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Neurodegenerative Erkrankungen: Unerwartet hohe Konzentration von Alzheimer-Biomarker bei Neugeborenen

Ein neuer Bluttest soll helfen, mittels pTau217 Alzheimer zu erkennen. Doch nun zeigt sich: Babys haben noch mehr von dem Protein im Blut als Senioren mit Gedächtnisproblemen.
Ein kleines Baby mit Mützchen auf dem Kopf schläft im Bettchen auf der Säuglingsstation.
Babys weisen Mengen von Tau-Proteinen im Gehirn auf, die bei älteren Menschen als Zeichen für Alzheimer gelten. Wissenschaftler wüssten gerne, wie ihr Gehirn die Moleküle in Schach hält.

Die Alzheimerkrankheit geht mit typischen Veränderungen im Gehirn einher. Dazu gehören zwei Arten von Proteinablagerungen: Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen.

Diese Veränderungen lassen sich auf verschiedene Weise feststellen, zum Beispiel mithife hochentwickelter und teurer Bildgebungsverfahren. Eine weitere Diagnosemöglichkeit besteht in der Messung von Beta-Amyloid und bestimmten modifizierten Formen von Tau im Liquor, der das Gehirn und das Rückenmark umgibt. Die Entnahme dieser Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit erfordert allerdings eine Lumbalpunktion, die viele Menschen als zu invasiv empfinden.

Ein kürzlich zugelassener Test misst die Konzentrationen von Beta-Amyloid und pTau217, einer veränderten Form von Tau, die auf die Alzheimerkrankheit hindeutet, im Blut. pTau217 könnte dabei helfen, Alzheimer präklinisch zu erkennen, also bevor die ersten Symptome auftreten. Doch mittlerweile finden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den Proteinmarker für Neurodegeneration an unerwarteten Stellen.

Einer neue Studie zufolge, die in der Zeitschrift »Brain Communications« veröffentlicht wurde, ist die Konzentration von pTau217 auch bei gesunden Neugeborenen erhöht. Die Säuglinge wiesen sogar höhere Werte auf als Menschen mit Alzheimerkrankheit. Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass die Proteinveränderungen, die Alzheimer kennzeichnen, unter bestimmten Umständen reversibel sind – ein Hinweis auf neue Behandlungsmöglichkeiten.

Mehr »Alzheimerprotein« als bei Senioren

Tau ist in seiner normalen Form an der Bindung und Stabilisierung jenes Netzwerks von Proteinen beteiligt, die einem Neuron seine Struktur verleihen. Tau-Moleküle können sich durch einen als Phosphorylierung bezeichneten Prozess an Phosphatgruppen (Moleküle, die aus Sauerstoff und Phosphor bestehen) anlagern. Wenn dies geschieht, kann es die neuronale Struktur, die Tau unterstützt, destabilisieren und zur Bildung von Knäulen beitragen. Bei pTau217 handelt es sich genau genommen um ein Tau-Molekül, das an einer Stelle phosphoryliert wurde, die Forscher 217 nennen.

In der neuen Studie hat ein internationales Forschungsteam die pTau217-Werte in Blutproben von zwei Gruppen gesunder Neugeborener gemessen und sie mit den Werten von Jugendlichen, Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren und Senioren im Alter von 70 bis 77 Jahren verglichen. Kein Studienteilnehmer hatte zuvor über kognitive Schwierigkeiten berichtet oder bei Tests Beeinträchtigungen gezeigt. Obwohl es bei den modifizierten Tau-Werten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen gab, waren die pTau217-Werte bei den Neugeborenen mehr als fünfmal so hoch wie bei den älteren Gruppen.

Das Team untersuchte auch Blutproben von »extremen Frühgeborenen«, also von Babys, die vor der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen waren, und beobachtete die Kinder über einen Zeitraum von 40 Wochen. In vielen Fällen wiesen diese Kinder sogar noch höhere pTau217-Werte im Blut auf als Babys, die zum erwarteten Geburtstermin geboren worden waren. Die pTau217-Werte schienen zu sinken, als die beiden Frühgeborenen älter wurden. Etwa 20 Wochen nach der Geburt glichen die Werte jenen, die bei gesunden jungen Erwachsenen zu finden sind.

Um die Säuglinge mit Menschen mit Alzheimerkrankheit zu vergleichen, sammelten die Forschenden außerdem Blutproben von Alzheimerpatienten ein sowie von Personen mit einer sogenannten leichten kognitiven Beeinträchtigung des Alzheimer-Typs (die manchmal eine Vorstufe der Krankheit ist). Alle Diagnosen wurden zusätzlich durch eine Lumbalpunktion und kognitive Tests bestätigt. Die Forscher fanden heraus, dass Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung oder Demenz höhere pTau217-Werte aufwiesen als sonst gesunde Erwachsene, aber immer noch deutlich niedrigere Werte als gesunde Neugeborene.

Darüber hinaus entdeckte das Team, dass das gesamte Tau im Plasma – nicht nur die modifizierte pTau217-Form – bei Neugeborenen in höherer Konzentration vorkam. Das steht im Einklang mit früheren Studien, die hohe Tau-Werte im Gehirn von Babys fanden, mit Spitzenwerten um den vierten bis fünften Schwangerschaftsmonat, die dann bis zum sechsten Monat nach der Geburt auf etwa die Hälfte abnahmen.

Die Analyse anderer Proteine lieferte differenziertere Ergebnisse. So fanden die Forscher beispielsweise in Blutproben gesunder Neugeborener niedrigere Beta-Amyloid-Werte als bei älteren Studienteilnehmern. Ein anderes Protein namens Neurofilament-Leichtkette (NFL), das häufig mit Hirnverletzungen in Verbindung gebracht wird, war bei Neugeborenen im Vergleich zu Jugendlichen und Erwachsenen erhöht – allerdings nicht so stark wie bei älteren Menschen. Der letztgenannte Befund bei Säuglingen lässt sich möglicherweise durch Entwicklungsprozesse im Gehirn von Neugeborenen und durch eine Schädelkompression während der Geburt erklären, die insbesondere bei einer vaginalen Entbindung zu erhöhten Werten dieses Proteins führt.

Wann schadet Tau – und wie wird das Gehirn es wieder los?

Die Ergebnisse der Untersuchung sind angesichts der engen Verbindung zwischen pTau217 und der Beta-Amyloid-Pathologie der Alzheimerkrankheit bemerkenswert. Forscher haben auch erhöhte pTau217-Werte bei Menschen mit einigen seltenen neurologischen Krankheiten festgestellt, darunter die Creutzfeld-Jakob-Krankheit, die Niemann-Pick-Krankheit Typ C und ALS. Darüber hinaus erhöht eine bestimmte Mutation im Tau-Gen die Konzentration von pTau217. Und obwohl es das erste Mal ist, dass erhöhte Werte des Alzheimerkrankheits-Markers pTau217 bei Neugeborenen beobachtet wurden, berichteten Forscher schon früher von einer umfangreichen Phosphorylierung von Tau im sich entwickelnden Gehirn. Bezeichnenderweise gibt es keine Beweise dafür, dass bei den Babys die gleichen Proteinverklumpungen wie bei älteren Menschen entstehen, obwohl ähnlich veränderte Tau-Proteine vorkommen.

Neben Modifikationen des Tau-Proteins, etwa durch Phosphorylierung, gibt es mehrere bekannte Formen des Moleküls (Isoformen), die sich durch den Ein- oder Ausschluss bestimmter Abschnitte der Proteinsequenz voneinander unterscheiden. Das erwachsene Gehirn weist in der Regel sechs Isoformen von Tau auf, aber Föten verfügen über eine spezielle fötale Isoform, die möglicherweise wichtige Prozesse während der Entwicklung unterstützt. Es ist möglich, dass fötales Tau besonders schützend oder widerstandsfähig ist, sodass es im Gehirn von Babys nicht zu den Proteinaggregationen kommt, die bei älteren Erwachsenen eine toxische Wirkung haben. Um das zu belegen, ist allerdings noch mehr Forschung nötig.

Zudem gibt es auch andere Situationen, in denen die Hyperphosphorylierung von Tau offenbar reversibel ist. Studien an Tierarten wie Erdhörnchen zeigen, dass Hyperphosphorylierung von Tau im Gehirn während des Winterschlafs auftritt und sich umkehrt, wenn die Tiere wieder aufwachen. Ein anderes Experiment fand ähnliche Veränderungen bei überwinternden Schwarzbären. Die Forschenden spekulieren, dass die Phosphorylierung in diesem Zusammenhang eine schützende Funktion haben könnte, indem sie die Zellaktivität in Zeiten von Stoffwechselstress einschränkt.

In einem anderen Forschungsprojekt haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen herausgefunden, dass eine Narkose bei Mäusen eine Tau-Phosphorylierung durch Mechanismen auslösen kann, die zumindest teilweise mit der Unterkühlung des Körpers zusammenhängen. Diese Veränderung des Gehirns ist im Allgemeinen umkehrbar, es sei denn, die Mäuse werden wiederholt betäubt.

Die neuen Forschungsergebnisse machen deutlich, wie schwierig es ist, die Biologie der Alzheimerkrankheit zu verstehen. Ein neugeborenes Kind und ein 60-jähriger Erwachsener, der unter Vergesslichkeit oder Orientierungslosigkeit leidet, können beide positiv auf pTau217 getestet werden, aber niemand wird beim Baby daraufhin Alzheimer diagnostizieren. Allerdings könnte die weitere Forschung zu Tau und den Prozessen, die Veränderungen des Proteins wieder rückgängig machen, vielleicht dabei helfen, neue Behandlungsansätze zu entwickeln. 

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  • Quellen
Gonzalez-Ortiz, F. et al., Brain Communications 10.1093/braincomms/fcaf221, 2025

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