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Verhaltensforschung: Tödliche Enge

Im Primatenleben geht es nicht selten gefährlich zu: Prügel, Vergewaltigung, Kindsmord sind nichts Besonderes im Alltag einer Schimpansensippe. Bislang galten hier vor allem die Männchen als die Gewalttäter. Doch die gängigen Täter-Opfer-Kategorien müssen wohl aufgelöst werden. Denn auch Weibchen entwickeln mitunter mörderische Triebe.
Schimpansenmutter mit Jungem
Im Jahr 1976 berichtete die Schimpansenforscherin Jane Goodall ihrer Familie in einem Brief von einem "brutalen Mord", der sich im tansanischen Gombe ereignet hatte: Eine Schimpansin und deren Tochter hatten ein anderes Affenweibchen attackiert, sie geschlagen und ihr dann ihren erst drei Wochen alten Säugling entrissen. Mit einem gezielten Biss in den Schädel töteten die Weibchen das Jungtier und fraßen es dann teilweise auf. Drei Mal wurde das Duo Fatale zwischen 1975 und 1976 bei solch kannibalistischem Tun beobachtet, in drei weiteren Fällen gelang ihnen ihr Angriff nicht – auch weil Goodall selbst sie mit Stöcken und Steinen bewarf und so von dem Kindsmord abhielt. Erst als beide Tiere selbst wieder schwanger waren, beendeten sie ihr mörderisches Treiben.

Gewalt ist bei Schimpansen nicht ungewöhnlich

Schimpanse | Gewalt ist bei Schimpansen nichts Ungewöhnliches. Obwohl die Tiere kooperativ sind und ihnen auch ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden nachgesagt wird, gehören Schläge, Vergewaltigungen und auch Morde zum Alltag.
Die Verhaltensforscherin Goodall war über das Duo mehr als schockiert. Gewalt bei Schimpansen ist zwar nichts Ungewöhnliches, doch sie geht zumeist von den Männchen aus. Ranghohe Männchen schlagen und vergewaltigen die Weibchen der eigenen Sippe, um sie an sich zu binden, und Schimpansen aus rivalisierenden Gruppen führen regelrechte Kriege gegeneinander. Auch vor Kindstötungen machen die Männchen nicht halt, wenn eine solche Tat ihre Stellung absichert oder ihnen Vorteile verschafft.

Schimpansenweibchen jedoch gelten gemeinhin als weniger gewaltbereit. Bis auf das mordende Mutter-Tochter-Gespann war kein einziger Fall bekannt, in dem die Aggression gegen ein Jungtier von einem Weibchen ausgegangen wäre. Goodall konnte sich das Verhalten darum nicht erklären. Lange Zeit galten die kannibalistischen Attacken der beiden Schimpansinnen Primatenforschern als krankhafte Verirrung zweier Einzeltiere.

Schimpansenmutter mit Jungem | Ihren Nachwuchs versuchen Schimpansen unter allen Umständen zu beschützen. Wenn aber der Feind aus der eigenen Sippe in der Übermacht ist, hat ein einzelnes Tier keine Chance.
Bis zum dritten Februar des vergangenen Jahres. Simon Townsend und Katie Slocombe von der Stanford-Universität waren gerade auf ihrem Beobachtungsposten in den Tiefen des Budongo-Waldes in Uganda, als sie schrille Schreie hörten. Sie stammten von einer Schimpansin, die von sechs Weibchen der hier ansässigen Sonso-Schimpansen-Sippe angegriffen wurde. Die Tiere schlugen und traten ihr Opfer, das sich schützend über sein erst vor wenigen Tagen geborenes Junges kauerte. Andere Primaten kamen hinzu und beobachteten die Szene, schreiend und mit Stöcken trommelnd. Vergeblich versuchte ein altes Schimpansen-Männchen mehrmals, die Kontrahentinnen zu trennen. Nach etwa zehn Minuten zerrte das Alpha-Weibchen Nambi das Junge aus den Armen seiner Mutter.

Doch dann wurde auch Nambi attackiert – ein anderes Weibchen wollte das Baby haben. Nach einem kurzen Kampf gewann schließlich Weibchen Zimba die Oberhand: Sie biss in den Kopf des Säuglings, er war sofort tot. Eines der beistehenden Männchen schlug der Mörderin daraufhin hart ins Gesicht, ein anderes jagte sie davon. Den toten Säugling fanden die Forscher wenig später im Gebüsch [1].

Vier Monate später hörten die Forscher wieder Schreie. Als sie ankamen, entdeckten sie eine verletzte Schimpansin, die vor kurzem ein Junges entbunden hatte. Entlang einer Blutspur fanden sie schließlich das, was von ihrem Nachwuchs noch übrig war: einen Teil einer kleinen Hand, ein Stück des Kiefers.

Obwohl Slocombe und ihr Team hier nicht hatten beobachten können, was passiert war, konnten die Wissenschaftler schnell ausschließen, dass der Säugling fremden Schimpansen-Sippen oder einem Männchen zum Opfer gefallen war: Die betreffenden Tiere waren über 800 Meter entfernt. Auch hier muss also ein Weibchen zugebissen haben – so wie vermutlich auch 2004, als die Forscher Nambi und Zimba mit einem toten Säugling entdeckten. Die verletzte Mutter kauerte damals in geringer Entfernung, während die beiden Schimpansinnen eine Stunde lang den Leichnam begutachteten und diesen hin und her reichten.

Schimpansenweibchen, so viel steht fest, sind also alles andere als immer friedfertig – auch sie können massiv Gewalt anwenden. Doch aus welchem Grund? Anders als bei den Männchen tragen Schimpansinnen kaum Kämpfe um eine Rangfolge aus. Jedes Tier besetzt ein bestimmtes Territorium, auf dem es nach Futter sucht und seinen Partner wählt. Konflikte gibt es hier nur selten.

Tödliche Territorialkonflikte?

Schimpansen | Bei den Sonso-Schimpansen wird es wegen zahlreicher Immigrantinnen langsam eng. Seit 2001 hat sich die Gruppengröße der Sippe beinahe verdoppelt. Da werden die Konflikte um Nahrungsressourcen aggressiver.
Doch seit einigen Jahren wird es in der Sonso-Sippe zunehmend eng: Seit 2001 sind insgesamt 13 fremde Weibchen in die Gruppe immigriert. Teilweise brachten sie eigenen Nachwuchs mit. Auf ein Männchen kommen inzwischen drei Weibchen. Die Sippengröße hat sich seit 1996 von 42 auf 75 Tiere nahezu verdoppelt. Gleichzeitig schaffen es die wenigen Männchen nicht, das Territorium auszuweiten. Für die Weibchen bedeutet das eine ungewohnt starke Konkurrenz, sowohl um Nahrung als auch um Sexualpartner. Jedes neue Jungtier ist für sie eine Gefahr – insbesondere wenn es von einer Immigrantin stammt. Zwei der drei beobachteten Kindstötungen betrafen denn auch zugezogene Tiere.

So selten Kindstötungen durch Schimpansen-Weibchen bislang auch beobachtet wurden – viele Verhaltensweisen sprechen dafür, dass sich Primatenmütter der Gefahr um ihren Nachwuchs durchaus bewusst sind und gezielt versuchen, unnötigen Gefahren aus dem Weg zu gehen. So entdeckten etwa japanische Forscher in den neunziger Jahren, dass schwangere Schimpansinnen kurz vor der Niederkunft die Gruppe verlassen. Kehren sie dann zurück, verbringen sie auffallend viel Zeit in der Gesellschaft von Männchen – vielleicht, so vermutet der Anthropologe Martin Muller von der Boston-Universität, um zu vermeiden, mit mehreren Konkurrentinnen alleine zu sein [2].

Sicher ist jedoch eines: Der Mythos des Gegensatzes von friedlichen und kooperativen Weibchen auf der einen und aggressiven und gewalttätigen Männchen auf der anderen Seite kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Was das Morden angeht, gibt es bei Schimpansen nicht die früher angenommene geschlechtliche Präferenz.

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