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Vitamin B1: Unmögliches Molekül löst 60 Jahre altes Vitamin-Rätsel

Vitamin B1 muss sich in einen extrem reaktiven Stoff umwandeln, um seine Funktion zu erfüllen. Doch jahrzehntelang schien diese Reaktion im Körper aus chemischen Gründen unmöglich zu sein.
Ein Holzlöffel voller Leinsamen liegt auf einem rustikalen Holztisch, daneben eine kleine Glasflasche mit goldenem Öl, die mit einer Kordel um den Hals verziert ist. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Natürlichkeit und gesunder Ernährung.
Leinsamen haben den Ruf, besonders viel Vitamin B1 zu enthalten. Die gute Nachricht: Tatsächlich sind auch diverse schmackhaftere Lebensmittel reich an dem Stoff, zum Beispiel Erbsen und Bohnen, mageres Fleisch, Fisch und Vollkornprodukte.

Als der US-amerikanische Chemiker Ronald Breslow im Jahr 1958 die Funktion des Vitamins B1 entschlüsselte, schuf er damit auch ein Rätsel, das fast 60 Jahre ungelöst bleiben sollte. Er erkannte, dass sich das Molekül erst zu einer als Carben bezeichneten aktiven Form umwandelt, bevor es seine Rolle bei der Energieproduktion unserer Zellen ausüben kann. Das Problem: Ein Carben kann im Körper überhaupt nicht entstehen. Sobald Wasser im Spiel ist, bilden sich stattdessen andere Stoffe. Dem gegenüber stehen jedoch Indizien, dass aus Vitamin B1 tatsächlich ein Carben wird. Dass die als unmöglich geltende Reaktion wirklich stattfindet, konnte bisher aber noch niemand beweisen.

Carbene sind sehr exotische Moleküle. Das enthaltene Kohlenstoffatom bildet nur zwei statt vier Bindungen aus und besitzt stattdessen ein freies Elektronenpaar. Wasser verhindert jedoch, dass sich dieses freie Elektronenpaar bildet – und aus chemischer Sicht ist der Mensch ein Sack voll Wasser mit ein paar Verunreinigungen. Nun allerdings hat ein Team um Vincent Lavallo von der University of California in Riverside erstmals Breslows These direkt belegt. Wie die Arbeitsgruppe in der Fachzeitschrift »Science Advances« berichtet, entwickelte sie ein Carben, das sich in Wasser bildet und dort auch beliebig lange stabil ist.

Wasserstabiles Carben | Oben: die von Breslow im Jahr 1958 vorgeschlagene Carben-Form von Vitamin B1. Unten: das von der Arbeitsgruppe um Lavallo hergestellte wasserstabile Carben.

Der Schlüssel dazu sind zwei Tricks, die das reaktive und instabile Elektronenpaar toleranter gegenüber Wasser machen. Zum einen bestückte die Arbeitsgruppe das Vorläufermolekül beidseitig mit großen Käfigstrukturen aus Bor, die die meisten Moleküle vom Carben-Kohlenstoff fernhalten. Zum anderen ersetzte sie alle Wasserstoffatome des Molekülgerüsts durch Chlor. Das Element zieht Elektronen aus dem Atomgerüst heraus und stabilisiert dadurch auch das instabile Elektronenpaar des Carbens. Aus diesem so vorbereiteten Molekül konnte nun die in Wasser gelöste Base Lithiumhydroxid das freie Carben bilden.

Wie das Team zeigte, ist das entscheidende freie Elektronenpaar wirklich frei und nicht durch ein direkt gebundenes Metallatom stabilisiert. Anders als in früheren Studien entwickelte »wasserstabile« Carbene reagiert das Molekül auch nicht bloß langsam über mehrere Monate mit Wasser. Laut der Veröffentlichung veränderte sich eine Lösung des Stoffs selbst nach einem halben Jahr nicht nachweisbar. Dieses Ergebnis löst nicht nur das Rätsel um Vitamin B1, sondern hat außerdem potenziell große Bedeutung für grünere technische Prozesse. Denn für viele industrielle Reaktionen sind Carbene wichtig. Sie laufen bislang in giftigen und teuren Lösungsmitteln ab. Möglicherweise funktioniert das in Zukunft stattdessen in Wasser.

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  • Quellen
Science Advances 10.1126/sciadv.adr9681, 2025

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