Direkt zum Inhalt

Klimawandel: Tintenfisch statt Sprotten

Weniger Räuber, mehr Wärme: Die Veränderungen des Meeres finden Tintenfische prima. Egal, ob frei schwimmend oder auf dem Grund lebend – die Vielarmigen vermehren sich.
Die Zahl der Tintenfische hat weltweit in den vergangenen sechs Jahrzehnten zugenommen.

Tintenfischen geht es ziemlich prächtig. Was anderen Meereslebewesen zusetzt – steigende Wassertemperaturen, intensive Fischerei, umfassende Vermüllung –, macht ihnen bislang kaum etwas aus. Im Gegenteil: Obwohl der Mensch mit seinem Verhalten massiv die Umwelt beeinflusst, gibt es seit 60 Jahren immer mehr Kopffüßer in den Weltmeeren. Wohl besser gesagt gerade deswegen.

Der Mensch wirkt kräftig mit an der Erwärmung der Ozeane und der Ausbeutung der Meere. In der Folge schwinden die Bestände zahlreicher Meereswesen. Tunfisch, Kabeljau und Schwertfisch beispielsweise haben große Verluste zu beklagen. Ebenso Seeteufel, Sprotten und Kaiserbarsche, um nur einige weitere zu nennen, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation stehen. Doch weil die Räuber aus den Meeren herausgefischt sind, kann ihre Beute gedeihen. Die höheren Wassertemperaturen in vielen Meeren sorgen zudem dafür, dass sich der Lebensraum für Wärme liebende Wesen vergrößert.

Zahlreichen Tintenfischen kommt das zugute. Das gilt für zehnarmige Vertreter der Coleoidea wie Kalmare und Sepien sowie für Kraken und andere Achtarmige. Aktuelles Beispiel: Kalmar Illex coindetii, der sich im warmen Ostatlantik vor Afrika und Spanien vermehrt. Zwar hat man ihn hin und wieder im Ärmelkanal und sogar in der Nordsee angetroffen, quasi auf Schlemmerreise. Doch laut einer aktuellen Studie im Magazin »Fisheries Research« scheint er mittlerweile in der Nordsee heimisch geworden zu sein.

Von 2007 bis 2010 tauchte Illex coindetii regelmäßig in kleiner Zahl auf. Seitdem wurden es immer mehr. Und im Sommer 2016 konnten Meeresbiologen erstmals befruchtete Weibchen in der zentralen und südlichen Nordsee beobachten. Etliche, nicht nur ein paar.

Egal ob bodenlebend oder schwimmend: Tintenfische verbreiten sich

»Die Intensität der individuellen Migrationen aus den angrenzenden Gewässern in die Nordsee ist unbekannt, so dass die Zahl der Individuen, die sich dauerhaft in der Nordsee aufhalten, nicht abgeschätzt werden konnte«, schreiben die Autoren. Ziemlich sicher sei aber: Die Charaktertiere mit ihren sackförmigen Körpern, großen Augen und zahlreichen langen Armen laichen in der Nordsee und pflanzen sich dort fort. Sie vermehren sich. Und damit ist diese Tintenfischart nicht allein.

Seit Jahrzehnten verfolgen Forscher, wie die Zahl der Kopffüßer in ihren jeweils angestammten Gebieten zunimmt und sich ihre Lebensräume vergrößern. Letzteres trifft nicht nur auf jene zu, die ihr gesamtes Leben frei schwimmend verbringen; pelagische Arten genannt. Auch die benthischen Arten, die ihr gesamtes Leben von Ei bis Tod auf dem, oder im Meeresboden verbringen, und ebenso Tintenfische, die sich als Eier und Erwachsene auf dem oder im Meeresboden tummeln, sich als Paralarven aber in der freien Wassersäule aufhalten. Die benthopelagischen Arten also.

Was ist ihr Geheimnis? Offensichtlich sind die drei Gruppen ganz unterschiedlich gut darin, zu wandern, um eine neue Heimat zu finden. Benthische Arten verbreiten sich bloß über wenige Kilometer. Die benthopelagischen Arten können sich immerhin als Paralarven über Hunderte von Kilometern entlang des Schelfs verbreiten. Doch nur die pelagischen Arten bewohnen die offenen Meere und sind theoretisch in der Lage, Tausende von Kilometern zu wandern. Umso erstaunlicher, dass sich die Gebiete aller drei Gruppen vergrößern.

Auch Extremwetterereignisse beeinflussen Bestände

Was allen zugutekommt: Tintenfische wachsen schnell und leben kurz, was es ihnen erlaubt, sich binnen vergleichsweise kurzer Zeit an eine veränderte Umwelt anzupassen.

Eine Erwärmung des Wassers beschleunigt den Lebenszyklus der Tintenfische. Zumindest solange es nicht zu warm wird und der thermische Wohlfühlbereich der Tiere überschritten ist. Sie entwickeln sich schneller und werden früher geschlechtsreif, wenn nebst Wassertemperatur das Nahrungsangebot stimmt, wie Studien zeigen. In wärmerem Wasser können viele Tintenfischarten also früher Nachwuchs bekommen, die Generationen sind kürzer. Langfristig könnte das allerdings ihrer Überlebensfähigkeit schaden.

Zusätzlich dürften die Tiere von der Überfischung vieler Raubfische profitieren. Je mehr von ihnen im Netz landen, desto weniger Fressfeinde und Futterkonkurrenten gibt es im Meer. Theoretisch kann auch das die Vermehrung von Tintenfischen begünstigen. Und tatsächlich deuten einige lokale Studien darauf hin. Eine Untersuchung vor Elephant Island – Teil der Südlichen Shetlandinseln knapp 250 Kilometer vor der antarktischen Halbinsel gelegen – hat beispielsweise gezeigt, dass es mehr Cephalopoden gibt, wo sich die ansässigen Fischpopulationen verkleinert haben oder verschwunden sind.

Solange allerdings keine schlüssigen Beweise von Ursache und Wirkung vorliegen, gilt es, keine voreiligen Rückschlüsse zu ziehen. Denn viele Umweltfaktoren könnten ebenso einen Vorteil für Cephalopoden gegenüber länger lebenden, langsamer wachsenden Meeresbewohnern liefern. Dazu gehören beispielsweise veränderte Strömungssysteme und Klimazyklen, häufigere Extremwetterereignisse und Überdüngung.

Illex coindetii, ein gefräßiger Räuber

Mehr Tintenfische – das klingt zunächst gut. Doch die ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen sind längst nicht klar und sicherlich komplex.

So sind Tintenfische einerseits gefräßige und anpassungsfähige Zeitgenossen. Der sich in der Nordsee ausbreitende Illex coindetii ist ein opportunistischer Räuber, der andere Cephalopoden, Fische und Krebstiere frisst. Auf seinem Speiseplan stehen viele Arten, die auch Menschen gern auf ihren Tellern sehen; die Sprotte (Sprattus sprattus) beispielsweise und einige kleine Dorscharten der Gattung Trisopterus sowie die in Nordeuropa gern verspeiste Zwergsepia Sepiola atlantica. Andererseits könnte das Mehr an Tintenfischen ein Vorteil für Raubfische sein. Denn viele Raubfische lassen sich nur allzu gerne Tintenfisch schmecken.

Was wird also eintreffen? Weniger Fisch wegen Tintenfisch oder mehr Fisch wegen Tintenfisch? Die Dynamik lässt sich leider extrem schlecht vorhersagen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.