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Transgender-Jugendliche: Um zu Jakob zu werden, musste Anna kämpfen

Der Hass auf den Körper begann mit der Pubertät. Dann kam die Depression. Jakob Lorenz ist trans. Sein Beispiel zeigt, wie wichtig es schon für Jugendliche ist, sich selbst zu finden.
Jugendliche umarmen sich auf einer Treppe sitzend.

Das Licht ausmachen, um zu duschen, die Spiegel in der Wohnung mit Tüchern verhängen oder im Urlaub nicht mehr an den Strand gehen. Wie groß die Abscheu vor dem eigenen Körper sein kann, ist für viele Menschen unvorstellbar. Doch manche fühlen, dass ihr Penis, ihre Vagina oder Brüste nicht mit ihrer Identität übereinstimmen. So war es etwa bei Jakob Lorenz, der eigentlich anders heißt. Er kam als, nennen wir sie, Anna auf die Welt, verbrachte, so sagt er selbst, eine unbeschwerte Kindheit mit vielen Freunden. Er versuchte sich stets von den Mädchen im gleichen Alter abzugrenzen. Ein Problem war das lange nicht. Doch dann kam die Pubertät und mit ihr eine Depression.

Jakobs' Geschichte ist beispielhaft. Sich als Junge zu fühlen, aber den Körper eines Mädchens zu haben, gilt zwar offiziell nicht mehr als krankhafte Störung (siehe »Transgender laut ICD-11«). Doch wenn man geschlechtsinkongruent ist, passt das innere Wissen nicht zum eigenen Körper oder dazu, wie andere einen sehen – eine tägliche Herausforderung. Es kann helfen, den Körper an das eigene Gefühl anzupassen. Um die persönlich besten Entscheidungen zu treffen, ist jedoch einiges zu beachten.

Wie viele Kinder trans geboren werden, ist unklar. In Schweden haben 2,8 Prozent der Erwachsenen in einer Umfrage den Wunsch angegeben, als Person eines anderen Geschlechts zu leben oder behandelt zu werden. Weitere 2,3 Prozent der Befragten sagten, sie würden sich wie jemand des anderen Geschlechts fühlen. Die Zahlen sollen auf Deutschland übertragbar sein. Andere Schätzung zufolge liegt die Prävalenz hier zu Lande unter 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Themenwoche »Transgender«

Die Menschheit ist vielfältig. LGBTQIA* versammelt diverse Begriffe für sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten: Lesbisch, schwul, bi, trans, queer, inter, asexuell – das * lässt Raum für Weiteres. Jedes Jahr im Juni feiert sich die Community auf verschiedene Weise. Zum Auftakt des »Pride Month« widmet sich »Spektrum.de« dem Thema »Transgender« in der Woche vom 30. Mai bis 3. Juni 2022 mit folgenden Inhalten:

Die wesentlichen Texte zum Thema »Sex und Gender – Es gibt mehr als zwei Geschlechter« finden Sie hier auf unserer Sammelseite.

Dem anderen Geschlecht angehören zu wollen, kann früh ausgeprägt sein

Umstritten ist auch, was als erste Anzeichen für geschlechtsuntypisches Verhalten gelten kann. »Von der Idee der geschlechtstypischen Spielsachen als diagnostisch wegweisende Beobachtung sind wir mittlerweile weggekommen. Warum sollten Mädchen nicht mit Autos spielen und Jungs mit Puppen?«, fragt der Jugendpsychiater Georg Romer, der am Universitätsklinikum Münster eine Transgender-Sprechstunde leitet. Typisch sei hingegen, wenn die Kinder ein ausgeprägtes Verlangen haben, dem anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend behandelt zu werden. Oftmals suchen sie sich einen neutralen oder zum anderen Geschlecht entsprechenden Vornamen, mit dem sie angesprochen werden wollen.

Ob man ein Junge, Mädchen, nicht-binär oder etwas anderes ist, weiß nur die Person selbst. Zwar zeigen viele Kinder geschlechtsnonkonformes Erleben und Verhalten, aber nur ein Viertel dieser Personen erfüllt später im Jugendalter die diagnostischen Kriterien für eine Geschlechtsinkongruenz. Erst ab 16 Jahren gibt es empirisch gesehen eine fast 100-prozentige diagnostische Sicherheit.

»Ich habe mich zurückgezogen, meine Freundschaften nicht mehr gepflegt und angefangen meinen Körper zu hassen«Jakob Lorenz

In der Pubertät begann das Leiden

Die Probleme von Transpersonen beginnen häufig in der Pubertät. Wie bei Jakob Lorenz. Als er elf war, fing sein Körper an, sich zu verändern, wurde weiblicher. »Ich habe mich zurückgezogen, meine Freundschaften nicht mehr gepflegt und angefangen meinen Körper zu hassen«, sagt der heute 18-Jährige. Mit jeder körperlichen Veränderung ging es ihm schlechter. Er war zwölf Jahre alt, erzählt er, als er im Internet jemanden kennen lernte, der trans war. Plötzlich ergab alles einen Sinn, die Kindheit, die Ablehnung der eigenen Geschlechtsteile. »Mit der Erkenntnis, trans zu sein, habe ich erst mal noch mehr gelitten. Ich rutschte in eine depressive Phase und sah überhaupt keine Perspektive mehr«, sagt Jakob.

Ist solch ein Leidensdruck vorhanden, sprechen Kliniker von Geschlechtsdysphorie. In diesen Fällen können psychosoziale Unterstützung, Beratung und gegebenenfalls eine Psychotherapie helfen, das Leben zu meistern. Nicht nur das: Eine Behandlung kann helfen, psychischen Störungen vorzubeugen. Es gilt als erwiesen, dass eine Geschlechtsdysphorie das Risiko für eine »Depression, Suizidgedanken, Suizidhandlungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch, Persönlichkeitsstörungen, dissoziative Störungen, Asperger-Autismus und Essstörungen« erhöht, wie es in einer Leitlinie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung heißt.

  • Transgender laut ICD-11

    Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) dient weltweit als Überblick von Diagnosen. Im Jahr 2022 trat die elfte Auflage in Kraft, kurz ICD-11. Sie enthält bedeutende Änderungen für Transpersonen:

    • Im ICD-10 war »Transsexualismus« noch als »Störungen der Geschlechtsidentität« definiert und im Abschnitt »Mentale und Verhaltensstörungen« eingeordnet. Nun spricht man unter anderem von »Geschlechtsinkongruenz«.
    • Diese ist laut ICD-11 »durch eine ausgeprägte und anhaltende Inkongruenz zwischen dem empfundenen Geschlecht und dem zugewiesenen Geschlecht gekennzeichnet«. Geschlechtsvariante Verhaltensweisen und Vorlieben allein seien keine Grundlage für die Zuweisung von Diagnosen in dieser Gruppe.
    • Die Geschlechtsinkongruenz findet sich im Abschnitt »Conditions related to sexual health«.

    Wichtig zu wissen: Angewendet wird die ICD-11 in Deutschland noch nicht. Sie muss zunächst übersetzt, modifiziert und in die bestehenden Strukturen hier zu Lande integriert werden. Aktuell arbeiten Ärztinnen und Ärzte mit der ICD-10-GM Version 2022 – GM steht dabei für »German Modification«. Wie lange es noch dauert, bis die ICD-11 in Deutschland genutzt wird, ist unklar. Es wird sich aber eher um mehrere Jahre als Monate handeln.

  • Wider Pathologisierung und Stigma

    Mit der ICD-11 sollen Indikationen für somatische Behandlungen bei Trans*Personen weiterhin medizinisch begründet gestellt werden können, wenn zum Beispiel angenommen wird, dass ohne diese die gesundheitliche Lebensqualität der Betroffenen dauerhaft beeinträchtigt wird.

    »Es ist ein wichtiges Signal, dass die Geschlechtsinkongruenz nicht mehr als psychische Störung verstanden wird«, sagt der Jugendpsychiater Georg Romer. Denn trans zu sein, ist demnach auch per medizinischer Definition keine Krankheit mehr. Das könnte Transpersonen helfen, in ihrer Geschlechtsidentität anerkannt zu werden, und soll Vorurteilen entgegenwirken.

  • Was ist Genderdysphorie?

    Eine Genderdysphorie ist von einer starken, anhaltenden geschlechtsübergreifenden Identifikation gekennzeichnet. Sie kann mit Angst, Depression, Reizbarkeit einhergehen. Auch haben Betroffene oft den Wunsch, als ein anderes Geschlecht als das bei der Geburt zugewiesene zu leben.

  • Diagnose und Behandlung in Deutschland

    Wie mit Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Transgesundheit umzugehen ist, regelt in Deutschland eine S3-Leitlinie zu Diagnostik, Beratung und Behandlung. Sie stammt von 2019, berücksichtigt aber bereits die schon damals bekannten, angestrebten Änderungen der ICD. Eine Überarbeitung ist für das Jahr 2023 geplant.

Jakob las im Internet Geschichten von anderen Jugendlichen, deren Eltern keinerlei Verständnis für die Transidentität ihrer Kinder zeigten. Also fürchtete er sich davor, sich seinen Eltern zu offenbaren. Äußerlich begann er sich zu verändern, schnitt sich die Haare kurz und trug eher geschlechtsneutrale Kleidung. »Nach einem halben Jahr und mehreren Versuchen, mich zu outen, kam bei meinen Eltern die Botschaft an«, sagt Jakob. Sie hätten sehr verständnisvoll reagiert, sich Bücher zum Thema gekauft und ihn bei seinem gewünschten Namen genannt. Im vertrauten Kreis war Anna zu Jakob geworden.

»Für viele Eltern fühlt es sich zunächst so an, als ob sie ein Kind verlieren«Georg Romer, Jugendpsychiater

Erst der Trans-Alltagstest, dann die Hormontherapie

Der junge Mann hatte Glück. Zirka ein Drittel der Transkinder und -jugendlichen werden in ihren Familien wegen ihres geschlechtsnonkonformen Verhaltens und Aussehens kritisiert. Das zumindest ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit der Psychologen Jannik Franzen und Arn Sauer aus dem Jahr 2010. Wobei Kinder und Jugendliche laut einer weiteren Studie mehr Gewalt aus ihrem Umfeld erfahren, je deutlicher sie geschlechtsnonkonform auftreten.

Auch wenn sich nach seinen Erfahrungen die meisten Eltern von jungen Transpersonen unterstützend hinter ihr Kind stellen, kann es zu familiären Konflikten kommen, sagt auch Jugendpsychiater Romer: »Für manche Eltern fühlt es sich zunächst so an, als ob sie ein Kind verlieren.« Doch mit Unterstützung, durch eine Familientherapie zum Beispiel, könnten sie lernen, ihr Kind innerlich noch mal neu zu adoptieren. »Schlimm wird es, wenn die Eltern die Identität ihres Kindes ablehnen«, sagt Romer. Wenn sie den Wunsch ignorieren, das Kind mit einem neuen Namen anzusprechen, oder auch eine Transition verhindern. »Wenn die Eltern den Weg einer Transition emotional nicht mitgehen können, dann kann ein junger Mensch daran zerbrechen«, warnt Georg Romer. Diese Ablehnung sei existenziell, darunter leide auch die Geschlechtsidentität. »Auf Dauer wird das so nicht funktionieren. Der junge Mensch wird im schlimmsten Fall irgendwann suizidal oder die Beziehung zwischen Kind und Eltern geht in die Brüche«, sagt Georg Romer.

Obwohl die Eltern Jakob unterstützten, gab es immer wieder verletzende Kommentare von Freunden und Bekannten. »Vor allem die Erwachsenen aus dem Freundeskreis meiner Eltern haben uns Vorwürfe gemacht. Sie meinten, ich hätte eine schwierige Phase und dass ich nur Aufmerksamkeit will«, sagt Jakob.

Weder er noch seine Eltern ließen sich davon beirren. Jakob wollte eine Transition, beginnend mit einer Hormonbehandlung. Also suchten sie eine Psychotherapeutin, die den Alltagstest durchführen kann. »Um eine Hormonbehandlung bewilligt zu bekommen, musste ich eineinhalb Jahre in meinem sozialen Geschlecht leben«, erzählt Lorenz. Nach ein paar Monaten Wartezeit war es so weit, sie hatten einen Therapieplatz. »Fast zwei Jahre vergingen, bis endgültig festgestellt wurde, dass eine Hormontherapie das ist, was ich brauche«, sagt der junge Mann. Und weiter: »Das war die schlimmste Zeit. Es war schrecklich, meinem Körper dabei zuzusehen, wie er sich in die falsche Richtung entwickelt. Dazu die langen Wartezeiten und die Perspektivlosigkeit.«

Sechs Monate nachdem er sich bei seinen Eltern outete, habe er es Schritt für Schritt öffentlich gemacht, erzählt Jakob. In der Schule, bei der Großfamilie, bei Bekannten. Besonders schmerzhaft sei es in dieser Zeit gewesen, weiterhin mit dem weiblichen Pronomen und Vornamen angesprochen zu werden. »Da bin ich innerlich immer zusammengezuckt. Ich hatte das Gefühl, die Welt hat mich nicht gesehen, wie ich eigentlich bin«, sagt Jakob.

Pubertätsblocker können den Wechsel erleichtern

Georg Romer kennt die Ungeduld, die viele Transjugendliche plagt. Doch er betont, wie wichtig es sein kann, den sozialen Rollenwechsel stabil vollzogen zu haben, bevor man eine Hormonbehandlung beginnt. Er rate stets: »Wenn dein Körper diese ganzen Veränderungen durchmacht, deine Stimme zum Beispiel tiefer wird, dir ein Bart wächst, dann wirst du sehr mit dir selbst beschäftigt sein.« Dann sollte das gesamte Umfeld, von der Oma über die Klassenkameraden bis zu entfernten Bekannten, darauf vorbereitet sein. Pubertätsblocker, die das Einsetzen der Pubertät verzögern oder bremsen, können in solchen Fällen erleichternd wirken. »So wird der Druck genommen, die jungen Menschen können sich erproben und den Rollenwechsel in der Schule und Umfeld üben, ohne dass die Reifeentwicklung irreversibel voranschreitet«, erklärt Romer.

Die größte gesellschaftliche Akzeptanz könne das hauptsächliche Leiden der Betroffenen jedoch nicht abmildern, sagt Romer. »Die Betroffenen verspüren meist einen inneren Dauerstress durch das Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Dagegen hilft keine Psychotherapie.«

»Viele Mediziner haben Angst vor einer falschen Entscheidung«Georg Romer, Jugendpsychiater

Mit 15 Jahren konnte Jakob Lorenz die Hormontherapie beginnen, wie er erzählt. »Ab da hat sich meine mentale Gesundheit stark verbessert. Als ich körperliche Veränderungen sehen konnte, ging es sofort besser«, sagt Lorenz. Mit 16 ließ er sich die Brüste entfernen. »Das war eine riesige Last, die von mir abgefallen ist. Mir ging es so viel besser, ich hatte das Gefühl, ich bin ein neuer Mensch!«, sagt Jakob Lorenz.

Für Lorenz war die Hormonbehandlung eine Erlösung. Das muss aber nicht für alle gelten. Ob Jugendliche gezielt Östrogen oder Testosteron nehmen oder sich gar geschlechtsangleichenden Operationen unterziehen sollten, wird intensiv diskutiert. 2020 erklärte der Deutsche Ethikrat in einer Stellungnahme zu diesem Thema: Einerseits entwickle sich die Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit im Jugendalter erst, andererseits schaffe die in der Pubertät stattfindende körperliche Entwicklung Zeitdruck. Weiter steht dort: In dieser Situation können sowohl die in Betracht gezogenen Behandlungsmöglichkeiten als auch deren Unterlassung schwer wiegende und teils irreversible Folgen haben. »Deshalb haben viele Mediziner Angst vor einer falschen Entscheidung. Abwarten ist aber keine neutrale Option«, sagt Jugendpsychiater Romer.

Eine Hormonbehandlung kann vor Depressionen bewahren

Der einzig mögliche Weg, nach seiner Einschätzung: lange Gespräche führen, mit dem jugendlichen Menschen allein und gemeinsam mit den Erziehungspersonen. Genau hinhören. Wie gefestigt ist die Identifikation mit anderem Geschlecht? Hat sie sich schon im Kindergarten gezeigt? Oder erst in der Pubertät?

In letzterem Fall würde sich Romer mehr Zeit nehmen, länger abwarten. »Natürlich können auch andere Gründe hinter dem Selbsthass stecken«, sagt Romer. Daher empfiehlt er, alle Schritte behutsam zu gehen. Zunächst sozial ausprobieren, sich zu outen. Nach jedem Schritt solle sich die Betroffene fragen: Geht es mir jetzt besser?

Transpersonen haben im Erwachsenenalter häufig psychische Probleme, wie Depressionen oder Angststörungen. Sie begehen laut Statistiken auch häufiger als die Durchschnittsbevölkerung Suizidversuche. Eine frühe Hormonbehandlung kann in einigen Fällen davor bewahren. Nach jetziger Kenntnis gab es deutlich weniger Suizidversuche bei denjenigen Probanden, die schon im Jugendalter Hormone bekommen hatten. Eine weitere Studie zeigte, dass das subjektive Wohlbefinden der jungen Menschen nach einer entsprechenden Behandlung und operativen Maßnahmen ähnlich oder sogar besser war als bei gleichaltrigen jungen Erwachsenen aus der Allgemeinbevölkerung.

Romer und sein Team haben im Lauf der Jahre etwa 500 junge Menschen auf ihrem Weg begleitet. »Am Ende ist es sehr schön zu sehen, dass sich die psychischen Belastungen meist auflösen, wenn die Transition erfolgreich war. Dann blühen die Jugendlichen auf«, sagt er.

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