Topologische Quanten-Materialien: Wie Topologie die Welt der Physik revolutioniert

Im Oktober 2016 sah sich Thors Hans Hansson mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert. Er musste der Weltöffentlichkeit den Physik-Nobelpreis erklären. Es ging dabei um das wenig dankbare Thema der Topologie, ein abstraktes mathematisches Gebiet, von dem zu diesem Zeitpunkt selbst mancher Naturwissenschaftler wenig gehört hatte. So kam es, dass Hansson vor den laufenden Fernsehkameras eine Papiertüte zückte und nacheinander eine Brezel, einen Bagel und ein Zimtbrötchen auspackte.
Topologen, sagte er, würden das Gebäck nicht durch ihren Geschmack, sondern gemäß der Anzahl ihrer Löcher unterscheiden. Ein Zimtbrötchen ist also nicht nur süßer als eine Brezel, es hat vor allem zwei Löcher weniger. Aus Sicht eines Mathematikers hätte Hansson statt des Zimtbrötchens also auch ein Vollkornbrot in die Tüte packen können – topologisch gesehen sind beide Körper identisch. Vor dem Backen hätten sich ihre Teigmassen ineinander verformen lassen, ohne dass sie dabei zerreißen. Und darauf kommt es in der Topologie an.
Für viele Beobachter war Hanssons Auftritt auch überraschend, weil abstrakte mathematische Themen es eher selten ins Rampenlicht schaffen. Aber das Nobelkomitee trug damit einer Entwicklung Rechnung, die unter Experten längst hohe Wellen schlug: dem Siegeszug der Topologie beim Verständnis der Phänomene in Festkörpern.
In der Festkörperphysik suchen Wissenschaftler weder nach neuen Bausteinen der Materie noch nach exotischen Grundkräften. Vielmehr arbeiten sie mit gewöhnlichen Atomen und Elektronen, die bereits seit Jahrhunderten bekannt sind, allerdings auch heute noch Forscher vor ungelöste Fragen stellen. So etwa jene, wie diese Bausteine im Inneren verschiedener Materialien interagieren, von Metallen über Magnete bis hin zu Supraleitern. Und tatsächlich haben Physiker dazu in den vergangenen 30 Jahren enorm viel herausgefunden.
Das verdeutlichen nicht zuletzt die Arbeiten von David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz, die 2016 den Nobelpreis für Physik erhielten. Sie trugen maßgeblich zur Entdeckung einer völlig neuen Stoffklasse bei, der »topologischen« Materialien. Wie die drei Physiker zeigten, lassen sich die Elektronen in diesen speziellen Kristallen elegant mit dem Handwerkszeug der Topologie beschreiben.
Inzwischen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen zu dem Thema geradezu. Und das, obwohl selbst Experten die exotischen Stoffe noch in den 1990er und 2000er Jahren kaum wahrnahmen. Heute sind sich Physiker jedoch sicher: Mit den topologischen Materialien hat man eine neue Klasse von Festkörpern entdeckt, die gleichberechtigt neben den gewöhnlichen Isolatoren und den elektrischen Leitern steht. Nun träumen Wissenschaftler von neuen Technologien, die auf topologischen Konzepten basieren, wie verbesserten Quantencomputern oder futuristischen Spin-Netzwerken.
Überraschung aus dem Labor
Der Startschuss dieser Materialrevolution fiel in einer Februarnacht des Jahres 1980, auch wenn das die Forscher damals noch nicht ahnten. Der deutsche Physiker Klaus von Klitzing tüftelte wie so oft bis spätabends im Hochfeld-Magnetlabor der Universität Grenoble. Die Experimente seines Teams benötigten so viel Energie, dass der Physiker nur nachts arbeiten durfte, um günstigere Stromtarife zu nutzen. An diesem Abend untersuchte er, wie sich Elektronen in verschiedenen Transistoren bewegen. Dabei legte der deutsche Forscher auch immer wieder ein starkes Magnetfeld an und kühlte die elektronischen Schalter mit flüssigem Helium auf minus 270 Grad Celsius.
Bei den untersuchten Materialien handelte es sich um neuartige Halbleiter, in denen die für den Stromtransport verantwortlichen Elektronen zwischen zwei Schichten eingeschlossen waren. Dadurch konnten sich die elektrischen Leiter lediglich in einer zweidimensionalen Ebene bewegen. Als von Klitzing eine Spannung an die Probe anlegte und dabei die Stärke des äußeren Magneten variierte, riss der Strom entlang der elektrischen Spannung immer wieder ab, während er senkrecht dazu verlustfrei floss.
Gegen zwei Uhr morgens war sich von Klitzing sicher, etwas Ungewöhnlichem auf der Spur zu sein. Unabhängig davon, ob er die Messung an Proben der Siemens-Forschungslaboratorien oder der Plessey Company machte, »immer wieder fanden wir einen elektrischen Widerstand, dessen Wert von etwa 6453,2 Ohm die Natur festgelegt hat«, wird sich von Klitzing später erinnern. Für ihn und seine Mitarbeiter wirkte das, was seine Messgeräte zeigten, wie ein Wunder.
Erstaunlicherweise beobachtete von Klitzing den konstanten Widerstandswert bei jedem Halbleiter, den er testete. Für alle Materialien, bei denen die leitenden Elektronen auf einer zweidimensionalen Schicht gefangen waren, tauchte die gleiche Messgröße auf. Das durfte eigentlich nicht sein. Schließlich unterschieden sich die untersuchten Halbleiter deutlich voneinander. Die genaue Platzierung und Art der Atome, aber auch die Form einer Probe hat normalerweise großen Einfluss darauf, wie sich Elektronen in Festkörpern bewegen. Und damit sollte auch der elektrische Widerstand unterschiedlich sein.
Aber von Klitzings Messungen waren eindeutig. In seinen Tests schien die Art des Materials keine Rolle zu spielen. Kollegen schauten in den kommenden Monaten skeptisch auf seine Arbeiten. Eine Fachzeitschrift lehnte sogar zunächst sein Manuskript ab, die Gutachter vermuteten einen Fehler. Erst nachdem von Klitzing seine Ergebnisse auf einer Konferenz vorgestellt und die Fragen seiner Kollegen beantwortet hatte, nahm die Fachwelt deren Tragweite wahr.
Quanten-Hall-Effekt
Der deutsche Forscher Klaus von Klitzing untersuchte während eines Forschungsaufenthalts in Grenoble Halbleiterstrukturen, deren freie Elektronen zwischen zwei Schichten gefangen sind und die somit einem zweidimensionalen System ähneln. Um den Stromtransport in diesen so genannten MOSFETs zu analysieren, brachte er sie in einen äußerst starken Magneten, dessen Feld die zweidimensionale Elektronenschicht (blaue Fläche) senkrecht durchdrang (gelbe Pfeile).
Der Magnet zwang die Elektronen in dem MOSFET, sich auf Kreisbahnen zu bewegen. Je stärker das angelegte Feld war, desto enger kreisten die Teilchen. Bereits vor dem Experiment war von Klitzing klar, dass für extrem starke Felder die Quantennatur der Elektronen ins Gewicht fällt: Wegen ihrer winzigen Kreisbahnen konnten sie nur noch wenige erlaubte Energiewerte annehmen. Die energetischen Abstände zwischen den Bändern wuchsen entsprechend.
Um die Leitfähigkeit der Halbleiterstruktur zu untersuchen, legte von Klitzing anschließend eine Spannung entlang der zweidimensionalen Elektronenschicht an (pinker Pfeil). Die rotierenden Elektronen bewegten sich daraufhin wegen der auf sie wirkenden Lorentzkraft senkrecht (fette schwarze Linie) zum angelegten elektrischen Feld, während normalerweise kein Strom in Richtung der Spannung fließen sollte.
Allerdings verfügt jeder Festkörper über Fehlstellen in der Gitterstruktur. Trifft ein Elektron auf eine solche Fehlstelle, wird es in seiner Bahn abgelenkt. Es nimmt dann auch einen anderen Energiewert an. In von Klitzings Fall führten die Stöße dazu, dass sich letztlich doch einige Elektronen in Richtung des elektrischen Felds bewegten und einen Strom in diese Richtung erzeugten.
Für bestimmte Werte des Magnetfelds riss der Stromfluss in Richtung der Spannung allerdings ab, während die Elektronen senkrecht dazu verlustfrei durch den Festkörper wanderten. Erstaunlicherweise wiederholte sich dieser Effekt auch für andere MOSFETs. Als von Klitzing den senkrecht zur Spannung stehenden Widerstand in den unterschiedlichen Materialien bestimmte, stellte er überrascht fest, dass er stets denselben Wert maß – ungeachtet dessen, welche Probe er untersuchte.
Wie man heute weiß, liegt der Grund dafür in der Natur der Teilchen. Bei bestimmten Magnetfeldstärken sind alle Bänder der Festkörper voll besetzt. Trifft ein Elektron in so einem Fall auf eine Fehlstelle, würde es mit niedrigerer Energie in eine andere Richtung weiterfließen. Da aber alle niedrigeren Energien schon von anderen Elektronen besetzt sind, ist das nicht möglich – es hat schlichtweg keinen »Platz« und fließt stattdessen ungehindert an der Fehlstelle vorbei. Als Konsequenz fällt der Strom in Richtung des elektrischen Feldes auf null ab, während er senkrecht dazu verlustfrei weiterfließt.
Warum dieses Phänomen in den unterschiedlichsten zweidimensionalen Materialien auftritt und dabei immer auf dieselben Messwerte des elektrischen Widerstands führt, kann im Detail nur die Topologie erklären.
Die Entdeckung des deutschen Forschers ging als Quanten-Hall-Effekt in die Wissenschaftsgeschichte ein, und 1985 erhielt er dafür den Physik-Nobelpreis. Damit fing die Arbeit aber erst an. In den folgenden Jahren versuchten andere Physiker, die ungewöhnlichen Vorgänge in den Halbleitern theoretisch zu deuten. David Thouless und drei seiner Kollegen erinnerte das sonderbare Verhalten der Elektronen an den Bereich der Topologie. Bereits 1982, zwei Jahre nach von Klitzings Experiment, hatten sie die entscheidende Idee, die Thouless 2016 den Nobelpreis bescheren sollte. Die Wissenschaftler bewiesen, dass das abstrakte mathematische Gebiet den Quanten-Hall-Effekt erklärt.
Denn auch in der Topologie ist die genaue Geometrie eines Objekts irrelevant, ebenso wie es für die Elektronen in Klaus von Klitzings Experiment egal ist, wie der Festkörper um sie herum im Detail beschaffen ist. Für Topologen sind zwei Figuren, die man durch Kneten – ohne sie zu zerreißen – ineinander umformen kann, gleich. Daher gibt es aus topologischer Sicht keinen Unterschied zwischen einer Tasse und einem Donut, denn sie haben beide genau ein Loch. Ein Ball gehört dagegen der Null-Loch-Kategorie an, genauso wie ein Ei oder eine Wurst.
Elektronen auf Abwegen
Die Topologie im Quanten-Hall-Effekt ist allerdings nicht durch die Form der Probe oder die Anordnung ihrer Atome gegeben, sondern sie versteckt sich in den Wellenfunktionen der leitenden Elektronen. Die Wellenfunktion ist ein Maß für die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Teilchens. Aus ihr lassen sich die Orbitale berechnen, also jene Bereiche um einen Atomkern, in denen sich die Elektronen aufhalten dürfen. Die Wellenfunktion besteht aus einem reellen und einem »imaginären« Wert, der Wurzeln aus negativen Zahlen enthält. Oftmals ist es deshalb einfacher, sich eine Wellenfunktion als zweidimensionales Objekt aus reellen Zahlen vorzustellen, die man in einem einfachen Koordinatensystem darstellen kann. Ein darin eingezeichneter Vektor hat zwei Einträge, den Realteil auf der x-Achse und den Imaginärteil auf der y-Achse.
Wenn sich ein Teilchen in einem starken Magnetfeld bewegt, ändert sich auch die Wellenfunktion mit seiner Geschwindigkeit. Wird ein Elektron in einem Quanten-Hall-System erst langsamer und dann wieder schneller, dann wackelt der dazugehörige Vektor fortlaufend hin und her. Es wirkt, als würde er entlang einer gekrümmten Oberfläche geschoben. Tatsächlich lässt sich mit dieser Oberfläche eine Brücke zur Topologie schlagen und das sonderbare Verhalten in von Klitzings Halbleitern erklären.
Um das zu verstehen, hilft eine Analogie: Stellen wir uns eine Person vor, die auf einen fremden Himmelskörper gebeamt wurde. Sie möchte wissen, ob diese Welt rund wie die Erde ist oder eher einem Donut ähnelt. Die Person spaziert (ohne sich dabei um die eigene Achse zu drehen) einen kleinen Rundweg entlang und stellt fest, dass sie zu Beginn ihrer Tour in eine andere Richtung geblickt hat als am Ende. Aus diesem Winkelunterschied kann die Person die Krümmung der Oberfläche in ihrer Umgebung berechnen, zumindest wenn sie etwas von Geometrie versteht. Indem sie alle möglichen geschlossenen Wege entlangwandert, kann sie sogar die Lochzahl des Himmelskörpers ermitteln und damit seine Topologie.
Anders als in dieser Metapher bestimmt in Festkörpern nicht der Aufenthaltsort eines Elektrons die Neigung der Wellenfunktion, sondern dessen Geschwindigkeit. Bewegt sich ein Elektron in einem Quanten-Hall-System schneller, beugt sich der zugehörige Vektor in die eine Richtung; wird es langsamer, neigt er sich in die andere.
Die gekrümmte »Oberfläche«, auf der die Wellenfunktion gleitet, ist demnach kein räumliches Objekt, sondern ein abstraktes mathematisches Gebilde. Aber es hat handfeste Folgen: Forscher können die Eigenschaften der Oberfläche im Labor messen. Dazu beschleunigen sie die Elektronen mit Laserstrahlen und bestimmen die so genannten Phasenunterschiede zwischen den Wellenfunktionen vor und nach der Beschleunigung. Anschaulich gesehen entspricht der Phasenunterschied dem Winkel zwischen der Blickrichtung zu Beginn und am Ende eines Rundwegs, den eine Person auf einem Himmelskörper entlanggeht. Auf ähnliche Weise können die Wissenschaftler aus dem Phasenunterschied auf die Topologie der abstrakten Oberfläche schließen.
Die Stärke des äußeren Magnetfelds bestimmt dabei, wie sich die Wellenfunktionen der Elektronen gemäß ihrer Geschwindigkeit winden. Indem man die Feldstärke stark variiert, kann man daher ein Material von einem topologischen Zustand in den nächsten überführen und damit den Elektronen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Dieser Effekt hatte sich in von Klitzings Messungen gezeigt. Der Widerstand hatte nicht nur für alle getesteten Proben den gleichen Wert, sondern er blieb auch dann konstant, als der Forscher das Magnetfeld leicht erhöhte. In der Tat hing der Widerstand lediglich von der Topologie der abstrakten Oberfläche ab. So konnte von Klitzing die Feldstärke immer weiter erhöhen; als sie schließlich einen bestimmten Schwellenwert erreichte, stieg der Widerstand schlagartig an. Das Material war in den nächsten topologischen Zustand gerutscht. Bildlich gesehen gleicht das der Situation, in der das Magnetfeld Löcher in die Oberfläche reißt, entlang derer die Wellenfunktionen gleiten.
Das bedeutet jedoch, dass das Verhalten der Elektronen in topologischen Materialien extrem robust gegenüber äußeren Einflüssen ist. Diese Stabilität, gefolgt von einer ruckartigen Änderung, zeichnet die Festkörperklasse aus. Kleinere Variationen – etwa in Gestalt der Probe, des äußeren Magnetfelds, der genauen Anordnung der Atome oder der Temperatur – können den Elektronenwellenfunktionen wenig anhaben. Die abstrakte »Oberfläche«, die ihr Verhalten bestimmt, verformt sich zwar, ohne anschaulich gesehen an Löchern zu gewinnen oder zu verlieren. Deshalb lässt sich ein Quanten-Hall-System aber nicht ohne Weiteres in einen gewöhnlichen Materiezustand überführen, zu denen unter anderem Leiter oder Isolatoren gehören.
»Als ich einen Vortrag über topologische Eigenschaften hielt, die man tatsächlich im Labor messen könnte, lachten mich alle aus. Sie zogen mich noch Monate damit auf!«Mohammad Hafezi, Physiker
Wie sich nach von Klitzings Experimenten zeigen sollte, haben die exotischen Materialien eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft: Obwohl ihr Inneres isoliert, leiten sie auch ohne äußere Spannung entlang ihres Rands verlustfrei Strom. Denn das Magnetfeld zwingt die Elektronen auf enge Kreisbahnen. An der Kante können die Teilchen diese Bahnen nicht mehr vollenden und bewegen sich daher in einer festen Richtung. Wegen dieser vorgegebenen Flussrichtung können die Elektronen nicht von Hindernissen (etwa Fehlstellen im Kristallgitter, die in allen echten Festkörpern auftreten) umgelenkt werden – womit auch die bei solchen Kollisionen übliche Wärmeerzeugung ausbleibt.
Ein seltsamer Spezialfall?
Jahrzehntelang wirkte es so, als sei der Effekt, den von Klitzing entdeckt hatte, ein bizarrer Spezialfall, der nur in extrem heruntergekühlten zweidimensionalen Materialien mit starken Magnetfeldern auftritt. Die Forschung stand in diesem Bereich daher still. Mohammad Hafezi, Physiker an der University of Maryland, erinnert sich: »Als ich Doktorand war und einen Vortrag über topologische Eigenschaften hielt, die man tatsächlich im Labor messen könnte, lachten mich alle aus. Sie zogen mich noch Monate damit auf!« Dass man die topologische Klasse der abstrakten Oberfläche von Elektronenwellenfunktionen messen kann, war damals noch nicht absehbar.
Die Lage änderte sich im Jahr 2004. Die Physiker Andre Geim und Konstantin Novoselov trafen sich damals regelmäßig freitags abends in den Laboratorien der University of Manchester, um Experimente durchzuführen, die nicht direkt mit ihrer Forschung zu tun hatten. An einem dieser Tage zogen die beiden Russen dünne Schichten eines Graphitblocks mit Klebeband ab. Als sie ihre Ergebnisse unter einem Mikroskop betrachteten, fiel ihnen auf, dass einige der herausgelösten Schichten dünner waren als andere. Als sie das Klebeband genauer untersuchten, fanden sie einatomige Graphitschichten – heute bekannt als Graphen.
Die hauchdünnen Lagen erinnerten andere Forscher an die Materialien, die von Klitzing 1980 untersucht hatte. Auch Graphen, das von Natur aus zweidimensional ist, sperrt Elektronen in eine Ebene ein. Könnten sich darin womöglich ähnlich bizarre Phänomene zeigen wie in den Quanten-Hall-Systemen? Das brachte die Wissenschaftler weiter ins Grübeln. Gab es vielleicht sogar natürlich auftretende Materialien, die von sich aus Elektronen solche Kunststücke aufführen lassen, also ganz ohne äußeres Magnetfeld und andere Tricks?
Experten kramten einen Aufsatz aus den 1980er Jahren hervor, der bis dahin wenig Beachtung gefunden hatte. Darin hatte der spätere Nobelpreisträger Duncan Haldane gezeigt, dass der Spin, eine Art Eigendrehimpuls des Elektrons, die Rolle eines äußeren Magnetfeldes übernehmen könnte, was topologische Zustände auch ohne ein solches denkbar machte. 2005 wurde Physikern die volle Bedeutung dieser Überlegung klar, als die beiden Theoretiker Charles Kane und Eugene Mele die Schlussfolgerungen Haldanes auf Graphen übertrugen.
Da rotierende Ladungen ein Magnetfeld erzeugen, verhält sich ein Elektron mit Spin wie ein winziger Magnet. Er besitzt zwei mögliche Ausrichtungen, entweder positiv (rechtsdrehend) oder negativ (linksdrehend). Üblicherweise spielt es für die Eigenschaften eines Elektrons keine Rolle, welchen Spin es hat, während es um einen Atomkern herumschwirrt.
Aus Sicht des Elektrons wirkt es so, als würde der Kern um das Teilchen herumkreisen. Wenn das Elektron schnell genug ist, spürt es wegen der positiven Ladung des Kerns ein starkes Magnetfeld, das seinen Spin in dieselbe Richtung zwingt. Elektronen mit hoher Geschwindigkeit ändern daher ihre Flugbahn, um ihren Spin dem wahrgenommenen Kernmagnetfeld anzupassen. Diese relativistische »Spin-Bahn-Kopplung« ähnelt der Wirkung eines äußeren Magnetfelds und kann damit, wie Haldane erkannte, topologische Zustände erzeugen.
Eine neue Materialklasse
Kane und Mele mutmaßten in ihrer 2005 erschienenen Arbeit, dass stark abgekühltes Graphen auch ohne äußeres Magnetfeld topologisch sei. Danach sah es aber zunächst nicht aus. In Experimenten fanden Physiker keine Hinweise auf ähnliche Effekte wie in von Klitzings Versuchen. Heute weiß man, warum: Die Spin-Bahn-Kopplung in der zweidimensionalen Graphitschicht ist einfach zu schwach. Ähnlich wie beim berühmten Grenobler Experiment, für das ein extrem starkes Magnetfeld nötig war, treten die topologischen Eigenschaften in Graphen nur dann zu Tage, wenn die Spin-Bahn-Kopplung sehr stark ist.
Das ist meist bei schweren Atomen der Fall, die viele positiv geladene Protonen enthalten. Um der enormen Anziehungskraft zu entgehen, schwirren die Elektronen mit rasender Geschwindigkeit so um die Kerne herum, dass ihr Spin passend ausgerichtet ist. Sind die negativ geladenen Teilchen langsamer, genügt der schwache Effekt nicht, um ihre Bahn umzukehren. Da Graphen aus leichten Kohlenstoffatomen besteht, die lediglich sechs Protonen fassen, konnten die Wissenschaftler das Phänomen in dem Material nicht beobachten.
Trotz der gescheiterten Experimente erwachte das Interesse der Festkörperphysiker. »Das Paper von Thouless und seinen Kollegen von 1982 war für mich ehrlich gesagt mehr eine theoretische Arbeit, deren Relevanz mir erst klar wurde, nachdem ich die Veröffentlichung von Kane und Mele gelesen habe«, sagt Laurens Molenkamp, Leiter der Arbeitsgruppe für Experimentalphysik an der Universität Würzburg.
So ging es auch anderen Physikern: 2006 identifizierten Forscher um Shou-Cheng Zhang von der Stanford University einen Halbleiter, dessen Spin-Bahn-Kopplung stark genug ist, um einen topologischen Zustand zu erzeugen. Der Stoff leitet also an seinem Rand extrem gut Strom, während sein Inneres isoliert. Dabei handelt es sich um Quecksilbertellurid (HgTe), das unter anderem im seltenen Mineral Coloradoit in der Natur auftritt.
In ihrem theoretischen Modell beschrieben die Wissenschaftler eine dünne HgTe-Schicht, die zwischen zwei Blöcken aus Kadmiumtellurid (CdTe) eingequetscht ist. Diese Anordnung sollte eine künftige Untersuchung des Stoffs im Labor erleichtern. Obwohl HgTe und CdTe die gleiche Gitterstruktur haben – und damit eigentlich auch ähnliche elektronische Eigenschaften –, bewirkt der schwere Quecksilberkern eine starke Spin-Bahn-Kopplung in der HgTe-Schicht. Der Effekt ist so ausgeprägt, dass die gängigsten Orbitalkonfigurationen (die so genannten s- und p-Orbitale) ihre Rollen tauschen. Während normalerweise Elektronen mit höherem Drehimpuls (p-Orbital) nur wenig Energie haben und solche mit geringem Drehimpuls (s-Orbital) viel Energie besitzen dürfen, ist es bei HgTe gerade andersherum.
Diese besondere Anordnung macht Quecksilbertellurid zu einem zweidimensionalen topologischen Material. Kleinere äußere Einflüsse verformen zwar die Atomorbitale, vertauschen aber nicht ihre Rollen. Auch in anderen Halbleitern mit starker Spin-Bahn-Kopplung sind die Eigenschaften der s- und der p-Orbitale vertauscht. Dieses Phänomen hängt folglich nicht von den mikroskopischen Details der jeweiligen Stoffe ab, sondern scheint universell aufzutreten – typisch für topologische Zustände.
Die Geburtsstunde der topologischen Isolatoren
Allerdings unterscheidet sich der von Zhang und seinen Kollegen vorhergesagte Zustand drastisch von denen, die von Klitzing in seinen Experimenten beobachtet hatte; sie bilden eine weitere neue Materialklasse: die topologischen Isolatoren. Sie sollten sich als jene Stoffe entpuppen, von denen die Physiker so lange geträumt hatten. Topologische Effekte wie die erhöhte Leitfähigkeit am Rand traten hier auch ohne äußeres Magnetfeld zu Tage, sie sollten sich daher viel besser nutzen lassen.
Die topologischen Eigenschaften der Zustände, die von Klitzing 1980 entdeckt hatte, verstecken sich in dem Verhalten der Elektronenwellenfunktionen. Dabei ist entscheidend, ob sie über eine abstrakte »Oberfläche« mit einem, zwei, drei oder mehr Löchern zu gleiten scheinen. Jeder dieser Fälle stellt einen eigenen topologischen Zustand dar. Bei topologischen Isolatoren gibt es dagegen nur zwei mögliche Fälle: Entweder verhalten sich zwei Orbitale wie gewohnt – und das Material ist ein normaler Isolator –, oder sie haben ihre Rollen getauscht.
Der Unterschied zwischen den beiden Materialklassen äußert sich in ihren elektrischen Eigenschaften. Anders als ein äußeres Magnetfeld, das die Spins aller Teilchen in eine einzige Richtung zwingt, gibt es in Kristallen mit Spin-Bahn-Wechselwirkung üblicherweise genauso viele Elektronen mit positivem wie mit negativem Spin. Die topologischen Isolatoren sind zwar – wie Quanten-Hall-Systeme auch – in ihrem Innern isolierend und haben einen elektrisch leitenden Rand; ihre Elektronen können sich aber je nach Spinausrichtung in zwei Richtungen bewegen statt nur in einer. Da die Teilchen ihren Spin nicht einfach ändern können, umgehen sie bei solchen tiefen Temperaturen Fehlstellen, ohne an ihnen zu streuen und Wärme zu erzeugen.
»Heute weiß jeder über Topologie Bescheid. Das ist toll!«Mohammad Hafezi, Physiker
Ende 2006 überprüfte Molenkamp mit seiner Arbeitsgruppe in Würzburg die theoretischen Vorhersagen von Zhang und seinem Team im Labor. Die Würzburger stellten den ersten topologischen Isolator her, indem sie die HgTe- und CdTe-Schichten auf minus 263 Grad Celsius herunterkühlten und die Leitfähigkeit am Rand der HgTe-Schicht nachwiesen. Es war der Startschuss für einen beispiellosen Boom, der 2016 in der Vergabe des Nobelpreises gipfelte und bis heute anhält. »Heute weiß jeder über Topologie Bescheid«, sagt Mohammad Hafezi, »das ist toll!«
Tatsächlich haben Physiker mittlerweile herausgefunden, dass die topologischen Isolatoren, anders als Quanten-Hall-Systeme, nicht auf zwei Dimensionen beschränkt sind. Es gibt dreidimensionale Körper, in denen Elektronen an der Oberfläche ein besonderes Verhalten zeigen, beispielsweise das giftige Bismutselenid (BiSe) oder Bismuttellurid (BiTe). Auch hier bewegen sich die Elektronen an ihrer Oberfläche, ohne nennenswert Energie zu verlieren. Die Materialien unterscheiden sich jedoch insofern von Supraleitern, als sie nur beim absoluten Nullpunkt (minus 273,15 Grad Celsius) völlig verlustfrei Strom leiten. Supraleiter tun das zum Teil bei deutlich höheren Temperaturen.
In der Praxis müssen Physiker das exotische Verhalten der Elektronen an der Oberfläche eines Materials nachweisen, um sicherzustellen, dass es topologisch ist. Inzwischen ist es beispielsweise Forschern um Alexander Holleitner von der Technischen Universität München sogar gelungen, einige dieser Phänomene in Bi2Te2Se bei Raumtemperatur zu messen. »Es ist bemerkenswert, dass solche topologischen Effekte in gewöhnlichen Materialien realisiert werden können, ohne dass dazu extreme Bedingungen nötig sind«, formuliert es Zhang in einem Aufsatz.
Dadurch rücken technische Anwendungen immer näher. Die ungewöhnlichen Eigenschaften der Elektronen an der Oberfläche dieser seltsamen Stoffe könnten zu einer vollkommen neuen Art von Technik führen, bei der nicht bloß die Ladung der Elektronen, sondern auch ihr Spin eine Rolle spielt. Um die neuen Materialien kommerziell nutzen zu können, sollten sie allerdings einfach herzustellen und nicht gesundheitsgefährdend sein. So ist in den vergangenen Jahren eine regelrechte Jagd nach weiteren Kristallen mit den begehrten Eigenschaften entbrannt.
Nicht so selten wie erwartet
Dabei half eine Arbeit der zwei theoretischen Physiker Alexander Altland und Martin Zirnbauer von der Universität zu Köln, die bereits Mitte der 1990er Jahre eine Art Karte erstellt haben, um topologische Zustände zu finden. Sie hatten dazu einfache Kristalle nach den Symmetrien geordnet, die sich in den Gleichungen dieser Systeme verstecken. Anschließend hatten sie herausgearbeitet, welche davon einen topologischen Zustand ermöglichen. Auch diese Veröffentlichung blieb lange Zeit unbeachtet und trat erst mit der Entdeckung topologischer Isolatoren wieder ins Rampenlicht.
»Da hat man plötzlich Dinge wiedergefunden, die man schon kannte – wie den Quanten-Hall-Effekt«, sagt Carsten Timm von der Freien Universität Berlin. »Aber der größte Nutzen war, dass man eine große Zahl an Voraussagen hatte, in welchen Materialgruppen man nach topologischen Stoffen suchen kann und wo es sich eben nicht lohnt.«
Doch die Suche ging recht schleppend voran. Bis Ende 2017 mussten Wissenschaftler dazu äußerst komplizierte und aufwändige Berechnungen durchführen. Mit enormer Computerunterstützung konnten sie lediglich knapp 400 verschiedene Stoffe unter den bekannten Kristallgittern identifizieren, die topologische Eigenschaften bergen. Verglichen mit den etwa 200 000 bekannten Kristallstrukturen erschien die Anzahl topologischer Materialien sehr klein.
Im Juli 2018 kam der Durchbruch: Mehrere Teams hatten unabhängig voneinander Algorithmen entwickelt, die Datenbanken mit verschiedenen Kristallgittern systematisch durchforsten, um mögliche topologische Eigenschaften zu finden. Eine Gruppe von Forschern um Tiantian Zhang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking fand unter knapp 40 000 Kristallen mehr als 8000 Kandidaten für die bizarren Stoffe – sie könnten also weitaus häufiger vorkommen als bisher angenommen. Nun prüfen Wissenschaftler, ob sich unter den Kandidaten auch solche befinden, die man einfach züchten kann, nicht giftig sind und auch bei Raumtemperatur ihre besonderen Eigenschaften behalten.
Quanten simulieren Quanten
Allerdings weisen nicht nur kristalline Festkörper dieses sonderbare topologische Verhalten auf. Um mehr über die neuen Zustände zu erfahren, bedienen sich Forscher auch der so genannten Quantensimulation, die ihnen tiefe Einblicke in die Struktur der Materie gewährt.
Ein Quantensimulator ist ein Quantensystem, das ein anderes Quantensystem nachahmt. Er bildet damit die einfachste Version eines Quantencomputers, der nur eine einzige Art von Rechnung durchführen kann. Um einen Festkörper zu simulieren, nutzen Forscher unter anderem aufwändige Lasersysteme, mit denen sie Atome auf Temperaturen bis kurz vor dem absoluten Nullpunkt herunterkühlen und wie in einem Eierkarton auffangen.
Die ultrakalten Teilchen symbolisieren dabei nicht etwa die Atome eines Kristalls; vielmehr steht jedes ultrakalte Atom – samt Kern und Elektronenhülle – für ein freies Elektron im zu simulierenden Material. Im Gegensatz zu Versuchen mit echten Festkörpern können Physiker in solchen Experimenten die Wechselwirkungen zwischen den Atomen sehr genau kontrollieren und sogar steuern. Dadurch können sie selbst die kompliziertesten Kristallstrukturen oder auch Stoffe simulieren, die es in der Natur gar nicht geben darf.
Echte Festkörper sind nämlich ungemein komplizierter als das ultrakalte Atommodell. Sie bestehen aus mehr als 1023 Teilchen, die miteinander wechselwirken. Zudem sind reale Kristalle niemals perfekt, sie enthalten immer Fehlstellen im Gitter oder auch fremde Atome. Dazu kommen noch äußere Einflüsse wie Schwingungen und schwankende Temperaturen, die das Verhalten der Elektronen auf nicht immer vorhersagbare Weise prägen.
Ultrakalte Atome ermöglichen es den Physikern dagegen, extrem präzise Messungen durchzuführen, die in echten Festkörpern undenkbar wären. Wissenschaftler um Immanuel Bloch von der Technischen Universität München haben zum Beispiel 2012 die Wellenfunktion ultrakalter Atome experimentell untersucht und nachgewiesen, dass sich der nachgebildete exotische Kristall in einem topologischen Zustand befand.
Rechnen mit Licht
Quantensimulatoren bestehen aber nicht bloß aus ultrakalten Atomen; einige Wissenschaftler machen sich etwa die Eigenschaften von Photonen zu Nutze. Die Lichtteilchen ahmen dabei direkt die Wellenfunktion der Elektronen in einem topologischen Festkörper nach. Um das seltsame Verhalten dieser Wellen zu simulieren, leiten Physiker die Lichtquanten in kompliziert geformte Hohlräume, damit sich ihre Phase wie in einem topologischen Material verschiebt.
»Photonen wechselwirken nur sehr schwach miteinander. So kann man die Experimente sogar bei Raumtemperatur durchführen«, erklärt Hafezi. Das hat allerdings den Nachteil, dass man mit ihnen lediglich Festkörper mit schwach wechselwirkenden Elektronen simulieren kann.
Dennoch bieten Photonen einen weiteren Vorteil. »Sie sind gute Informationsträger«, sagt Hafezi, »weshalb man sie in der Kommunikationstechnik nutzt.« Somit kann man topologische Photonensysteme auch über das Gebiet der Quantensimulation hinaus anwenden. Mit ihnen könnte man Lichtquanten genauer kontrollieren und gezielt verstärken, was beispielsweise die moderne Kommunikation sicherer gestalten würde. »Doch es muss noch eine Menge getan werden, um zu zeigen, dass topologische Systeme einen Vorteil gegenüber der aktuellen Technik liefern«, warnt Hafezi.
Topologische Zustände könnten aber noch in anderen Bereichen Anwendung finden. Einige Forscher hoffen sogar, dass die exotischen Materialien in einigen Jahrzehnten eine ähnliche Bedeutung erlangen werden, wie Halbleiter sie heute haben.
Moderne elektrische Geräte bestehen aus vielen kleinen Schaltkreisen, in deren Innerem sich Elektronen tummeln. Seit Jahren versucht man, diese immer weiter zu verkleinern und dichter zu packen, damit Prozessoren kompakter und leistungsstärker werden. Das bringt allerdings Probleme mit sich: Innerhalb der Schaltkreise stoßen die Elektronen auf Fehlstellen, und die Geräte heizen sich infolgedessen auf. Einen Ausweg könnte die »Spintronik« liefern, ein Bereich, bei dem Wissenschaftler Signale nicht nur über die Elektronenladung übertragen, sondern auch den Spin der Teilchen nutzen.
Statt eines gewöhnlichen Ladungsstroms könnten Geräte dann über einen reinen Spinstrom betrieben werden, der keine elektrische Ladung, sondern nur Spinausrichtungen übermittelt. Auf der Oberfläche von topologischen Isolatoren tauchen genau diese seltsamen Ströme auf. Die Elektronen fließen dort je nach Spinausrichtung in entgegengesetzte Richtungen. Insgesamt sind dadurch zwar alle Leiter in Bewegung; wenn es aber gleich viele Teilchen mit positivem und negativem Spin gibt, wandern genauso viele Elektronen nach links wie nach rechts – es gibt also insgesamt keinen Ladungsstrom. Da der Spin die Bewegungsrichtung vorgibt, fließen die Teilchen ungehindert an Fehlstellen vorbei und erzeugen kaum noch Hitze.
Das Forschungsgebiet topologischer Materialien hat daher den Bereich der Spintronik in den letzten Jahren stark vorangetrieben. Forscher hoffen, in Zukunft einen spintronischen Computer aus den neuartigen Stoffen bauen zu können. Ein solcher Rechner würde kaum Abwärme produzieren und viel weniger Strom verbrauchen, da der Spin eines Teilchens sehr schnell und mit geringem Energieaufwand umgekehrt werden kann.
Der Traum eines topologischen Quantencomputers
Doch der wahrscheinlich vielversprechendste Bereich, in dem topologische Materialien zum Einsatz kommen könnten, ist das aufkeimende Feld der Quantencomputer. Die bislang am weitesten gediehenen Ansätze basieren hier auf Ionenfallen, ultrakalten Atomen oder supraleitenden Schaltkreisen. Doch manche Firmen, zum Beispiel Microsoft, setzen auf topologische Materialien, die Vorteile gegenüber den bisherigen Favoriten hätten und eine ihrer größten Schwachstellen ausbügeln würden.
Gewöhnliche Computer rechnen mit Bits, die entweder einer Null oder einer Eins entsprechen. Quantencomputer hingegen verwenden quantenmechanische Bits (kurz: Qubits), die eine Überlagerung aus beiden Werten darstellen. Dabei nutzen Physiker aus, dass ein quantenmechanisches System bis zu einer Messung in mehreren Zuständen sein kann.
Einige Berechnungen können Quantencomputer daher schneller als herkömmliche Rechner ausführen. Allerdings sind diese Systeme üblicherweise sehr empfindlich. Kleinste Störungen bewirken, dass der überlagerte Zustand eines Qubits kollabiert und dieser dann den festen Wert null oder eins annimmt, was zu einem Fehler in der laufenden Berechnung führt.
Topologische Quantensysteme hätten dieses Problem wohl nicht, da sie sich als besonders widerstandsfähig herausgestellt haben. Kleine äußere Störungen wie Temperaturschwankungen oder leichte Schwingungen können ihnen nichts anhaben.
Um ein topologisches Qubit zu erzeugen, genügt jedoch kein einfacher topologischer Isolator. Man muss diesen erst mit einem Supraleiter verbinden. An der Grenzschicht zwischen den beiden ungewöhnlichen Festkörpern entstehen dann exotische Zustände, die sich von allen bisher bekannten unterscheiden.
Supraleiter leiten unterhalb einer bestimmten Temperatur widerstandsfrei Strom. Der Grund dafür ist, dass sich die Elektronen in ihrem Inneren zu Paaren verbinden. Sie verhalten sich dadurch wie Bosonen, eine Teilchenklasse, in der sich die Partikel nicht mehr gegenseitig abstoßen und gemeinsam den gleichen Zustand annehmen können. In Supraleitern fließen diese Paare darum ungehindert aneinander vorbei, ohne sich gegenseitig zu stören oder Reibung zu erzeugen.
Liang Fu und Charles Kane stellten 2008 fest, dass zwischen einem Supraleiter und einem topologischen Isolator eine ungewöhnliche Art von Supraleiter entsteht. Bringt man diesen so genannten p-Wellen-Supraleiter in ein Magnetfeld, bilden die Elektronenpaare Strudel, die in einem Gitter angeordnet sind. In der Mitte eines solchen Strudels ist ein einzelnes Teilchen gefangen, das sich sehr seltsam verhält und der Schlüssel für die Entwicklung zukünftiger Quantencomputer sein könnte.
Suche nach Majoranas
Innerhalb der Strudel wirken die Teilchen so, als seien sie masselos, besäßen keine elektrische Ladung und wären ihr eigenes Antiteilchen. Treffen also zwei Strudel aufeinander, vernichten sich die seltsamen Konfigurationen in ihrer Mitte gegenseitig. Teilchen mit diesen Eigenschaften heißen Majoranas, nach dem italienischen Physiker Ettore Majorana, der sie bereits 1937 vorhergesagt hat.
Durch die räumliche Nähe des topologischen Isolators ist der p-Wellen-Supraleiter auch topologisch. Aus diesem Grund sind die Majoranas stabil und ihre Existenz hängt nicht von den Details des supraleitenden Stoffs ab. Experten sprechen von topologischen Supraleitern – sie bilden die dritte neuartige Materialklasse neben Quanten-Hall-Systemen und topologischen Isolatoren.
Die seltsamen Majoranas treten allerdings nur auf der zweidimensionalen Schicht zwischen dem topologischen Isolator und dem gewöhnlichen Supraleiter auf. Anders als alle anderen existierenden Teilchen lassen sich zweidimensionale Majoranas nicht in die zwei bekannten Teilchenfamilien, die Bosonen und die Fermionen, einordnen. Sie bilden eine neue Kategorie, die es in drei Dimensionen nicht gibt und niemals geben kann: die so genannten Anyonen.
Teilchenfamilien
Alle bekannten Partikel spalten sich in zwei Familien auf, die Fermionen und die Bosonen. Die Bausteine der Materie – etwa Quarks, Neutrinos, Elektronen und ihre jeweiligen Antiteilchen – sind allesamt Fermionen. Die übrigen Teilchen, welche die Wechselwirkungen zwischen der Materie bedingen, wie Photonen und Gluonen, gehören dagegen zu den Bosonen.
Der schwerwiegendste Unterschied zwischen beiden Familien ist das so genannte Pauli-Ausschlussprinzip: Fermionen können nicht die gleichen Eigenschaften besitzen und sich dabei gleichzeitig am selben Ort befinden. Ohne diese Regel gäbe es keine Atome und Moleküle, wie wir sie kennen. Denn die verschiedenen Energieniveaus entstehen dadurch, dass ein Orbital wegen des Pauli-Prinzips nur eine begrenzte Anzahl an Teilchen aufnehmen kann.
Bereits 1951 hatte der Physiker Julian Schwinger einen Beweis vorgelegt, dass sich alle Teilchen in diese beiden Familien einordnen lassen. Doch 1988 fand sich eine Ausnahme zu dieser Regel. In zwei Raumdimensionen können seltsame Partikel existieren, die weder bosonischer noch fermionischer Natur sind, so genannte Anyonen.
Ihr Hauptmerkmal ist, dass sie eine Art Gedächtnis haben. Vertauscht man zwei identische Anyonen miteinander, kann man hinterher an ihrer Wellenfunktion ablesen, welche Umordnungen vorgenommen wurden. Denn ähnlich wie die Elektronen aus von Klitzings Experiment verändert sich die Wellenfunktion der Majoranas unter ihrem Austausch.
Die Wellenfunktion der Anyonen lässt sich damit in einen Informationsträger verwandeln. Indem die Forscher die Partikel gezielt miteinander verflechten, könnten sie ihre Wellenfunktion codieren, um so Berechnungen durchzuführen. Da die Majoranas Teil eines topologischen Systems sind, bleiben sie dabei im Gegensatz zu gewöhnlichen Qubits durch äußere Einflüsse ungestört, solange diese nicht zu stark sind.
»Eine der größten offenen Fragen auf dem Gebiet der topologischen Materialien ist, ob die Experimente tatsächlich Majorana-Zustände gesehen haben. Das ist nach wie vor unklar«Laurens Molenkamp, Physiker
Inzwischen haben etliche Physiker topologische Supraleiter im Labor studiert und versucht, die seltsamen Majoranas nachzuweisen. Sie konnten bisher einzelne masselose und neutrale Partikel innerhalb der Elektronenpaar-Strudel messen. Es gelang ihnen aber noch nicht, die entscheidende Eigenschaft nachzuweisen, dass sich deren Wellenfunktion unter Vertauschung ändert. Auch Microsoft behauptet immer wieder, Majorana-Zustände und gar topologische Qubits erzeugt zu haben - doch die Fachwelt bleibt skeptisch. »Eine der größten offenen Fragen auf dem Gebiet der topologischen Materialien ist, ob die Experimente tatsächlich Majorana-Zustände gesehen haben. Das ist nach wie vor unklar«, sagt Molenkamp.
Auch deshalb ist derzeit nicht sicher, ob topologische Materialien die Elektronikindustrie revolutionieren oder zu Quantencomputern führen werden. »Es gibt leider bisher keine echten Anzeichen, dass so ein Durchbruch schon gefunden ist«, so Molenkamp. »Ich erhoffe mir vor allem spannende neue Physik.« Eines ist jedoch klar: Die Arbeiten der Physiker Thouless, Kosterlitz und Haldane haben die Festkörperphysik nachhaltig verändert – und aus ihr eine Disziplin gemacht, in der abstrakte mathematische Konzepte eine handfeste Anwendung finden.
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