Direkt zum Inhalt

Transgender-Medizin: Wie sollte Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen behandelt werden?

Die neue Leitlinie zur Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie sorgt unter Kinder- und Jugendpsychiatern für Streit. Dabei sind sich in den wichtigsten Fragen eigentlich beide Seiten einig.
Ein Stethoskop mit roten Schläuchen hängt um den Hals einer Person in einem weißen Kittel. An der Brusttasche des Kittels ist ein herzförmiger Anstecker mit den Farben Blau, Rosa und Weiß befestigt, der die Transgender-Flagge darstellt.
Welche Behandlungsoptionen sollen Ärztinnen und Ärzte minderjährigen transgender Personen anbieten? Eine 2025 veröffentlichte S2k-Leitlinie gibt Empfehlungen – und erntet von einer Gruppe von Kinder- und Jugendpsychiatern Kritik.

Manchen ist schon im Kindes- und Jugendalter klar: Das Geschlecht, mit dem sie sich identifizieren, passt nicht zu ihren Genitalien – und auch nicht zu dem, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Für einen Teil der jungen Betroffenen geht das mit einem enormen Leidensdruck einher. Es graut ihnen vor den körperlichen Veränderungen, die in der Pubertät eintreten, weil sie diese noch weiter von ihrer ersehnten Körperform entfernen.

Pubertätsblocker können den betroffenen Kindern und Jugendlichen Zeit zum Abwägen ihrer Optionen verschaffen. Später ist es mit Hilfe von Hormonen und Operationen möglich, ihren Körper an ihre Geschlechtsidentität anzugleichen. Doch sollten derartige zum Teil unumkehrbare Eingriffe schon Minderjährigen zur Wahl stehen? Und wie können behandelnde Ärztinnen und Ärzte sicher sein, dass die Betroffenen ihre Entscheidung in 10, 20 oder 30 Jahren nicht bereuen? Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist unter den deutschsprachigen Kinder- und Jugendpsychiatern ein heftiger Streit ausgebrochen.

Weltweit aufwändigste Leitlinie für Geschlechtsdysphorie

Über die vergangenen sieben Jahre hinweg haben 26 Fachgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Leitlinie zu genau dieser Problematik erarbeitet. Das im März 2025 veröffentlichte Papier umfasst mehrere hundert Seiten. Es gibt Behandlern und Behandlerinnen Empfehlungen, wie sie Heranwachsende mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie (siehe Glossar) diagnostizieren und therapieren sollten. Zwei Selbstvertretungsorganisationen von transgender Menschen haben ebenfalls daran mitgewirkt.

  • Glossar
    Person mit transgender Flagge

    Geschlechtsidentität/Gender: Persönliches Empfinden, zu welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt – Frau, Mann oder keinem von beiden.

    Transgeschlechtlich/transgender/transident: Wenn die Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde.

    Cisgeschlechtlich/cisgender/cisident: Wenn die Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde.

    Geschlechtsmerkmale: Man unterscheidet zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Primäre sind jene, die zur Fortpflanzung nötig sind, also die Geschlechtsorgane. Sekundäre bilden sich hingegen erst mit der Pubertät aus und lassen den Körper einer Person stärker weiblich oder männlich wirken.

    Geschlechtsinkongruenz: Das Verlangen, einem anderen als dem zugewiesenen Geschlecht anzugehören. Dieses Verlangen kann mit der Zeit abnehmen oder sich verstärken.

    Geschlechtsdysphorie: Ein mit Leidensdruck einhergehender Zustand, der sich aus der Geschlechtsinkongruenz ergeben kann. Das Leid geht der Diagnosestellung sowie der Ergreifung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen voraus.

    Geschlechtsangleichende Maßnahmen: Behandlungen, die den Körper der Patientin oder des Patienten zur Geschlechtsidentität hin verändern. Dazu zählen Hormonbehandlungen, plastische chirurgische Eingriffe bis hin zu Operationen an den Geschlechtsorganen, etwa zur Formung einer Neovagina oder eines Penoids.

    Pubertätsblocker: Wirkstoffe, die in der Jugend die Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen anhalten.

    Transition: Der Prozess, in dem eine transgeschlechtliche Person ihr öffentliches Auftreten an ihre Geschlechtsidentität anpasst. Eine Transition kann, aber muss nicht, mit körpermodifizierenden Maßnahmen einhergehen.

    Detransition: Die Rückkehr zum Leben mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht nach einer vorhergegangenen Transition.

Dabei handelt es sich um eine S2k-Leitlinie. Die Auswertung beruht dementsprechend auf dem »strukturierten Konsens« von Fachleuten, den sie auf Basis der verfügbaren Evidenz erarbeiten. Das entspricht der qualitativ zweithöchsten Kategorie solcher Dokumente. Noch besser wäre nur eine evidenzbasierte S3-Leitlinie – eine solche gab die Studienlage in dem Fall aber nicht her.

Die Leitlinie spricht den Betroffenen ein hohes Maß an Selbstbestimmung zu. Die Wünsche der Heranwachsenden sollen demnach bei der Wahl der Behandlung stark miteinbezogen werden. Körpermodifizierende Maßnahmen wie die Gabe von Pubertätsblockern und Hormonen empfiehlt die Kommission nur im Einzelfall »unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung«. Bevor diese zum Einsatz kommen, müssen die Betroffenen ausführlich über die Eingriffe und mögliche Folgen aufgeklärt werden. Zudem muss eine »umfassende psychiatrisch-psychotherapeutische Abklärung« der Patientinnen und Patienten stattfinden.

»Einige der Empfehlungen gehen über den derzeitigen Stand der soliden wissenschaftlichen Evidenz deutlich hinaus«Florian Zepf, Kinder- und Jugendpsychiater und Kritiker der Leitlinie

Deutliche Kritik an den Behandlungsempfehlungen

Im Mai 2024 äußerten zwölf deutsche Professoren und zwei Professorinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie scharfe Kritik an dem damals veröffentlichten Entwurf der Leitlinie. Dieser, so mahnten sie in einer Kommentierung, sei »an vielen Stellen unbegründet, einseitig affirmativ geprägt und teilweise wissenschaftlich unzutreffend«. Die Kritiker forderten einen noch vorsichtigeren Ansatz, um Minderjährige vor möglichen bleibenden Schäden zu schützen.

»Einige der Empfehlungen gehen über den derzeitigen Stand der soliden wissenschaftlichen Evidenz deutlich hinaus«, sagt Florian Zepf, Erstautor der Kommentierung und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. »Letztendlich geht es darum, wie man belasteten Kindern und Jugendlichen evidenzbasiert am besten helfen kann.«

»Es hat teils irreversible Folgen, wenn man Eingriffe verschleppt«Georg Romer, Kinder- und Jugendpsychiater und Leitlinienkoordinator

Stark auf klinische Erfahrungen zurückzugreifen sei nicht ungewöhnlich, vor allem nicht in der Kinderheilkunde, kontert Georg Romer, Kinder- und Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Münster und Koordinator der Leitlinie. Denn die Studienlage ist dort oftmals eher dünn. Einer evidenzbasierten Behandlung stehe das nicht im Weg. Im Gegenteil: »Laut einer Stellungnahme der Bundesärztekammer ist der Dreiklang aus Evidenz, Erfahrung und den Wünschen der Patienten die Basis der evidenzbasierten Medizin«, so Romer.

Zudem wirkt sich auch eine Nichtbehandlung auf die Betroffenen aus. »Es hat teils irreversible Folgen, wenn man Eingriffe verschleppt«, betont er. Ist etwa der Stimmbruch einmal passiert oder sind die Schultern mit der Pubertät breiter geworden, leiden viele transidente Menschen ein Leben lang unter solchen Merkmalen, die nicht zu ihrer Geschlechtsidentität passen. Denn sie bleiben bestehen, selbst wenn sich die Person später für eine körperliche Transition mithilfe von Sexualhormonen und möglicherweise Operationen entscheidet. Das erhöht das Risiko der Betroffenen, Diskriminierung und Gewalt zu erfahren.

Ein Knackpunkt: Wo beginnt die Geschlechtsdysphorie?

Zepf war selbst Mitglied der Leitlinienkommission, bevor er sie Ende 2022 auf eigenen Wunsch verließ. Er kritisiert, dass die Leitlinie zwischen einer vorübergehenden Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht und einer andauernden Geschlechtsdysphorie zu unterscheiden versucht. »Grundsätzlich erscheint diese Idee sinnvoll«, sagt er. Es gebe jedoch einen Haken. »Das Problem ist: Es werden in der Leitlinie keinerlei Kriterien benannt, wie dieser Unterschied vorher sicher festgestellt werden kann«.

In der Leitlinie finden sich durchaus Informationen, die bei solchen Abwägungen helfen sollen. Sie definiert etwa die Voraussetzungen für die Diagnose einer Geschlechtsinkongruenz und einer Geschlechtsdysphorie. Hier orientiert sie sich an einschlägigen, anerkannten Regelwerken. Beide Zustände müssen bis nach Eintritt der Pubertät ins Jugendalter hinein überdauern, um körperliche Eingriffe zu rechtfertigen. Die Leitlinie rät, eine Fachperson mit mehrjähriger Erfahrung in Transgendermedizin zur Diagnosestellung hinzuzuziehen.

Was das Dokument allerdings tatsächlich nicht bieten kann, sind Biomarker für eine Transidentität. Bisher kennt man keine solchen objektiv messbaren Merkmale, die anzeigen würden, welche Person ihre Geschlechtsinkongruenz wieder ablegen wird und bei wem sie bestehen bleibt. Bei der Diagnose sind Fachleute deshalb auf die Aussagen der Betroffenen angewiesen.

»Unsere wesentlichen Kritikpunkte wurden nicht aufgegriffen«Tobias Banaschewski, Kinder- und Jugendpsychiater und Kritiker der Leitlinie

Zepf bemängelt außerdem, dass beim Erstellen der Leitlinie kritische Stimmen nicht genug gehört worden seien. Man habe sich zu wenig auf seriöse wissenschaftliche Studien und zu sehr auf die Erfahrungen einzelner Ärztinnen und Ärzte verlassen. Auch habe sich die Leitlinie zu sehr an den – seiner Meinung nach kritikwürdigen – internationalen »Standards of Care« der »World Professional Association for Transgender Health« orientiert, sagt er. Außerdem sei keine neue systematische Literaturrecherche durchgeführt worden.

Erbitterter Streit um Vorannahmen und Folgen

In Reaktion auf die Kritik hat man in der Leitlinie einige Empfehlungen vorsichtiger formuliert. »Aber unsere wesentlichen Punkte wurden nicht aufgegriffen«, sagt der Mannheimer Kinder- und Jugendpsychiater Tobias Banaschewski. Seiner Meinung nach sei der Kommission ein fundamentaler Irrtum unterlaufen: Sie setze eine a priori feststehende Identität eines jeden Menschen voraus, die nur er selbst erkennen könne. Dieser Annahme widerspricht Banaschewski. Vielmehr, so betont er, sei Geschlechtsidentität das Resultat einer Selbstinterpretation, in die verschiedene Wünsche und Motive eingehen. Und diese könne sich mit der Zeit wandeln. »Daher ist der Schluss, dass Betroffene notwendigerweise den eigenen Körper verändern müssten, falsch«, folgert er.

Die Leitlinie weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass die Geschlechtsidentität im Jugendalter veränderlich ist. Sie beschreibt die Möglichkeit einer Desistenz, also eines Abflauens der Geschlechtsinkongruenz, das manche Kinder und Jugendliche erleben. Darüber hinaus machen körpermodifizierende Maßnahmen nur einen Teil der diskutierten Behandlungsempfehlungen aus. Die Autorinnen und Autoren weisen etwa auf die Bedeutsamkeit von psychotherapeutischer Unterstützung hin. Nur bei gesicherter Diagnose und bei entsprechend intensivem Leidensdruck sollte eine Pubertätsblockade und eine Hormonbehandlung in Betracht gezogen werden, empfehlen sie.

Aussagen wie »Jeder, der sich als Mann fühlt, ist ein Mann« oder »Ich wusste eigentlich schon immer, ich bin eine Frau« nennen die Kritiker in ihrer Kommentierung »logisch falsch«. Derartige Argumente, die das Konzept der Transidentität an sich in Frage stellen, bezeichnen die Leitlinienautoren wiederum als »wissenschaftlich überholt« und »meinungsbasiert«. In Gesprächen betonen sie zudem, dass keiner der Kritiker auf die Behandlung von Geschlechtsdysphorie spezialisiert sei.

Erfahrungsbericht: Julien, 20

Julien ist 20 Jahre alt und Psychologiestudent. Mit etwa sechs Jahren wurde sein Geschlecht erstmals zum Thema. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich eine Frau werden soll. Ich dachte, ich bin ein Spätzünder und mir wächst noch ein Penis«, erinnert er sich. Mit zwölf war er zum ersten Mal bei einer Psychologin. Jeden Tag band er sich die Brüste ab. Die mangelnden Möglichkeiten für eine Transition machten ihm schwer zu schaffen. Er versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin zog er in eine Wohngruppe in der Großstadt.

Für die geschlechtsangleichende Behandlung brauchte Julien eine ganze Reihe von Gutachten. Jahrelang durchlief er Stationen bei Psychotherapeuten und Endokrinologen. Ob er nicht vielleicht »einfach lesbisch« sei, das war eine Frage, mit der er wieder und wieder konfrontiert wurde. Mit 15 bekam er Pubertätsblocker, mit 16 startete er eine Hormontherapie und mit 18 ließ er eine Mastektomie durchführen.

Ob er die Gefahr sieht, dass Hormone oder Pubertätsblocker zu leichtfertig verschrieben werden? »Ich glaube, dass Ärzt:innen und Therapeut:innen viel mutiger sein könnten«, antwortet er. Als weit größeres gesundheitliches Risiko betrachtet er den »Kontrollverlust«, den Jugendliche erleben, die sich im falschen Körper gefangen fühlen – ohne Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.

Gemeinsamkeiten trotz Dissens

Die Fronten sind also verhärtet. Sowohl die Autorinnen und Autoren der Leitlinie als auch die Kritiker sind misstrauisch gegenüber Medien geworden. Sie berichten von Hasskommentaren im Netz, von Protesten vor ihren Kliniken. Einige wollen sich gar nicht mehr äußern, andere versuchen energisch, die Berichterstattung zu beeinflussen. Alle warnen, man dürfe die jeweilige »Gegenseite« nicht überrepräsentieren. Unterschwellig schwingt oft der Vorwurf mit, das Gegenüber handelte ideologisch, auf der einen Seite aus Transfeindlichkeit, auf der anderen aus Wokeness.

»Es ist eine unsinnige Diskussion, denn wir sind überhaupt nicht weit auseinander«Dagmar Pauli, Psychiaterin und Leitlinenautorin

Hört man genauer hin, gibt es aber Punkte, bei denen sich beide Seiten einig sind: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen brauchen dringend Hilfe; die Evidenz für geschlechtsangleichende Maßnahmen ist in dieser Altersgruppe dünn; sie sollten nur mit großer Sorgfalt durchgeführt werden; ein kompletter Stopp solcher Eingriffe, wie Donald Trump ihn in den USA angeordnet hat, wäre katastrophal; und eine Konversionstherapie darf auf keinen Fall das Ziel sein. Letztere würde darauf abzielen, dass sich die Betroffenen mit ihrem zugewiesenen Geschlecht identifizieren, und ähnelt damit den mittlerweile verbotenen und unwirksamen »Behandlungen« zur »Heilung« homosexueller Menschen.

»Es ist eine unsinnige Diskussion, denn wir sind überhaupt nicht weit auseinander«, sagt die Leitlinienautorin und Züricher Psychiaterin Dagmar Pauli. Sie hält es für ein Missverständnis, dass Jugendlichen Pubertätsblocker und Hormone leichtfertig verschrieben würden. Der Prozess bis zu solchen Maßnahmen würde Monate, manchmal Jahre dauern. Es seien immer mindestens zwei Fachleute involviert, meist mehr. »Wir wollen es alle mit Bedacht machen«, betont sie. Doch die Diskussion ist dermaßen verfahren, dass gemeinsame Anliegen untergehen.

So werden geschlechtsdysphorische Jugendliche behandelt

Die Leitlinienautorin Annette Richter-Unruh ist Kinderendokrinologin in Dortmund. Sie hat in den vergangenen 25 Jahren nahezu 900 Jugendliche bei ihrer Transition begleitet. Manche sind schon mit fünf oder sechs Jahren geschlechtsinkongruent: Sie wollen Kleidung und Frisuren tragen, die typisch fürs andere Geschlecht sind, oder äußern, dass sie kein Junge oder kein Mädchen sind.

»Ob es wirklich eine bleibende Geschlechtsinkongruenz ist, kann sich erst in der Pubertät zeigen«Annette Richter-Unruh, Kinderendokrinologin und Leitlinienautorin

»Wenn Sie ein solches transidentes Mädchen sehen, kämen sie nie auf die Idee, dass es bei Geburt als Junge eingetragen wurde«, sagt Richter-Unruh. Sie begleitet die Familien oft jahrelang. Sie unterstützt die Eltern etwa dabei, dass ihr Kind mit einem Mädchennamen und weiblichem Geschlechtseintrag eingeschult wird. Meist sind die Kinder auch in psychotherapeutischer Begleitung.

»Ob es wirklich eine bleibende Geschlechtsinkongruenz ist, kann sich erst zeigen, wenn die Pubertät gestartet ist«, erklärt die Endokrinologin. Denn sobald bei Betroffenen Penis oder Brüste zu wachsen beginnen, steigt die Diskrepanz zwischen Körper und Selbsterleben. »Dann können Ängste entstehen. Zum Beispiel, dass sie morgens aufwachen und die Stimme ist plötzlich tief«, sagt Richter-Unruh. Ergibt sich daraus ein substanzieller Leidensdruck, kann die Diagnose »Geschlechtsdysphorie« gestellt werden.

Laut einer Metaanalyse aus dem Jahr 2021 verletzt sich über ein Viertel der geschlechtsdysphorischen Jugendlichen selbst. Ebenso viele hegen Suizidgedanken. Rund einer von sechs hat bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Diese Zahlen sind um ein Vielfaches höher als bei gleichaltrigen cisgeschlechtlichen Personen ohne psychische Probleme. Da Geschlechtsdysphorie häufig mit weiteren psychischen Leiden einhergeht, dürfte eine Kombination an Faktoren zu dieser Steigerung beitragen. Laut einer Analyse des US-amerikanischen CDC sind nichtheterosexuelle Jugendliche etwa doppelt so häufig psychisch vorbelastet wie heterosexuelle Gleichaltrige und sie unternehmen etwa dreimal so oft Suizidversuche.

Pubertätsblocker als Pausetaste für transgender Jugendliche

Unwillkommene körperliche Veränderungen in der Jugend lassen sich mit Hilfe von Pubertätsblockern aufhalten. Die Wirkstoffe ähneln dem körpereigenen Hormon Gonadoliberin (GnRH) und werden deshalb GnRH-Analoga genannt. Sie wirken in der Hirnanhangdrüse und sorgen dafür, dass keine Sexualhormone mehr gebildet werden. Das stoppt die weitere Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen – und schafft Bedenkzeit. Werden die Blocker abgesetzt, setzt sich die unterdrückte Pubertät fort. Ob die Medikamente auch die psychische Entwicklung beeinflussen, ist allerdings noch nicht komplett geklärt.

Fast alle Jugendlichen, die Pubertätsblocker erhalten, entscheiden sich im Anschluss für eine Hormontherapie. Transidente Jungen bekommen durch die Gabe von Testosteron Bartwuchs und eine tiefe Stimme, ihre Menstruation bleibt aus. Transgeschlechtlichen Mädchen wächst bei Einnahme von Östrogen die Brust und der Stimmbruch wird verhindert, sofern er noch nicht stattfand. In der Regel führt die Behandlung laut Richter-Unruh nicht zu einer dauerhaften Unfruchtbarkeit. Werden die Hormone später abgesetzt, könne sich die Funktion der biologisch angelegten Geschlechtsorgane noch ausbilden.

Auch eine Mastektomie, also eine chirurgische Abnahme von Brustgewebe, ist bereits vor dem 18. Lebensjahr möglich. Operative Eingriffe, die unfruchtbar machen – das Entfernen von Penis, Gebärmutter und Eierstöcken sowie der Aufbau eines Penoids oder einer Neovagina –, sind hingegen nur bei Volljährigen erlaubt. Zum Teil können die Behandelten vorab noch Eizellen oder Sperma entnehmen und einfrieren lassen.

Mit vielen ihrer Patientinnen und Patienten hält Richter-Unruh bis ins Erwachsenenalter Kontakt. Sie bekommt regelmäßig Fotos, wird zu ihren Hochzeiten eingeladen. Ihr sind nur fünf Fälle von Detransition bekannt – also Personen, die später wieder zum Leben in ihrem Geburtsgeschlecht zurückkehren wollen. Bei allen davon habe sich die Transidentität erst während der Pubertät gezeigt. »Bei solchen Fällen muss man hinterfragen, ob es noch andere Probleme gibt, die begründen könnten, dass sie sagen, sie sind trans«, sagt sie. Ein systematischer Überblicksartikel von 2025 schätzt die Rate von Betroffenen, die eine Hormontherapie wieder absetzen, auf ein bis zehn Prozent. Verlässliche Daten oder auch nur eine eindeutige Definition von Detransition gibt es nicht.

Erfahrungsbericht: Nele, 29

Nele ist 29 und hat ganz andere Erfahrungen als Julien gemacht. Sie hat ihr Geschlecht seit dem Grundschulalter hinterfragt und sich zunehmend unwohl mit ihrem Körper gefühlt. Mit 19 Jahren hatte sie Depressionen, eine Essstörung, Suizidgedanken. »Ich habe mich exzessiv zu Transition informiert«, erzählt sie. Sie ging zu einem Therapeuten, der auf Transidentität spezialisiert war. »Er sagte, dass ich ein sehr klarer Fall sei, und empfahl eine schnelle Transition«, erinnert sich Nele. »Er hat mich kein einziges Mal gefragt, was hinter meiner Geschlechtsdysphorie stecken könnte.«

Drei Monate später bekam sie Testosteron, kurz darauf unterzog sie sich einer Mastektomie. Drei Jahre lang lebte sie als Mann und lernte ihre Partnerin kennen, die zu der Zeit ebenfalls als Mann durchs Leben ging. Wegen Nebenwirkungen der Hormontherapie und Zweifel an ihrer Transidentität entschieden sich beide schließlich für eine Detransition. »Ich wollte mich der Angst vor dem Frausein stellen«, so Nele. Einige Nachwirkungen der Behandlung bleiben allerdings: die tiefe Stimme, ein leichter Bartwuchs.

Mit ihrer Partnerin hat Nele das Projekt Post Trans gestartet, um über Detransition aufzuklären. Aus der Trans-Community erfahre sie Ablehnung, in queeren Räumen fühlt sie sich nicht mehr wohl. Rechte Medien und Politiker wenden sich ab und zu an sie, doch sie weist sie immer ab. Sie will ihre Geschichte nicht instrumentalisieren lassen.

Pionierarbeiten in Amsterdam ebneten den Weg

Pubertätsblocker kamen erstmals in den späten 1990er Jahren bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie zum Einsatz. Die Medikamente waren zuvor nur Kindern verschrieben worden, die bei denen die Pubertät zu früh eingesetzt hat. Doch dann testete ein Amsterdamer Team um die klinische Psychologin Peggy Cohen-Kettenis, ob die Arzneien auch transidenten Heranwachsenden helfen könnten. Die Fachleute entwickelten ein langwieriges Verfahren und strenge Bedingungen für die Abgabe an betroffene Minderjährige: Diese mussten demnach psychisch stabil, gut informiert und seit ihrer frühen Kindheit geschlechtsinkongruent sein. Zudem war eine Voraussetzung, dass sie von ihren Eltern unterstützt werden.

»Ich war damals eine junge Kinderpsychiaterin und eine der ersten Forscherinnen im Team«, erinnert sich Annelou de Vries. Als Teil ihrer Doktorarbeit untersuchte sie Anfang der 2000er Jahre die weltweit erste Kohorte von 70 transidenten Jugendlichen, die Pubertätsblocker erhalten hatten. Ihre Ergebnisse erschienen 2011: Die depressiven Symptome der Behandelten waren während der Pubertätsblockade zurückgegangen, ihre Geschlechtsdysphorie blieb jedoch konstant. Das sei nicht überraschend, argumentiert de Vries, schließlich beginne die »echte« geschlechtsangleichende Behandlung erst mit der Gabe von Sexualhormonen.

»So sollte evidenzbasierte Medizin funktionieren«Annelou de Vries, Kinderpsychiaterin und Pionierin auf dem Gebiet der Transgender-Medizin

In einer Folgestudie aus dem Jahr 2014 untersuchte sie, wie es 55 dieser Patienten nach Start ihrer Hormontherapie und nach diversen operativen Eingriffen ging. Die Ergebnisse waren vielversprechend: Die Geschlechtsdysphorie hatte sich mit der Transition aufgelöst, die Lebensqualität und psychische Gesundheit der jungen Erwachsenen ähnelte der von cisgeschlechtlichen Personen desselben Alters. Jahrelang waren diese Arbeiten die einzigen vorhandenen Studien.

Die deutsche Leitlinie nennt de Vries einen »Meilenstein«, vor allem angesichts der dramatischen Verschlechterung der Rechte von transgender Menschen in den USA. »So sollte evidenzbasierte Medizin funktionieren«, betont sie.

Erfahrung statt Evidenz?

Doch die Studienlage hat sich seit den Amsterdamer Pionierarbeiten nicht maßgeblich verbessert. Untersuchungen mit transgeschlechtlichen Minderjährigen sind weiterhin rar gesät. Damit fehlt die Basis für Übersichtsarbeiten, auf die Leitlinien sich oft stützen. »Es gibt derzeit keine fundierte systematische Metaanalyse, die einen nachhaltigen, eindeutigen und profunden Nutzen für eine Pubertätsblockade oder für eine Hormongabe auf die psychische Gesundheit oder die Geschlechtsdysphorie bei betroffenen Kindern und Jugendlichen zeigt«, kritisiert Florian Zepf.

Auch das Argument, die Behandlungen würden Suizide verhindern, fußt auf einer empirisch dünnen Basis. Dass die Lebensqualität der behandelten Jugendlichen langfristig steigt, zeigen die vorhandenen Daten ebenfalls nicht konsistent.

Was bleibt, sind einige wenige, methodisch schwache Untersuchungen – und die langjährige Erfahrung von Fachleuten, die Betroffene behandeln

Es mangelt also an aussagekräftigen Arbeiten. Ein Problem dabei ist, dass randomisiert kontrollierte Studien – der Goldstandard medizinischer Forschung – in diesem Fall kaum ethisch vertretbar sind. Denn um eine Kontrollgruppe zu schaffen, müsste man einem Teil der Patientinnen und Patienten eine Behandlung vorenthalten, die sich nicht später nachholen lässt. Auch eine Verblindung ist bei hormonellen Interventionen kaum möglich. Außerdem besteht die Gefahr eines »Selection Bias«: Betrachtet man wie de Vries nur Personen, die sehr strikte Kriterien erfüllen, sind diese vermutlich nicht repräsentativ für alle Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie.

Was bleibt, sind einige wenige, methodisch schwache Untersuchungen – und die langjährige Erfahrung von Fachleuten, die Betroffene behandeln. Viele von ihnen haben miterlebt, wie ihre Patientinnen und Patienten nach der Geschlechtsangleichung aufblühten und wie sich ihre Psyche im neuen Lebensabschnitt erholte.

Der mysteriöse Anstieg der Diagnosezahlen

Die Debatten um Behandlungen von transgender Jugendlichen haben sich in den vergangenen Jahren deutlich aufgeheizt. Ein Mitgrund dafür dürften die dem Anschein nach rapide ansteigenden Betroffenenzahlen sein. Die zeigen sich zum Beispiel in unveröffentlichten Daten der Allgemeinen Ortskassen (AOK), bei denen rund ein Drittel der Deutschen Mitglied ist.

Im Jahr 2014 waren 219 der AOK-Versicherten unter 18 Jahren wegen einer Diagnose von Geschlechtsdysphorie in Behandlung. 2023 lag diese Zahl mit 1630 Patientinnen und Patienten bereits rund siebenmal höher. Letzterer Wert entspricht 0,03 Prozent aller dort registrierten Minderjährigen. Unter der Annahme, dass die AOK-Mitglieder repräsentativ für die Bevölkerung sind, hätte es 2023 in Deutschland demnach rund 5000 Jugendliche mit diagnostizierter Geschlechtsdysphorie gegeben.

Doch längst nicht alle von ihnen starten eine medizinische Transition. Darauf deutet eine Auswertung von Daten der Barmer Krankenkasse durch das Projekt Transkids-Care hin, die bislang nur als Vorabdruck verfügbar ist. Ihr zufolge beginnt rund ein Drittel der Jugendlichen, die eine Diagnose für Geschlechtsdysphorie erhalten, innerhalb von zwei Jahren eine Behandlung mit Pubertätsblockern oder Hormonen. Wir sprechen also über eine kleine, aber wachsende Gruppe von jungen Menschen.

Die Kassendaten haben jedoch gewisse Tücken. »Die relativen Anstiege von Abrechnungsdiagnosen sagen nur etwas darüber aus, dass diese Population häufiger Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nimmt«, erklärt Georg Romer. So ist es möglich, dass die Zahl transidenter Jugendlicher in etwa gleichgeblieben ist, aber mehr von ihnen heute eine Behandlung bekommen – zum Beispiel, weil die Versorgung besser geworden und die soziale Akzeptanz gestiegen ist.

Dafür spricht, dass die in Studien geschätzte Prävalenz deutlich über den Diagnosezahlen liegt. In einer schwedischen Befragung aus dem Jahr 2018 gaben 2,3 Prozent der rund 50 000 erwachsenen Befragten an, sich einem anderen Geschlecht als dem bei ihrer Geburt zugewiesenen zugehörig zu fühlen. 0,5 Prozent berichteten davon, dass sie sich eine geschlechtsangleichende Behandlung wünschten.

Zudem findet man in den AOK-Daten ein auffälliges Muster: Diagnosen bei Minderjährigen, die als »weiblich« eingetragen sind, nahmen besonders stark zu. Dabei handelt es sich vermutlich überwiegend um transidente Jungen. Ihre Zahl stieg zwischen 2014 und 2023 um den Faktor 13 an. Demnach leiden rund dreimal so viele Jugendliche, die mit einer Vulva zur Welt gekommen sind, unter Geschlechtsdysphorie als solche, die mit einem Penis geboren wurden. Die Größenordnung des Unterschieds deckt sich mit anderen Datenquellen – und verlangt nach einer Erklärung.

Umstrittene Analyse der Geschlechterfrage

Ein britischer Bericht von 2024 versucht sich an einer Ursachenfindung. Der National Health Service hatte die als Cass-Review bekannt gewordene Arbeit bei der pensionierten Pädiaterin Hilary Cass in Auftrag gegeben. Diese hat zwar vier Jahre lang zur Thematik recherchiert, ist aber nicht auf das Gebiet der Gendermedizin spezialisiert. In Fachkreisen ist das Papier deshalb umstritten.

Im Vergleich zu den recht eindeutigen Fällen, die als Grundlage der Amsterdamer Arbeiten dienten, attestiert Cass dem Bereich heute ein »stark verändertes Patientenprofil«. Nicht nur gibt es viel mehr Patientinnen und Patienten und ein wachsendes Geschlechtergefälle – die einzelnen Fälle würden auch »komplexer«, schreibt sie. Ärzte weltweit berichten von einem »Anstieg bei Kindern und Jugendlichen, deren Schwierigkeiten mit ihrer Geschlechtsidentität mit psychischen Problemen einhergehen«, so Cass.

»Transidentität entsteht immer aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren«Dagmar Pauli, Psychiaterin und Leitlinenautorin

In ihrer Arbeit führt sie diese Veränderung vor allem auf kulturelle und psychosoziale Faktoren zurück. Sie merkt etwa an, dass die Definition von Geschlecht in der Generation Z fluider sei als bei älteren Menschen. Zudem diskutiert sie, wie weibliche Rollen- und Körperbilder, die in sozialen Medien und in Pornos dargestellt werden, dazu beitragen könnten, dass mehr weiblich zugewiesene Jugendliche ihre körperlichen Geschlechtsmerkmale ablehnen. Und sie weist auf die generelle Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Minderjährigen – vor allem von Mädchen – hin.

Insgesamt zeichnet Cass das Bild, dass eine Transidentität aus der Kombination von biologischer Veranlagung und Lebensumständen entsteht. Eine Transition und medizinische Behandlung beseitige deshalb nicht bei allen Betroffenen die Ursache ihrer Probleme. Daher sowie angesichts der unklaren Evidenz mahnt sie bei körpermodifizierenden Maßnahmen zu »extremer Vorsicht«. Auf ihren Bericht aufbauend dürfen Ärzte in Großbritannien Pubertätsblocker seit 2024 nur noch im Rahmen klinischer Studien verschreiben.

»Transidentität entsteht immer aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren«, bestätigt Dagmar Pauli. Doch wichtiger als die Ursachen sei, ob die Geschlechtsinkongruenz über längere Zeit bestehen bleibt. »Es geht darum, festzustellen, ob die Transidentität dauerhaft ist«, betont sie. Wie das funktionieren kann, ohne Jugendliche jahrelang in einer gefährlichen Warteposition zu halten – das ist die ganz große Frage, auf die auch die Leitlinie noch keine eindeutige Antwort geben kann.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.