»Neglektonen«: Vergessene Quantenteilchen für robuste Quantencomputer

Die größte Schwäche heutiger Quantencomputer ist ihre Empfindlichkeit. Kleinste Einflüsse aus der Umgebung zerstören die sensiblen Quantenzustände – sodass die Berechnungen fehlerhaft sind. Aber es gibt Hoffnung: »Topologische Quantenzustände« versprechen äußerst robust gegenüber Störungen zu sein. Sie könnten endlich die leistungsfähigen Maschinen hervorbringen, von denen Physikerinnen und Physiker seit Jahrzehnten träumen. Das Problem: Diese Quantenzustände gibt es bislang nur auf dem Papier. Und selbst wenn es gelänge, sie zu erzeugen, könnte es sehr schwierig sein, sie für Quantenberechnungen zu nutzen.
Doch nun hat ein Team um den Physiker Aaron D. Lauda von der University of California in Los Angeles eine Möglichkeit vorgestellt, wie sich mit den topologischen Zuständen universelle Quantenberechnungen durchführen lassen. Dafür hat es den mathematischen Rahmen der topologischen Quantenphysik erweitert – und dabei neue, bislang ignorierte Quantenzustände entdeckt: die »Neglektonen«, die wie extrem seltsame Teilchen wirken. Sie könnten es den topologischen Zuständen ermöglichen, ihre vollen Fähigkeiten zu entwickeln. Ihre Ergebnisse haben die Forscher im Fachjournal »Nature Communications« vorgestellt.
In unserer Welt gibt es zwei Arten von Teilchen: solche, aus denen sich die Materie aufbaut (wie Elektronen, Quarks oder Neutrinos), und jene, welche die Kräfte vermitteln (wie Photonen oder Gluonen). Beide Teilchensorten verhalten sich grundlegend unterschiedlich. Während erstere, sogenannte Fermionen, sich gegenseitig meiden, neigen zweitere, Bosonen, dazu, sich anzuhäufen. Diese grundsätzlich verschiedenen Verhaltensmuster lassen sich an einer Quanteneigenschaft ablesen, dem Spin der Teilchen. Ist dieser ganzzahlig, handelt es sich um die kräftevermittelnden Bosonen. Ist der Spin hingegen halbzahlig, hat man es mit Fermionen zu tun, den Grundbausteinen der Materie.
In den 1970er Jahren erkannten Fachleute, dass es auch Teilchen geben könnte, die in keine dieser beiden Kategorien fallen und somit weder Boson noch Fermion sind. Der Spin solcher hypothetischen Teilchen könnte demnach jeden beliebigen Wert annehmen, weshalb der Physiker und Nobelpreisträger Frank Wilczek sie »Anyonen« taufte (aus dem Englischen: »any«). Das Besondere an Anyonen ist, dass sie eine Art Gedächtnis besitzen: Aus der Wellenfunktion der Teilchen lässt sich herauslesen, wie man sie umeinander herumbewegt hat. Diese Fähigkeit ließe sich ausnutzen, um damit Quantenberechnungen zu codieren, erkannten Forschende. Das Besondere: Die relevanten Signaturen in den Wellenfunktionen der Anyonen sollten äußerst robust sein und auch dann bestehen bleiben, wenn es äußere Störungen gibt – eine Eigenschaft, die als topologisch bezeichnet wird. Das machte Anyonen zu Hoffnungsträgern für skalierbare Quantencomputer.
Es gibt nur ein Problem: Anyonen tauchen in der Natur nicht auf. Sie können lediglich in einer zweidimensionalen Welt entstehen. Doch schnell erkannten Fachleute, dass es möglich sein könnte, Elektronen in sehr dünnen Materialien durch Magnetfelder derart zu beeinflussen, dass sie sich wie Anyonen verhalten. Auf dem Papier funktioniert das wunderbar; allerdings ließen sich bislang »nichtabelsche« Anyonen, die für topologische Quantencomputer relevant sind, nicht zweifelsfrei in Experimenten nachweisen. Immer wieder präsentieren Forschende Hinweise auf diese seltsamen Quantenzustände; aber der Verdacht, dass die gemessenen Signale von anderen – »gewöhnlichen« – Zuständen herrühren, ließ sich nicht ausräumen.
Ein verbotenes Teilchen
Theoretisch könnte es viele verschiedene Arten von Anyonen geben, die sich in ihrer Komplexität unterscheiden. Während einige bloß über ein sehr rudimentäres »Gedächtnis« verfügen, können andere sehr detaillierte Informationen in ihrer Wellenfunktion codieren. Eine der simpelsten Formen von relevanten topologischen Quantenzuständen sind sogenannte Ising-Anyonen. »Sie sind einer der vielversprechendsten Kandidaten für eine experimentelle Realisierung«, schreiben die Forschenden um Lauda in ihrer Arbeit.
Allerdings würde das Erinnerungsvermögen dieser Anyonen nicht ausreichen, um vollumfängliche Quantenberechnungen zu ermöglichen. »Sie allein können nicht alle Operationen ausführen, die für einen universellen Quantencomputer nötig sind«, sagte Lauda in einer Pressemitteilung. Quantencomputer mit Ising-Anyonen wären demnach immer auch auf Rechenschritte angewiesen, die sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse reagieren.
»Es ist, als würde man einen Schatz in etwas finden, was alle anderen für mathematischen Müll gehalten haben«Aaron D. Lauda, Physiker
Aber Lauda und sein Team haben erkannt, dass eine Kombination aus Ising-Anyonen und einem weiteren Quantenzustand universelle Quantenberechnungen ermöglichen könnte – und zwar ganz ohne empfindliche Rechenoperationen. Der zusätzlich benötigte Zustand entspringt dabei einer nulldimensionalen, teilchenartigen Größe, die zuvor in der Fachwelt als unwichtig abgetan und deshalb nicht beachtet wurde. Wie Lauda und seine Kollegen jedoch herausfanden, haben diese »Neglektonen« extrem spannende Quanteneigenschaften. »Es ist, als würde man einen Schatz in etwas finden, was alle anderen für mathematischen Müll gehalten haben«, erklärt Lauda. Die Theorien, die mit diesen neuartigen Teilchen entstehen, krempelten alles um, was Lauda über topologische Quantenfeldtheorien zu wissen glaubte, sagt der Forscher zu »Spektrum«.
Allerdings bringen Neglektonen auch Probleme mit sich, weshalb Fachleute sie bisher als unphysikalisch erachteten. Möchte man zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit dafür berechnen, Neglektonen irgendwo anzutreffen, können auch negative Werte entstehen – ein Umstand, der in der realen Welt nicht existieren kann. Doch das Team um Lauda fand eine Möglichkeit, wie sich diese Schwierigkeit umgehen lässt. »Das war der kniffligste Teil der Arbeit«, sagt der Physiker. Dafür müssen die Neglektonen auf ganz bestimmte Art und Weise mit den anderen Quantenzuständen des Systems gekoppelt werden. »Durch sorgfältige Gestaltung des Speicherorts der Quanteninformationen stellen wir sicher, dass diese in den Teilen der Theorie verbleiben, die sich korrekt verhalten«, erläutert Lauda. »So funktioniert die Berechnung auch dann, wenn die globale Struktur mathematisch ungewöhnlich ist.«
Von einer realen Umsetzung ist die Fachwelt derzeit noch weit entfernt. Zum einen konnten Lauda und sein Team bisher noch nicht ermitteln, welches Festkörpersystem die hypothetischen Neglektonen erzeugen könnte. Und zum anderen ließen sich Ising-Anyonen, die in der Theorie sehr gut verstanden sind, bislang nicht in Laborversuchen bestätigen. »Ich glaube nicht, dass bisher irgendwelche nichtabelschen Anyonen experimentell nachgewiesen wurden«, sagt der Physiker Sergey Frolov, der nicht an der aktuellen Studie beteiligt war. »Trotzdem ist es interessant, dies weiterzuverfolgen – aber die Umsetzung ist sehr schwer.«
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