Sonnensystem: Überraschung im Kuipergürtel

Vor fast 20 Jahren startete die Weltraummission New Horizons zum Planeten Pluto – das war damals noch sein Status. Bei ihrem Vorbeiflug nach neunjähriger Reise erreichte sie den Zwergplaneten Pluto, weil der Körper im Jahr 2006 dieser neuen Objektklasse zugeordnet wurde. Die Mission war lediglich ein Flugmanöver mit einmaligem Kontakt zu Pluto und seinen Monden, die uns die besten Aufnahmen von Pluto bescherte, die wir heute haben. Danach flog New Horizons weiter in die Tiefen des Sonnensystems. Inzwischen befindet sie sich in einer Entfernung von rund 8,3 Milliarden Kilometern – etwa 55 Astronomischen Einheiten (AE) – zur Sonne und wird unser Sonnensystem verlassen. Die in dieser bisher wenig erforschten Region gemessenen, unerwartet hohen Staubdichten zeigen, dass sich der Kuipergürtel wesentlich weiter nach außen erstrecken könnte als gedacht.
Außerhalb der Umlaufbahn des Planeten Neptun um die Sonne erstreckt sich der Kuipergürtel in einer Entfernung von etwa 30 bis 50 AE. In dieser flachen ringförmigen Struktur werden mindestens 70 000 Kleinkörper mit mehr als 100 Kilometer Durchmesser sowie ein Vielfaches davon an kleineren Objekten vermutet. Die größten Himmelskörper in dieser Region erreichen etwa die Größe des Zwergplaneten Pluto mit einem Durchmesser von 2374 Kilometern. Trotz der riesigen Zahl der dort vermuteten Himmelskörper wird die Gesamtmasse des Kuipergürtels nur auf etwa ein Fünfzigstel der Erdmasse geschätzt – das ist weniger als die doppelte Masse unseres Mondes.
Aus dem Kuipergürtel stammt vermutlich die Mehrzahl der im inneren Sonnensystem beobachteten Kometen. Der Zwergplanet Pluto als eines der größten Objekte in dieser Region wurde als erster im Jahr 1930 entdeckt. Obwohl die Existenz eines Gürtels aus Kleinkörpern außerhalb der Neptunbahn bereits einige Jahre später vorhergesagt wurde, hatte man erst ab dem Jahr 1992 weitere Himmelskörper dort aufgespürt. Mittlerweile sind mehr als 5000 dieser auch als transneptunische Objekte (TNOs) bezeichneten Körper bekannt.
Relikt aus der Jugend des Sonnensystems
Der Kuipergürtel ist, soweit wir wissen, ein Überrest aus der Entstehungsphase des Sonnensystems. Höchstwahrscheinlich enthielt er ursprünglich wesentlich mehr Objekte als heute. Computersimulationen zeigen, dass durch Veränderungen der räumlichen Lage der Bahnen der Riesenplaneten, insbesondere des benachbarten Neptuns, die Umlaufbahnen der meisten Objekte im Gürtel so stark verändert wurden, dass diese entweder aus dem Schwerefeld der Sonne herausgeschleudert wurden und das Sonnensystem verließen oder in die Sonne stürzten. Die Bahnen der heute noch vorhandenen Objekte werden weiterhin durch die Schwerkraft Neptuns beeinflusst, wobei Bahnresonanzen eine wichtige Rolle spielen. Diese können stabilisierend oder destabilisierend auf die Orbits von Himmelskörpern wirken.
So gibt es beispielsweise Objekte, deren Umlaufzeiten in einem ganzzahligen Verhältnis von 3:2 zur Umlaufdauer von Neptun stehen. Das bedeutet, wenn eines dieser Objekte, zu denen auch Pluto gehört, die Sonne zweimal umkreist, vollendet Neptun drei Umläufe. Dies führt zu einer Stabilisierung der Umlaufbahnen im Bereich der Plutobahn durch die Schwerkraft Neptuns, weshalb dort besonders viele Objekte vorkommen. Sie werden daher als Plutinos bezeichnet. Derartige Resonanzen gibt es auch im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter, auch Hauptgürtel genannt, wo sie eine wichtige Rolle für die räumliche Verteilung der Objekte und die Struktur dieses Ringes aus Kleinkörpern spielen.
In einer Sonnenentfernung von 47,8 AE befindet sich eine 1:2-Resonanz, das heißt, ein Planet oder Kleinkörper, der die Sonne in dieser mittleren Entfernung umlaufen würde, würde genau einen Umlauf um die Sonne vollenden, während Neptun zwei Umläufe ausführt. Dies bewirkt, dass die Bahn des hypothetischen Körpers periodisch von Neptuns Schwerkraft gestört wird. Deshalb ist seine Umlaufbahn nicht stabil, und er wird schließlich aus seiner Bahn geworfen. Diese Region muss man sich als Torus, also als einen schlauchförmigen Ring, vorstellen, aus dem die Kuipergürtelobjekte hinausbefördert wurden. Ihre Bahnen können gegenüber der Umlaufebene von Neptun geneigt gewesen sein; wichtig ist das zeitliche Verhältnis von 1:2.
Gibt es eine scharfe äußere Grenze?
Interessanterweise deuten die Beobachtungen darauf hin, dass diese 1:2-Resonanz eine äußere Grenze für den Kuipergürtel darstellt, die auch als Kuiper-Klippe bezeichnet wird. Weiter draußen wurden bisher nur wenige Objekte gefunden. Nach dem momentanen Kenntnisstand lassen sich Beobachtungslimitierungen als Ursache für die Kuiper-Klippe wahrscheinlich ausschließen. Es ist aber durchaus möglich, dass sie eine größere Lücke darstellt und noch weiter draußen wieder mehr Objekte vorhanden sind.
Informationen über die großräumige Struktur des Kuipergürtels liefern neuerdings Messungen ganz anderer Art. Die Raumsonde New Horizons, die nach dem Zwergplaneten Pluto im Jahr 2015 (siehe SuW 9/2015, S. 26) auch Anfang 2019 an dem nur etwa 30 Kilometer großen Kuipergürtelobjekt Arrokoth vorbeiflog (siehe SuW 3/2019, S. 28), ist mit Sensoren für kosmische Staubteilchen ausgestattet (siehe »Flugbahn von New Horizons«). Diese befinden sich auf der Außenseite der Raumsonde und messen einzelne auftreffende Staubpartikel. Aus den von der Instrumentenelektronik registrierten Ladungssignalen lässt sich auf die Größe der Teilchen rückschließen. Die Nachweisgrenze hängt von der Geschwindigkeit der auftreffenden Partikel ab. Für interplanetare Teilchen, die sich auf gebundenen Bahnen um die Sonne bewegen, liegt sie bei der Flugbahn von New Horizons und einem heliozentrischen Abstand von etwa 50 AE bei etwa 0,6 Mikrometern. Das heißt, der Detektor registriert Partikel größer als etwa ein Fünfzigstel des Durchmessers eines menschlichen Haars. Der Staubsensor, auch als Student Dust Counter (SDC) bezeichnet, wurde an der University of Colorado (USA) wesentlich von Studenten realisiert und wird seit dem Start der Sonde im Jahr 2006 von aufeinander folgenden Jahrgängen betrieben.
Die mit dem SDC gemessenen Staubflüsse zeigen einen unerwarteten Verlauf: Anstatt jenseits von etwa 40 AE langsam abzufallen, steigen sie bis zum Ende des momentan vorhandenen Datensatzes bei 55 AE kontinuierlich an (siehe »Messungen des Staubflusses«). Dieser Verlauf lässt sich nicht mit den Verteilungen der bekannten Objekte im Kuipergürtel und den daraus abgeleiteten Staubdichten erklären.
Für die Interpretation der mit dem SDC gewonnenen Staubdaten geht man davon aus, dass die gemessenen Partikel von den im Kuipergürtel vorhandenen Kleinkörpern stammen. Die Oberflächen dieser nicht durch eine schützende Gasatmosphäre umgebenen Himmelskörper werden von Mikrometeoriten bombardiert, die aus dem umgebenden interplanetaren Raum stammen. Die Projektile werden überwiegend bei Kollisionen von Kuipergürtelobjekten oder durch Mikrometeoriteneinschläge freigesetzt. Diese Einschläge schlagen kleinste Bruchstücke aus den Oberflächen der getroffenen Himmelskörper heraus. Ausreichend schnelle Auswurfpartikel können das Schwerefeld ihres Ursprungskörpers verlassen und in den umgebenden Weltraum entweichen, der Rest fällt auf die Oberfläche zurück. Diesen Prozess haben wir an den Galileischen Monden bei Jupiter erstmals im Weltraum untersucht, und er wurde am Erdmond sowie mit Laborexperimenten bestätigt.
Die Geschwindigkeiten, mit denen die Teilchen das Schwerefeld ihres Ursprungskörpers verlassen, sind gering gegenüber der Umlaufgeschwindigkeit um die Sonne. Sie bewegen sich daher in guter Näherung auf kreisförmigen Umlaufbahnen und bilden einen Staubring hauptsächlich in der Region, in der sich die Ursprungsobjekte bewegen. Zusätzlich unterliegen die Teilchen dem Strahlungsdruck der Sonne, der sie je nach Größe auf Spiralbahnen in Richtung Sonne wandern lässt oder nach außen von der Sonne wegdrückt.
Verwendet man die Verteilungen der bekannten und vermuteten Kuipergürtelobjekte innerhalb von etwa 50 AE, sagt dieses Modell ein Maximum des Staubflusses im Bereich des bekannten Kuipergürtels voraus. Die vom SDC gemessenen Staubflüsse steigen jedoch bei größeren Entfernungen weiter an. Die naheliegendste Erklärung hierfür ist, dass sich der Kuipergürtel über die Grenze bei etwa 50 AE hinaus erstreckt und dort viele bisher unbekannte Objekte existieren, die für einen ausgedehnteren Staubring sorgen.
Es bleibt abzuwarten, was die weiteren Staubmessungen mit New Horizons in den nächsten Jahren zeigen werden. Momentan ist der Betrieb der Raumsonde seitens der NASA noch bis zum Jahr 2029 geplant. Möglicherweise liefern auch wesentlich empfindlichere Teleskope wie das James Webb Space Telescope (JWST) oder das Vera C. Rubin Observatory, das im Jahr 2026 in Chile in Betrieb gehen soll, neue Erkenntnisse über die Ausdehnung des Kuipergürtels.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.