräftigte der Pharao wenige Jahre nach dem verheerenden Erdbeben das Recht der Priesterschaft, in Thonis zusammenzukommen, und bestätigte das Asylrecht des dortigen Tempels. Bereits Jahrhunderte zuvor hatte auch Herodot den Heraklestempel am Kanopischen Nilarm erwähnt. Dieser sei schon seit den Zeiten vor dem Trojanischen Krieg »ein Asyl für alle Sklaven, die ihren Herrn entkommen sind und sich durch Anlegen der heiligen Zeichen dem Gotte weihten«.

Zur Römerzeit war der Untergang von Thonis bereits weit fortgeschritten, große Teile der Stadt waren im Meer versunken; Kanopus aber hatte sich zum Ausflugsziel für Großstädter aus der rund 30 Kilometer entfernten Metropole Alexandria entwickelt. »Die einen vergnügen sich auf Schiffen und geben sich – Männer und Frauen gemischt – hemmungslos der Flötenmusik hin, während die anderen in Kanopus in der Nähe des Kanals Gasthäuser betreiben, die der Lust und dem Vergnügen dienen«, schilderte der Historiker Strabon (um 63 v. Chr.–23 n. Chr.) die kanopischen Nächte mit leisem moralischem Schauder und schloss nüchtern: »Hinter Kanopus liegt Herakleion mit seinem Heraklestempel.« In christlicher Zeit verfiel auch Kanopus zusehends, die alten Tempel dienten als Steinbruch – und die Bodenverflüssigung schritt unbeobachtet voran. Am Ende des 8. Jahrhunderts verschwand der Küstenabschnitt schließlich auf Grund eines weiteren Bebens komplett im Mittelmeer.

Über Jahrhunderte war Thonis-Herakleion verschollen in der Bucht von Abukir. Dann kam Franck Goddio und tut dies seither Jahr für Jahr pünktlich zu Beginn der Grabungssaison wieder. Im Sommer 2021 fanden die Unterwasserarchäologen außer der ptolemäischen Galeere in einem anderen Teil der Stadt Überreste einer griechischen Begräbnisstätte mit kostbaren Beigaben und damit einen erneuten Hinweis auf die hellenischen Bewohner der Stadt.

Während der diesjährigen Saison planen die Forscherinnen und Forscher, sich mit geophysikalischen Untersuchungen einen präziseren Überblick über das gesamte Areal zu verschaffen sowie einen etwas kleineren Grabhügel zu erforschen, der ihnen 2021 aufgefallen war. »Außerdem wollen wir ein weiteres Wrack genauer untersuchen, das wir in einem anderen Kanal der Stadt entdeckt haben«, fügt Goddio hinzu. Es gibt eben noch Arbeit für Jahrhunderte.

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