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Ultramarathon: Sind wir noch zum langen Laufen geboren?

Früher legten Menschen oft hunderte Kilometer zu Fuß zurück. Manche Völker tun das heute noch. Aber sind solche Strecken überhaupt noch gesund? Eine Reise durch die Geschichte des Laufens.
Eine Athletin und ein Athlet, die während eines Ultramarathons durch einen Waldweg laufen.
Als Ultramarathon werden Laufstrecken bezeichnet, die länger als die Marathondistanz von 42,195 Kilometer sind. Bei der »TorTour de Ruhr« können Läuferinnen und Läufer zwischen Distanzen von 100, 160,9 oder 230 Kilometern wählen (Symbolbild).

Nervös bläht das große, schwarze Pferd die Nüstern auf und wiehert. Den Anschluss zu seiner Herde hat es verloren. Dafür ist ihm ein junger Mann dicht auf den Fersen. Wieder und wieder schneidet er dem Rappen den Weg ab. Die Sonne steht fast senkrecht, es ist heiß. Das schwarze Fell schäumt vor Schweiß, die Wasserstelle ist in Sichtweite, doch der Jäger lässt das Pferd nicht trinken. Er hält seine Beute in Bewegung. Nur so hat er eine Chance. Denn über kurze Strecken ist das Pferd viel schneller. Aber der Mensch ist ausdauernder. Auf seiner nackten Haut verdunstet der Schweiß besser. Zudem hat er, im Verhältnis zu seiner Masse, eine größere Körperoberfläche als das Pferd. Nach ein paar Stunden bricht das große Tier erschöpft zusammen. Der Jäger erlegt es problemlos.

So oder ähnlich könnte eine Hetzjagd vor rund 100 000 Jahren abgelaufen sein. Im östlichen Mittelmeerraum fühlten sich nicht nur die Neandertaler, sondern auch frühe Vertreter des Homo sapiens wohl. Anhand von Computermodellen, die es auf Basis entsprechender Knochenfunde erstellt hatte, kam ein Team um die Anthropologen Martin Hora und Herman Pontzer von der US-amerikanischen Duke University zu dem Schluss: Sowohl der Neandertaler als auch Homo sapiens waren in der Lage, ein Wildpferd zu Tode zu rennen.

Ihr Körperbau machte sie zu perfekten Ausdauerläufern: schmale Schultern, lange Beine, kurze Zehen, große Gelenkoberflächen und eine im Vergleich zu anderen Primaten sehr lange Achillessehne. Bis heute ist sie die dickste und stärkste Sehne des menschlichen Körpers und funktioniert wie eine Art Sprungfeder. Sie befähigte wohl schon Homo erectus, der vor etwa zwei Millionen Jahren lebte, zum Laufen.

Geboren, um zu laufen?

Könnte auch der heutige Mensch noch ein Tier zu Tode rennen – oder sind wir dafür nicht mehr fit genug? »Das steckt in unserer DNA. Nach Millionen von Jahren, über die wir uns als aktive Jäger und Sammler weiterentwickelt haben, haben wir im Grunde noch dieselben Körper«, sagt Herman Pontzer. Unser Gehirn sei zwar etwas größer, alles andere aber weitgehend gleich geblieben. »Es gibt keinen Grund, warum wir nicht immer noch gute Läufer sein sollten.«

Die Kua, eine indigene Ethnie, die in der Trockensavanne Kalahari in Botswana lebt, betreibt noch traditionell Hetzjagd. So auch die Tarahumara im Norden Mexikos. Der Stamm bezeichnet sich in seiner Muttersprache als Rarámuri, was so viel heißt wie: »Läufer« oder »jene, die schnell laufen«. Ohne Probleme bewältigen sie Hunderte von Kilometern, barfuß oder höchstens in Sandalen.

Sind früher alle Menschen so viel gelaufen? »Es gibt nicht ›die eine‹ Vergangenheit«, sagt Herman Pontzer. »Wenn Sie mich fragen: War es so? Wird die Antwort immer lauten: Ja, für einige Gruppen war es so. Und für andere war es anders.« Der Anthropologe beschäftigt sich viel mit Menschen, die noch relativ ursprünglich in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften leben. Die Hadza, die im Norden von Tansania leben, hat er ganz genau unter die Lupe genommen und zum Teil überraschende Erkenntnisse gewonnen: Sie rennen kaum. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich wenig bewegen. Die Hadza sind körperlich sehr aktiv. Im Gehen legen die Frauen täglich etwa neun, die Männer rund zwölf Kilometer pro Tag zurück. Ihre Beute erlegen sie meist mit Pfeil und Bogen.

Laut Herman Pontzer ist die Evidenz dafür, dass unsere Vorfahren Tiere aus relativ kurzen Distanzen mit scharfkantigen Gegenständen wie einem Speer bewarfen, mindestens ebenso gut wie jene, die besagt, dass wir sie zu Tode rannten. »Wahrscheinlich haben sie beides gemacht.« Im Hinblick auf die organischen Voraussetzungen sei der Unterschied auch nicht wirklich bedeutend. Wer gerne Olympia schaut, weiß: Speerwerfen ist ebenfalls anstrengend. »Man braucht ein Herz, das aerobe Aktivitäten ausführen kann, und eine Lunge, die den Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt.« Anders als manch andere Fachleute vertritt er die Ansicht: »Es geht nicht nur ums Laufen.« Studien von ihm und Kolleginnen und Kollegen zeigen: Auch im Gehen lässt sich erfolgreich jagen.

»Wir haben unsere eigenen Zoos gebaut«Herman Pontzer, Anthropologe

Hauptsache viel Bewegung

Waren unsere Vorfahren also eher Walker als Läufer? »Sie haben wahrscheinlich getan, was immer notwendig war«, sagt Herman Pontzer. Im Wald oder in den Bergen ein Tier zu Tode zu rennen, ist schwierig. Doch der Mensch ist sehr anpassungsfähig. Der Anthropologe ist sich sicher, dass einige Populationen gerannt sind. »Aber es gibt auch viele Gruppen, die überhaupt nicht rennen, wie die Hadza.« Was alle gemein haben: Sie bewegen sich viel. »Und das ist es, was wir brauchen.«

Der menschliche Körper ist auf Bewegung ausgelegt. Bekommen wir sie nicht, werden wir krank. Menschen in Industrieländern verbringen den Großteil des Tages im Sitzen. Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck nehmen drastisch zu. Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften wie die Hadza hingegen bleiben weitgehend davon verschont.

Laufen als Tradition | Die Tarahumara sind eine indigene Ethnie, die im Norden Mexikos lebt. Sie sind für ihre Langstreckenläufe durch Wüsten, Schluchten und Berge bekannt – meist barfuß oder in Sandalen (»huaraches«). Sie werden auch Rarámuri genannt (»Läufer« oder »jene, die schnell laufen«).

Eigentlich sollte uns Bewegung ein Bedürfnis sein, ähnlich wie Essen, Trinken und Schlafen. Laut Herman Pontzer verspüren wir das auch. Zwar nicht jeder und jede im selben Maß. »Aber ich denke, dass alle Menschen manchmal das Gefühl haben: Ich muss meine Beine strecken. Oder: Es tut gut, einen Spaziergang zu machen.« Das Problem: Es gibt heute keinen offensichtlichen Grund mehr, kilometerweit zu rennen oder zu gehen. Der nächste Supermarkt ist meist um die Ecke. Wenn wir nicht wollen, müssen wir auch nicht jagen, kochen oder andere körperlich anstrengende Dinge tun. Ein Klick genügt, und die Pizza wird fertig nach Hause geliefert. »Wir haben unsere eigenen Zoos gebaut«, wie Herman Pontzer es ausdrückt.

Ein Beispiel dafür, dass Menschen nicht nur laufen, wenn es lebensnotwendig ist, sind die Tarahumara in Mexiko. Das Laufen macht einen großen Teil ihrer Kultur aus. Mittlerweile ernähren sie sich jedoch hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht. Die Hetzjagd ist für sie heutzutage mehr ein Volkssport. Sie unternehmen mehrfach im Jahr, meist im Rahmen traditioneller Feste, 24-Stunden-Läufe, bei denen sie einen kleinen Ball vor sich hertreiben. Dies soll den Lauf von Erde und Sonne symbolisieren.

»Ich sehe darin eine Art Gegenbewegung zum Dauersitzen«Daniel Bizjak, Biochemiker

Auch in Industrienationen ist Laufen ein beliebtes Hobby: Einer Umfrage zufolge tun es mehr als 20 Millionen Deutsche zumindest ab und zu – also rund ein Viertel der Bevölkerung. Manche können davon scheinbar gar nicht genug bekommen. Selbst die Marathondistanz von 42,195 Kilometern ist ihnen zu kurz. Die Bezeichnung »Ultramarathon« umfasst alle Distanzen, die länger als ein Marathon sind. Während es in Nordamerika bis vor etwa zehn Jahren noch weniger als 1000 solcher Rennen im Jahr gab, waren es 2019 mehr als 2400. Knapp 130 000 Menschen erreichten die Ziellinie, darunter etwa zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. Tendenziell nehmen immer mehr Frauen eine solche lange Laufdistanz auf sich. Sie sind im Schnitt zwar langsamer als die männlichen Teilnehmer, doch je länger die Strecke ist, desto geringer fällt der Leistungsunterschied aus. In Deutschland ist der Ultramarathontrend ebenfalls angekommen: 2008 fanden weniger als 100 Ultrarennen statt, 2019 waren schon fast 350. Bedingt durch die Coronapandemie war in den vergangenen beiden Jahren zwar ein Knick zu verzeichnen, doch es sieht so aus, als stiege die Zahl der Ultraläufe weiter an.

Nicht alle Ultraläufer sind ultrafit

»Ich sehe darin eine Art Gegenbewegung zum Dauersitzen«, sagt Daniel Bizjak. Quasi der Ausbruch aus dem Zoo. Der Biochemiker forscht am Universitätsklinikum Ulm zu Ultraläuferinnen und -läufern. Michael Kraus aus der Nähe von Kulmbach in Bayern ist einer. Auf dem Lauftacho des gelernten Krankenpflegers stehen mittlerweile knapp 80 000 Kilometer. Auf fünf Kontinenten hat er bereits einen oder mehrere extreme Läufe bewältigt. Insgesamt kommt er bislang auf 70 Marathons und 75 Ultramarathons. Die längste Strecke, die er je gelaufen ist, war 246 Kilometer lang.

Kein Problem für die Tarahumara in Mexiko. Aber könnten wir alle zu Ultraläufern werden – wenn sich unser Körper doch über die Zeit kaum verändert hat? »Prinzipiell ja«, sagt Daniel Bizjak. Eine gewisse Fitness müsse man natürlich mitbringen und sich vorbereiten. »Wer die Marathondistanz knacken will, sollte schon dauerhaft 30 bis 50 Kilometer pro Woche laufen.« Im Wettkampf gilt es dann, entsprechend langsam zu laufen und genügend Pausen einzulegen. Wer das beachte, komme in der Regel gut ins Ziel. »Es sind definitiv nicht alle ultrafit«, erklärt Daniel Bizjak. Nicht jeder Ultraläufer sieht durchtrainiert oder gar ausgemergelt aus, manche haben sogar leichtes Übergewicht. »Die sind zwar tendenziell etwas langsamer, halten aber super durch. Wenn ich bei den Studien eines gelernt habe, dann das: Man darf Ultras nie unterschätzen«, sagt der Forscher und lächelt.

»Bei einem 100-Kilometer-Lauf rennt man die ersten 20 Kilometer mit den Beinen und die restlichen 80 mit dem Kopf«Michael Kraus, Ultramarathonläufer

Was ist der limitierende Faktor, der einen Menschen zum Ultraläufer macht? Das Herz-Kreislauf-System sei bei der eher moderaten Geschwindigkeit selten das Problem. Der eigentliche Engpass: mentale Stärke. »Egal, wie gut man ist: Wenn der Kopf nicht mitspielt, kann man es vergessen«, sagt Daniel Bizjak. Das kann Ultraläufer Michael Kraus bestätigen: »Bei einem 100-Kilometer-Lauf rennt man die ersten 20 Kilometer mit den Beinen und die restlichen 80 mit dem Kopf.« Dabei hilft einem auch die vermeintliche Konkurrenz: Denn unter den Ultraläufern und -läuferinnen gibt es einen starken Zusammenhalt. Wenn jemand ein Problem hat, wird durchaus auch mal das eigene Rennen unterbrochen. Die Teilnehmenden motivieren sich gegenseitig, um es bis ins Ziel zu schaffen.

Ausschließlich Kopfsache ist es allerdings nicht. »Ein Ultramarathon bedeutet erheblichen orthopädischen Stress«, sagt Daniel Bizjak. Größere Probleme mit dem Bewegungsapparat wie Fehlstellungen oder Gelenkschäden sollte man also nicht haben. Sie können sich verschlimmern. Starkes Übergewicht stellt eine Zusatzbelastung dar. »Klassische Läuferprobleme treten mit zunehmendem Umfang, etwa ab 60 Laufkilometern pro Woche, häufiger auf«, sagt Orthopäde Stefan Sesselmann. Er beschäftigt sich an der OTH Amberg-Weiden mit Biomechanik und Bewegungsanalyse und hat schon viele Ultraläuferinnen und -läufer beraten. Sie haben häufig Schmerzen in der Achillessehne oder dem Tractus iliotibialis, einem Sehnenstrang, der außen am Oberschenkel entlangführt. Man spricht dabei auch vom Läuferknie. Reizungen der Muskelursprünge an der Knochenhaut oder Ermüdungsbrüche können ebenfalls vorkommen. Studien zufolge haben bei Ultraläufen 50 bis 60 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Probleme mit Muskeln oder Knochen.

Mit zunehmender Streckenlänge gerät auch der Verdauungstrakt an seine Grenzen. Fast alle Marathon- und Ultraläuferinnen und -läufer hatten schon mit Magen-Darm-Beschwerden zu kämpfen. In einer Umfrage von Personen, die 161 Kilometer absolvierten, waren Übelkeit oder Erbrechen die häufigsten Gründe für den Abbruch des Rennens.

Warum tut man sich so etwas überhaupt an? »Ich will meine physischen und psychischen Grenzen ausloten, bin immer auf der Suche nach Neuem und Unbekanntem«, sagt Michael Kraus. Dennoch sei das Laufen für ihn kein rastloses Gehetze, sondern: »Körper und Geist in Einklang bringen mit der Natur«. Daraus ergebe sich ein »sehr harmonisches Laufgefühl«.

Laufen am Limit

Dauerhaft im »Runner's High« sind die meisten trotzdem nicht. »Bei einer solch extremen Belastung tut fast jedem irgendetwas weh«, sagt Daniel Bizjak. Manche merken es nicht mehr, weil Hormone ausgeschüttet werden, die die Schmerzen dämpfen. Er selbst läuft zwar leidenschaftlich gern Marathon, an die Ultradistanz wagt er sich jedoch nicht. »Das machen meine Knochen nicht mit.« Er hat aber schon Ultraläuferinnen und -läufer mit dem Fahrrad begleitet, etwa bei der TorTour de Ruhr. Dieser Ultralauf startet jedes Jahr an der Ruhrquelle bei Winterberg und führt quer durchs Ruhrgebiet. Mögliche Streckenlängen: 230, 160,9 (= 100 Meilen) oder 100 Kilometer. Letzterer wird von den Veranstaltern wohlgemerkt als »Bambinilauf« bezeichnet. Einem Läufer, den er auf der TorTour de Ruhr begleitet hat, habe es auf den letzten 30 von 230 Kilometern »den Stecker gezogen«, wie Daniel Bizjak es ausdrückt. »Der war total fertig, wollte auch nix mehr essen und trinken.« Er habe sich noch ins Ziel geschleppt, dafür aber rund sechs Stunden gebraucht. »Dabei war er eigentlich total fit. Ich habe mich gefragt: Warum hat er so abgebaut?« Bei der nächsten TorTour führte er gemeinsam mit Kollegen eine Studie durch, die das klären sollte.

Die Probandenzahl war recht überschaubar: Von den 28 Ultras (7 Frauen, 21 Männer), die entweder 161 oder 230 Kilometer laufen wollten, schafften es nur zwölf ins Ziel. Die Ernährungsprotokolle zeigen: Die Läufer und Läuferinnen nahmen unterwegs nicht nur Energieriegel und -gels zu sich, sondern »von Obst, Nüssen, Eis, Kuchen über Mettwurst bis Pizza war alles dabei«. Manche haben sogar Bier getrunken. »Trinken geht bei vielen besser als essen«, berichtet Daniel Bizjak. Die meisten greifen daher auch zu kalorienreichen Energydrinks. »Erlaubt ist alles, was man gut verträgt«, sagt er. Messungen mit kontinuierlichen Glukosesensoren zeigen: Der Blutzuckerspiegel schnellt kaum in die Höhe. Der Zucker, den die Läufer zu sich nehmen, geht sofort in die Zellen. Doch egal, was sie essen: Sie haben ein Energiedefizit.

Die 161-Kilometer-Läuferinnen und -läufer waren etwa 6000 Kilokalorien im Minus. Jenen, die 230 Kilometer gelaufen waren, fehlten etwa 9000 Kilokalorien. Das berechnete Daniel Bizjaks Team mit Hilfe einer speziellen Software, die die Ernährungsprotokolle der Läuferinnen und Läufer sowie die Daten ihrer Fitnessuhren auswertete. Außerdem stellten sich die Teilnehmenden vor und nach dem Lauf auf eine Waage, die ihre Körperzusammensetzung bestimmte. Dabei kam heraus: Sie verloren an Muskelmasse und Fett. Das bestätigt die Beobachtungen anderer Forscher und Forscherinnen. »Die katabolen Mechanismen sind bei einem Lauf über 24 Stunden nicht vollständig aufhaltbar«, resümiert Daniel Bizjak. Der Körper baut gewissermaßen selbst ab. Obwohl die Popularität von Ultramarathons zunimmt und viele (hochpreisige) Produkte auf dem Markt sind, gibt es bisher keine Lösung für dieses Problem.

»Auf einen Ultramarathon zu trainieren ist gesund, der Wettkampf selbst nicht«Daniel Bizjak, Biochemiker

Die Studien zeigen außerdem: Der Hormonhaushalt der Läuferinnen und Läufer gerät aus dem Gleichgewicht. Stresshormone wie Kortisol steigen an. Sie machen den Körper leistungsfähiger und dämpfen den Schmerz. Andere Botenstoffe, die beispielsweise für die Regulation von Hunger und Sättigung zuständig sind, werden gedrosselt. Männliche Ultraläufer, die dauerhaft extrem viel trainieren, haben häufig einen niedrigen Testosteronspiegel, bei Frauen kann die Periode ausbleiben. »Wenn Sie Ihren Körper so sehr strapazieren, dass Sie nicht mehr in der Lage sind, sich fortzupflanzen, kann ich Ihnen versprechen: Unsere Vorfahren hätten das nicht getan«, kommentiert Herman Pontzer. »Denn eines weiß ich ganz sicher: Unsere Vorfahren haben sich fortgepflanzt«, sagt er lächelnd.

Obwohl sich der Hormonhaushalt nach einer Belastung meist relativ schnell erholt, sei es wichtig, seinem Körper zwischen den Läufen genügend Zeit zum Regenerieren zu geben, sagt Daniel Bizjak. Die Tarahumara rennen schließlich auch nicht jeden Tag hunderte Kilometer. Nach einem Wettkampf gilt es erst einmal, den Trainingsumfang deutlich zu reduzieren. Sein Fazit lautet: »Auf einen Ultramarathon zu trainieren ist gesund, der Wettkampf selbst nicht.« Er habe aber auch noch keinen Ultraläufer getroffen, der das Gegenteil behauptet hätte.

Das richtige Maß finden

Wie viel Laufen – oder Gehen – ist denn noch gesund? Das könne man nicht pauschal beantworten, sagt Herman Pontzer. »Wir wollen am liebsten eine einfache Geschichte: Das müssen Sie tun, dies sollten Sie essen, so funktioniert der ideale Lebensstil. Es tut mir leid, aber das ist Blödsinn.«

Was ist dann mit oft gehörten Empfehlungen wie: 10 000 Schritte pro Tag? Diese Zahl stammt ursprünglich aus einer Werbekampagne, wurde jedoch durch Studien untermauert – zumindest für Menschen, die jünger als 60 sind. Epidemiologische Daten zeigen durchaus einen Zusammenhang zwischen Sterberisiko und Schrittzahl. »In einer Population, die sich wenig bewegt, ist die Sterblichkeit hoch. Je aktiver die Leute sind, desto länger und gesünder leben sie«, erklärt Herman Pontzer. Es müssen aber nicht genau 10 000 Schritte oder die Minutenanzahl sein, die die WHO empfiehlt: »Es gibt ein breites Plateau, auf dem die Sterblichkeit für alle niedrig ist.« Wertet man die Daten von heutigen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, körperlich arbeitenden Personen oder auch Ultramarathonläuferinnen und -läufern aus, lägen vermutlich alle in diesem Bereich.

Am Ende muss jeder für sich selbst herausfinden, wie viel Bewegung und welche Art davon sich für ihn richtig und gut anfühlt. In jedem Fall sollte man sich nicht zu Tode rennen.

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