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News: Treffliche Tischmanieren

Kaulquappen zählen eher selten zu den gefährlichen Räubern. Meist raspeln sie den Aufwuchs auf Steinen ab und filtrieren ihre Mahlzeiten dann aus der aufgewirbelten trüben Brühe. Nicht so jedoch die Sprösslinge von Zwergkrallenfröschen.
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Der Wasserfloh hat keine Chance. Nicht einmal das kleinste Zucken eines Ausweichmanövers gelingt ihm noch, bevor er im weit geöffneten Maul seines gefräßigen Verfolgers landet, der selbst nur wenig größer ist: eine Kaulquappe des afrikanischen Böttgers Zwergkrallenfrosch (Hymenochirus boettgeri). Mit seinen großen Augen hat der Froschnachwuchs sein Beutetier erspäht, ist ihm gezielt gefolgt und hat es nun – mit einem kräftigen Sog – verschluckt.

Ein ungewöhnliches Verhalten für eine Kaulquappe. Normalerweise nutzen die Froschsprösslinge ihr winzigen Hornzähnchen, um Algen und anderes organisches Material auf Steinoberflächen abzuraspeln. In der aufgewirbelten trüben Brühe sind dann genug nahrhafte Partikel, die sie mittels feiner Filter in ihrem Maul abschöpfen. Das überschüssige Wasser geben sie über die Kiemen wieder ab.

Zwergkrallenfrösche aber wählten in der Evolution einen anderen Weg. Schon 1959 stellte Otto Sokol fest, dass die nur millimetergroßen Kaulquappen aktiv einem Beutetier nachschwimmen und es verschlingen. Stephen Deban von der University of Utah und Wendy Olson von der Dalhousie University offenbarten nun mithilfe von Videoaufnahmen, wie die Winzlinge dabei vorgehen. Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera mit Makrolinse, die 1000 Aufnahmen pro Sekunde machte, verfolgten die Wissenschaftler jede Bewegung ihrer Schützlinge in einem Aquarium aus Glasobjektträgern von etwa 7,5 mal 2,5 mal 0,5 Zentimeter Größe – so waren sie sicher, dass die Schärfentiefe ausreichte.

Es scheint, als hätten sich die Froschlarven das Prinzip bei den Fischen abgeschaut: In einer raschen Bewegung stülpen sie ihr Maul nach vorne aus, klappen den Unterkiefer nach unten, dehnen die Wangen und heben den Kopf – alles in nur zwei Millisekunden. Die so plötzlich vergrößerte Mundhöhle erzeugt einen kräftigen Sog: Innerhalb von weiteren vier Millisekunden und mit einer Geschwindigkeit von 60 Zentimetern pro Sekunde – das sind immerhin mehr als zwei Kilometer pro Stunde – können sich die Tiere so ihre Beute einverleiben. Damit sind sie deutlich schneller als vergleichbare jagende Fischlarven ähnlicher Größe, bei denen die Saugströmung allerhöchstens halb so schnell ist.

Warum betreiben die Winzlinge einen solchen Aufwand und raspeln sich ihre Nahrung wie ihre Verwandten nicht einfach zusammen? Sie versuchen damit wahrscheinlich, der hinderlichen Viskosität ihrer Umgebung zu entgehen. Denn für die kleinen Froschlarven ist Wasser keineswegs so flüssig wie für uns, es ähnelt eher einem zähen Sirup, gegen den sie nur unter hohem Kraftaufwand ankommen. Dementsprechend schwierig ist für sie das Herausfiltern partikulärer Nahrung: "Es ist, als ob sie Honig durch ein Teesieb streichen müssen", erklärt Deban.

Die winzigen Jäger mit ihrem vorstülpbaren Maul sind einzigartig in der Froschwelt. Ihre engste Verwandtschaft begnügt sich mit Raspeln und Filtrieren, und andere Arten, die ihre Nahrung ebenfalls einsaugen, bilden keinen "Saugmund". Die ungewöhnlichen Tischmanieren, die sich unabhängig von der Evolution der Fische entwickelten, zeigen einmal mehr, mit welch bizarren Lösungen Tiere dem ständigen Kampf ums Überleben begegnen – und dabei auch noch auf dieselben Ideen kommen.

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