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Tutanchamun: Einbruch ins goldene Grab

Vor 100 Jahren entdeckte Howard Carter das Grab von Tutanchamun. In jahrelanger Kleinstarbeit barg er hunderte exquisiter Grabobjekte. Doch das Narrativ vom sorgsamen Ausgräber stimmt nur zum Teil. Carter war schon vorab ins Grab eingestiegen und hatte heimlich Stücke entwendet.
Howard Carter und ein Mitarbeiter untersuchen einen der Goldsärge von Tutanchamun.
Zusammen mit einem Mitarbeiter untersuchte Howard Carter 1925 einen der Särge Tutanchamuns. Die Mumie lag im Inneren von drei ineinander gestellten Särgen aus Gold. Das nachträglich kolorierte Foto von Harry Burton zeigt den geöffneten zweiten sowie den noch verschlossenen dritten Grabkasten.

Am Morgen des 4. November 1922: Howard Carter hielt sich gerade in seinem Grabungszelt auf, als ein Arbeiterjunge hereinstürzte. Er habe eine Treppenstufe entdeckt. Der Junge zerrte den britischen Archäologen zur Fundstelle, wo sich Carter die Stufe genau ansah. Der Absatz war aus dem Felsen gehauen, so wie die Zugangstreppen von so vielen der unterirdischen Grabkammern im Tal der Könige. »Ich wagte fast zu hoffen«, schrieb der Brite später in sein Tagebuch, »dass wir endlich unser Grab gefunden hatten«. Er ließ Stufe um Stufe frei legen, bis die Arbeiter auf einen vermauerten Eingang stießen. Darauf zeichneten sich, in den Wandputz gedrückt, die Siegel der Königsnekropole ab: ein kauernder Schakal über neun gefesselten Feinden. Die Siegel waren ungebrochen. Hinter der Mauer musste also etwas liegen, das seit ungefähr 3300 Jahren unberührt geblieben war.

Carter begab sich schnellstmöglich nach Luxor am anderen Nilufer, um seinem Finanzier und Auftraggeber George Herbert, 5. Earl of Carnarvon (1866–1923) – meist nur Lord Carnarvon genannt –, ein legendäres Telegramm zu schicken: »Habe endlich wunderbare Entdeckung im Tal gemacht. Prächtiges Grab mit unversehrten Siegeln. Bis zu Ihrer Ankunft wieder zugeschüttet. Glückwunsch.«

Die Jahrhundertentdeckung im Tal der Könige

Carters Fund war eine Sensation. Es war die Entdeckung des Jahrhunderts, die sich nun zum 100. Mal jährt. Der britische Archäologe hatte ein Königsgrab voller Beigaben geöffnet und diese aufwändig im Lauf von zehn Jahren geborgen – Schreine, Truhen, Betten, Streitwagen, Schmuck, Gewänder, Sandalen, Statuen, Amulette, Waffen, Salben und die Mumie des jugendlichen Pharao, der einst von 1336 bis 1327 v. Chr. über Ägypten geherrscht hat. Doch das offizielle Narrativ vom sorgsamen Ausgräber stimmt nur zum Teil. Carter war schon vorab in Tutanchamuns Totenstätte eingestiegen und hatte heimlich Stücke entwendet. Das belegen Zeugenaussagen und verdächtige Exponate in Museen außerhalb Ägyptens.

Pharaonengruft | Ein Korridor führt in das unterirdische Grab von Tutanchamun. Von der mit Möbeln, Truhen und Streitwagen gefüllten Vorkammer gehen ein kleiner Annex sowie der Sargraum ab. Darin befanden sich die ineinander geschachtelten Holzschreine und Goldsärge. Von dort öffnet sich ein Durchgang in die Schatzkammer mit dem Eingeweideschrein. Die Illustration zeigt die Fundsituation, wie sie Howard Carter beschrieben hat.

Das Grab hatte streng genommen nicht Carter entdeckt, sondern der Arbeiterjunge. Hussein, jüngster Spross der berüchtigten Grabräuberfamilie Abd el-Rassul, hatte damals die Aufgabe, den Arbeitern Wasser zu bringen. Als Hussein einen gefüllten Tonkrug im Sand absetzen wollte, stieß er auf die Treppenstufe. Carter belohnte ihn für seinen Fund mit einem berühmt gewordenen Porträt: Grabungsfotograf Harry Burton (1879–1940) lichtete den Jungen ab, wie er einen goldenen Brustschmuck von Tutanchamun um den Hals trug. Das Motiv erinnert an die mit dem Schatz des Priamos behängte Sophia Schliemann, die ihr Ehemann und Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann 1873 fotografiert hatte. Die Biografien der beiden Archäologen weisen Parallelen auf. Vor allem gelten sie bis heute als Laien mit Finderglück. Zumindest im Fall von Carter stimmt das aber sicher nicht.

Learning by Doing

Howard Carter kam 1874 im heutigen Londoner Stadtteil Kensington als jüngstes von elf Kindern zur Welt. Sein Vater, der Maler und Illustrator war, brachte ihm das Zeichnen bei. Das befähigte den gerade einmal 17-jährigen Howard, zunächst im British Museum und kurz darauf beim Egypt Exploration Fund als Zeichner zu arbeiten. 1892 gelangte er das erste Mal nach Ägypten, wo er auf Grabungen Funde dokumentierte.

Der Brite genoss vor Ort eine archäologische Ausbildung, die damals keine Eliteuniversität der Welt bieten konnte. Carter war demnach alles andere als ein blutiger Laie, als er in der von Franzosen geführten ägyptischen Altertümerbehörde als Oberinspektor Karriere machte. Allerdings endete seine Laufbahn abrupt. Ein Vorfall mit Besuchern aus Frankreich an einer Ausgrabungsstätte kostete ihm 1905 seinen Posten, obwohl Carter keine Schuld trug. Der Leiter der Altertümerbehörde Gaston Maspero vermittelte seinen Schützling daraufhin an den wohlhabenden Lord Carnarvon, der in Ägypten graben wollte. Und Carter war der richtige Mann dafür.

Zu dieser Zeit verfügte der US-Anwalt Theodore Davies (1837–1915) über die Grabungslizenz im Tal der Könige. 1914 gab er sie an die Altertümerbehörde zurück, weil seines Erachtens keine Funde mehr zu erwarten waren. »Ich fürchte, das Tal der Könige ist erschöpft«, lautete sein Fazit. Carter hingegen überzeugte Lord Carnarvon, die Lizenz zu übernehmen. 1917 begannen sie dort zu graben.

Carter wusste nämlich von Anfang an, dass im Tal der Könige noch ein Pharaonengrab seiner Entdeckung harrte: die Ruhestätte des bis dahin kaum bekannten Tutanchamun. Seine Existenz bezeugte ein Konvolut unscheinbarer Objekte, das 1907 in einem Felsenschacht im Tal ans Licht gekommen war. Es handelte sich um Balsamierungsmaterial – Tongefäße, Natronsäckchen, Leinenbinden sowie Relikte eines rituellen Totenmahls. Einige der Leinenstoffe waren beschriftet – mit Regierungsjahr und Namen von Tutanchamun, genauer seinem Thronnamen Nebcheperure. Carters Vorgänger, Theodore Davies, ging davon aus, dass der Felsenschacht das Grab dieses Königs war. Davies bezeichnete den Schacht daher als KV54, »Kings' Valley« 54 – gemäß der archäologischen Zählung im Tal der Könige.

Siegel mit Tutanchamuns Thronnamen

Carter hingegen war sich sicher, dass Davies falschlag. Die Grube war nur zwei Quadratmeter groß und damit viel zu klein, als dass hier die Mumie eines Königs samt Grabschatz gelegen haben könnte. Und nun, am 4. November 1922, keimte bei Carter die Hoffnung, dass seine jahrelange Suche nach der Pharaonengruft erfolgreich war. Die knapp drei Wochen, die es dauerte, bis Lord Carnarvon und seine Tochter Lady Evelyn Herbert am 23. November aus England in Luxor eintrafen, müssen Carter wie eine Ewigkeit vorgekommen sein. Als die beiden endlich da waren, ließ Carter den Zugang bis zum Felsengrund frei schaufeln. Und dort bestätigte sich seine Vermutung: Im unteren Bereich der zugemauerten Tür kamen weitere Siegel zum Vorschein – mit Tutanchamuns Thronnamen Nebcheperure.

Entdecker | Der Finanzier der Grabungen Lord Carnarvon (links), seine Tochter Lady Evelyn Herbert (Mitte) und Howard Carter (rechts) stehen an der Zugangstreppe zu Tutanchamuns Grab.

Doch in die Begeisterung mischten sich Zweifel. Carter hatte in der Mauer eine Stelle bemerkt, die nachträglich versiegelt worden war. Offensichtlich hatten Grabräuber ein Loch in die Vermauerung geschlagen. Dass man die Öffnung im Altertum aber wieder verschlossen hatte, sprach dafür, dass in dem Felsengrab, das nun offiziell KV62 hieß, zumindest noch einige Grabbeigaben zu erwarten waren. Und bekanntlich sollte es noch besser kommen.

Carter ließ den vermauerten Zugang einreißen und den deckenhohen Schutt dahinter ausräumen. Schließlich hatten seine Arbeiter einen Korridor frei gelegt, der vor einer weiteren zugemauerten Tür endete. Dort spielte sich am 26. November 1922 der wohl berühmteste Dialog in der Geschichte der Archäologie ab: Nachdem Carter die Wand an einer kleinen Stelle mit einer Eisenstange durchstoßen hatte, blickte er durch die schmale Öffnung – und schwieg. Offenbar hatte es ihm angesichts des reichen Grabschatzes die Sprache verschlagen. Ungeduldig fragte Lord Carnarvon: »Können Sie etwas sehen?« Woraufhin Carter antwortete: »Ja, wunderbare Dinge!«

Möglicherweise wäre Carters Enthusiasmus verhaltener ausgefallen, wenn er geahnt hätte, dass ihm die Bergung von fast 5400 Objekten aus vier Felskammern zehn Jahre mühseliger Arbeit und nervenaufreibende Verhandlungen mit den Behörden bescheren würde. Der Archäologe realisierte jedoch schnell, dass er allein mit der Aufgabe überfordert sein würde. Also zog er seinen Freund und Kollegen Arthur Callender (1875–1936) hinzu, den er noch aus seiner Zeit beim Egypt Exploration Fund kannte. Wenig später engagierte er weitere Fachleute, die überwiegend für das Metropolitan Museum in New York arbeiteten.

Stippvisite im Königsgrab

Während Carter durch das Loch in die Vorkammer spähte, waren Lord Carnarvon, seine Tochter und Callender bei ihm. Die Gruppe vergrößerte nun die Öffnung so weit, dass sie in die schmale, acht Meter lange Vorkammer lugen konnte. Entlang der Wand standen Bettgestelle, überhäuft mit Kisten, Hockern und Behältern. Am einen Ende des Raums erblickten die vier Briten zwei lebensgroße dunkle Figuren in goldenen Gewändern. Und zwischen den beiden einen weiteren zugemauerten Durchgang.

Die Gruppe hatte genug gesehen. Sie verfüllte die Öffnung notdürftig und verließ das Grab, um tags darauf die Totenstätte mit einem Beamten der ägyptischen Altertümerverwaltung zu betreten. Die Nacht zuvor hätten die vier indes nur sehr wenig geschlafen, berichtete Carter später. Alle seien aufgeregt gewesen und fragten sich: Was mochte sich hinter dem zugemauerten Durchgang verbergen?

Inzwischen häufen sich die Indizien, dass Carter, Callender, Lord Carnarvon und Lady Evelyn Herbert nicht nur darüber diskutiert haben, welche Schätze wohl noch im Grab schlummerten, sondern sich auch einen konkreten Überblick darüber verschafft haben. Mit anderen Worten: Sie sind trotz gegenteiliger Behauptungen schon in der Nacht vor der ersten offiziellen Begehung in das Grab eingestiegen und haben sich dort gründlich umgesehen.

Mehrere Belege nähren diesen Verdacht. Wie der Ägyptologe Bob Brier von der Long Island University in seinem jüngst erschienenen Buch »Tutankhamun and the Tomb that Changed the World« schildert, vermutete dies bereits 1934 der renommierte Ägyptologe Alan Gardiner (1879–1963) in einem Brief. Carter hatte ihm ein Amulett überreicht, das ein Kollege Gardiners eindeutig dem Grabschatz von Tutanchamun zuweisen konnte, weil es darin identische Stücke gab. Der Entdecker musste das Amulett also unbemerkt entnommen haben.

Vorkammer | Bettgestelle, Truhen und zwei Wächterfiguren füllten den ersten Raum der Grabanlage. An der Wand zeichnet sich dunkel der zugemauerte Durchgang zur Sargkammer ab. Die reich dekorierte Truhe und Schilfreste rechts unten hatte Carter dort platziert. Er wollte die Spuren seines Erstbesuchs kaschieren.

Ähnliches berichtete ein Mitarbeiter von Carter, der Chemiker und Restaurator Alfred Lucas (1867–1945). Im Fachblatt der ägyptischen Altertümerverwaltung, den »Annales du Service des antiquités de l’Égypte« aus den Jahren 1942 und 1947, beschrieb Lucas, dass der Durchgang, den die dunklen Figuren bewachten, ebenfalls durchstoßen und wieder verschlossen worden war. Das erste Mal vor mehr als 3000 Jahren – damals hatten sich Grabräuber Zugang verschafft. Das zweite Mal lag weniger weit zurück, vor heute 100 Jahren hätte Carter selbst Hand angelegt. Lucas hatte sich mit ihm über die verfüllte Öffnung unterhalten: »Als ich sagte, dass es nicht wie ein altes Werk aussah, gab er zu, dass es nicht so war und dass er es getan hatte.«

Ein vergoldeter Schrein füllte die Sargkammer

Der Durchlass führte vom Vorraum in die Sargkammer, die damals fast vollständig von einem großen Schrein aus vergoldetem Holz ausgefüllt war. Womöglich ahnten die beiden Ägyptologen Carter und Callender schon, dass sich darin mehrere ineinandergestellte Schreine und Sarkophage mit der Mumie des Pharao verbargen.

Vermutlich hat Carter in jener Nacht die beiden Flügeltüren des äußersten Sargschreins geöffnet. Die Tür dahinter war mit einem Seil und Tonsiegeln verschlossen. Die Plomben hielten Carter wohl zurück, auch sie zu öffnen. Ob er an den äußeren Türgriffen zuvor Tonsiegel zerbrochen hatte und die verräterischen Überreste verschwinden ließ, ist umstritten. Laut seines Tagebuchs waren sie zwar verriegelt, aber nicht plombiert.

Mit dem Einstieg in die Sargkammer hatten die nächtlichen Besucher auch die so genannte Schatzkammer zu Gesicht bekommen, die vom Sargraum abgeht. Das bestätigte Alfred Lucas, der im Fachblatt der Altertümerbehörde erwähnte, dass »Lord Carnarvon, seine Tochter und Herr Carter natürlich vor der offiziellen Öffnung die Grabkammer und daher auch die Schatzkammer betreten haben, die keine Tür hat«. In den Durchgang zur Schatzkammer ragten damals die Tragestangen eines Kastens, auf dem eine Figur des Unterweltsgottes Anubis in Form eines Schakals thronte. Dahinter stand ein hoher vergoldeter Kasten mit den einbalsamierten Eingeweiden Tutanchamuns.

Am Ende ihres nächtlichen Ausflugs verwischten die vier ihre Spuren. Um das verfüllte Grabräuberloch in der Zwischenwand zu kaschieren, schoben sie vermutlich den Deckel eines Korbs, Schilfreste und eine bemalte Truhe davor. Das lassen Carters Pläne und die Grabungsfotos vermuten. Auf ihnen fällt unter den dicht an dicht gestellten Möbelstücken in der Vorkammer eine Lücke auf. Vielleicht hatte Carter die Truhe von dort hinüber zur Wand gehievt.

Nachlässig dokumentiert

In den zehn Jahren, die es dauerte, die Gruft leerzuräumen, hat Carter minutiös die Lage und das Aussehen aller Grabbeigaben festgehalten – in Zeichnungen, Beschreibungen und Fotografien von Harry Burton. So entstand eine detaillierte Dokumentation des Grabschatzes, die heute das Griffith Institute in Oxford aufbewahrt und online gestellt hat. Die Unterlagen trösten darüber hinweg, dass Carter über drei populärwissenschaftliche Bände hinaus keine wissenschaftlichen Publikationen seiner Entdeckung vorgelegt hat. Aber gerade weil der Ausgräber die Lage der Grabbeigaben derart detailliert aufzeichnete, fällt auf, dass die besagte wiederversiegelte Wand relativ spärlich dokumentiert wurde. Wollte Carter den heimlichen Besuch in der Sargkammer vertuschen?

Schatzkammer | Vom eigentlichen Grabraum führt ein Durchgang in eine Nebenkammer. Dort befanden sich eine Bahre samt Kasten und Schakalfigur sowie dahinter der vergoldete Eingeweideschrein. Das Foto entstand 1922, bald nach der offiziellen Graböffnung.

Dass er mit den anderen zusammen ins Grab eingestiegen war, legt auch ein Brief nahe, den Lady Evelyn später an Carter geschrieben hat. Sie bedankte sich bei ihm, dass er sie »ins Allerheiligste« geführt habe. Damit dürfte sie die Sargkammer gemeint haben. Ein weiteres Indiz für den Vorabbesuch im Grab liefert der Bericht des bereits genannten Chemikers Alfred Lucas. In den »Annales du Service des antiquités de l'Égypte« von 1942 erwähnt er, dass er ein Objekt aus dem Grabschatz – ein kleines Metallgefäß in Form einer Doppelkartusche –, das Carter angeblich im Sarkophag gefunden hat, lange vor der Öffnung des Totenkastens in Carters Haus gesehen habe. Ursprünglich stand es wohl auf dem Boden der Sargkammer, wo es der Grabungsleiter bei seinem Vorabbesuch eingesteckt hatte.

In 80 Tagen um den Sarkophag

Als Carter 1923 die Sargkammer erneut betrat, wusste er, was ihn dort erwartete – dass ihm und seinem Team der Raum noch viel schweißtreibende Arbeit abverlangen sollte, ahnte er aber wohl nicht. Die Holzschreine mussten in Einzelteile zerlegt und zugleich mit Kunstharz stabilisiert werden. 80 Tage werkelten die Männer auf engstem Raum. Am Ende stellte Carter fest: »Immerhin bin ich froh, (…) dass wir uns selbst mehr beschädigt haben als die Schreine.«

So wie der Schrein war fast jedes Objekt aus Holz in einem fragilen Zustand. Das traf auch auf eine lebensgroße Kopfskulptur zu. Sie hätte Carter allerdings fast die Grabungslizenz gekostet. Die Altertümerverwaltung entdeckte sie in einer Weinkiste im Grabungsdepot – und witterte Diebstahl. Im Fundverzeichnis war der Kopf nicht gelistet, auch Burton hatte das Stück nicht fotografiert. Carter erklärte, er habe es aus dem Schutt des Zugangskorridors geklaubt und demnach zu einem Zeitpunkt gefunden, als er Burton noch nicht engagiert hatte. Außerdem versicherte er, dass der Kopf restaurierungsbedürftig sei und deshalb noch nicht katalogisiert wurde.

Wem gehörte der Grabschatz?

Die Holzskulptur war nur eine von vielen Episoden in einem Verteilungskampf, der inzwischen im Tal der Könige entbrannt war: zwischen den französischen Vertretern der Antikenbehörde, die allgemein nicht gut auf die Engländer zu sprechen waren, und ägyptischen Nationalisten, die nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1922 alle Repräsentanten der europäischen Kolonialmächte aus ihren Ämtern verdrängen wollten. Thomas Hoving (1931–2009), langjähriger Chef des New Yorker Metropolitan Museum of Art, hat 1978 aus den Akten seines Hauses den detaillierten Verlauf der Streitigkeiten rekonstruiert. Dabei wies er auch auf Ungereimtheiten in Carters offiziellen Schilderungen hin.

Leinen | Mit Tinte ist auf diesem Tuch der Thronname von Tutanchamun und sein achtes Regierungsjahr verzeichnet, ebenso oben rechts die hohe Qualität des Textils: »gut, gut, gut«. 1907 entdeckten Ausgräber im Tal der Könige Stoffe, Körbe und Gefäße, die bei der Mumifizierung Tutanchamuns verwendet wurden. Weil die Ausgräber damals die Hälfte ihrer Funde behalten durften, gelangte dieses und andere Objekte ins New Yorker Metropolitan Museum.

Aus Sicht des britischen Archäologen betrieb die Altertümerbehörde Schikane. Sie verschärfte die Verteilungsregel, der zufolge den Ausgräbern die Hälfte der Funde zustand: Handelte es sich um ein geschlossenes und ungestörtes Fundensemble, musste es komplett in Ägypten verbleiben. Wegen dieser Klausel pochte Carter immer wieder darauf, dass Grabräuber KV62 geplündert hätten – die neue Regel also unwirksam wäre. Die Altertümerverwaltung setzte sich jedoch durch. Der Grabschatz von Tutanchamun blieb in Ägypten.

Es hatte also offenbar nichts genutzt, dass Carter in einem Leintuch eingewickelte Fingerringe als hastig weggeworfene Beute überraschter Grabräuber präsentierte. Wie die Hildesheimer Ägyptologin Regine Schulz darlegte, kann das Tuch mit den Ringen sehr wohl zu den ursprünglichen Beigaben gehört haben, die in Truhen gefüllt wurden. Hingegen überzeugt die Ansicht des Berliner Ägyptologen Rolf Krauss nicht, Carter habe das gesamte Plünderungsszenario bloß inszeniert. Aus welchem Grund? Schon als er den Zugangskorridor freiräumen ließ, waren die Spuren der Grabräuber zu erkennen gewesen.

Carters Hosentaschensammlung

Heute ist ziemlich sicher, dass der damals frustrierte Carter begann, kleine Objekte aus dem Grab zu entwenden. Vielleicht entsprach das seiner Vorstellung von gerechter Fundverteilung. Thomas Hoving war überzeugt, dass einige Exponate im Metropolitan Museum aus dieser »pocket collection« Carters stammen. 2010 bemühte sich Hovings Nachfolger, die 19 Stücke dem ägyptischen Staat zurückzugeben. Es handelte sich um eher unscheinbare Objekte wie eine vergoldete Bronzerosette, eine kleine Sphinx aus Lapislazuli sowie die Bronzestatuette eines Hündchens.

Es war aber sich nicht nur Carter allein, der heimlich Objekte entwendete. Der Ägyptologe Marc Gabolde von der Université Paul Valéry – Montpellier III entdeckte bei einer Versteigerung 2015 im Londoner Auktionshaus Christie's eine Halskette aus Goldperlen. Nach Ausweis der Fotos von Harry Burton war sie ursprünglich Teil eines breiten Halskragens, der auf der Mumie von Tutanchamun lag. Weitere zugehörige Perlen aus Gold, Karneol und farbigem Glas besitzt das Saint Louis Art Museum in Missouri. Und im Nelson-Atkins Museum of Art in Kansas City befinden sich zwei Verschlüsse dieses Halskragens in Gestalt von Falkenköpfen.

Wie kamen Teile des Brustschmucks aus Tutanchamuns Totenstätte in diese Museen? Es ist bekannt, dass KV62 während des Zweiten Weltkriegs kaum bewacht wurde. Jemand hätte also leicht in dieser Zeit Teile des Mumienschmucks ergattern können. Der einbalsamierte Köper des Pharao, der im Grab aufgebahrt lag, war einst mit einer Harzmasse übergossen worden. Und an der Mumie haftete noch Schmuck, den Carter nicht ablösen konnte.

Carters Schilderungen von wunderbaren Dingen und ihrer Auffindung entsprachen sicher nicht ganz den Tatsachen. Er war mit Callender, Lord Carnarvon und Lady Evelyn unerlaubt ins »Allerheiligste« eingestiegen, hatte damals und wohl auch später Grabbeigaben entwendet. Das schmälert jedoch nicht die besondere Bedeutung dieses einzigartigen Funds im Tal der Könige. Bis heute sind Fachleute damit beschäftigt, die Objekte aus dem Grab zu untersuchen, zu bestimmen und zu restaurieren. Die Pharaonengruft des Tutanchamun ist und bleibt eine Jahrhundertentdeckung.

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