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Klimawandel: »Unser Bild des Meereises ist unvollständig«

Noch nie war die Antarktis von so wenig Eis bedeckt wie im Jahr 2023. Welche Rolle das Klima dabei spielt und wie sich die beiden Pole voneinander unterscheiden, erklärt die Polarforscherin Stefanie Arndt im Interview.
Menschen in roten Schneeanzügen stapfen durch Schnee
Ein Forschungsteam auf dem schneebedeckten Meereis im südlichen Weddellmeer während einer Antarktisfahrt mit der »Polarstern« im Jahr 2021.

Es war eine der Nachrichten, die die Fachleute im Klimakapriolen-Jahr 2023 am meisten besorgt hat. Das Meereis um die Antarktis nahm eine so geringe Fläche ein, wie es statistisch nur einmal in einer Million Jahren vorkommt. Insgesamt schwamm noch nie zuvor seit Beginn der Messungen so wenig Eis auf den polaren Ozeanen. Dabei hatte sich das Meereis rund um den Südkontinent lange Zeit dem Erwärmungstrend widersetzt und war sogar leicht gewachsen. Die Meereisphysikerin Stefanie Arndt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven erklärt im Interview mit Spektrum, welche Faktoren das Eis auf den Polarmeeren seit Jahren schrumpfen lassen. Denn so simpel, wie man meinen könnte, ist es nicht: In der Arktis kann man den Klimawandel am Schwinden der Eisfläche ablesen – in der Antarktis dagegen ist der Zusammenhang deutlich komplexer.

»Spektrum.de«: In der Antarktis sind innerhalb nur eines Jahres Millionen Quadratkilometer Meereis verschwunden, während die Arktis keinen vergleichbaren Absturz erlebt hat. Warum tickt das Eis am Nordpol so anders als das am Südpol?

Stefanie Arndt: Die Unterschiede haben ihre Ursache in der Geografie. Der arktische Ozean am Nordpol ist von Landmassen umgeben. Die begrenzen die Meereisausdehnung im Winter. Gleichzeitig besteht über das Festland eine enge klimatische Verbindung mit dem Rest der Welt. Am Südpol sieht das ganz anders aus. Die Antarktis ist ein Kontinent, und das antarktische Meereis erstreckt sich ringsherum in den Südozean hinein. Es kann sich weit über den Polarkreis ausdehnen, ist aber überall vom offenen Meer umgeben und dadurch von anderen Kontinenten isoliert. Deswegen ist das Meereis im Süden viel variabler als in der Arktis. Es bedeckt im Winter regelmäßig sehr große Flächen, die im Sommer natürlicherweise stark schrumpfen.

Wie beeinflussen diese Bedingungen die Ausdehnung des Meereises?

In der Arktis spielen die Lufttemperaturen die wichtigste Rolle. Im Winter friert die gesamte Meeresoberfläche zu. Wenn im Sommer die Luft wärmer wird, schmilzt das Eis wieder. Außerdem wird der arktische Ozean in den Sommermonaten rund um die Uhr von der Sonne beschienen. Die Atmosphäre erwärmt sich aber durch den Klimawandel noch zusätzlich, und das verändert auch die Fläche des Meereises. Das Meereis schrumpft dort also vor allem, weil es schmilzt.

Stefanie Arndt | Die Meereisphysikerin (links) ist Nachwuchsgruppenleiterin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Sie hat an insgesamt 14 Forschungsreisen in die Polargebiete teilgenommen und erforscht derzeit das antarktische Meereis und dessen Schneeauflage im Weddellmeer.

In der Antarktis bestimmen dagegen die Winde die Meereisausdehnung, weil das Eis von den Luftströmungen entweder fortgetrieben oder zurückgehalten wird. Diese Strömungen variieren, weil die Tiefdruckgebiete um die Antarktis nicht immer an derselben Stelle liegen. Das Weddellmeer, auf das wir unsere Forschung konzentrieren, ist zum Beispiel sehr stark vom Amundsen Sea Low abhängig, dem Tiefdruckgebiet westlich der antarktischen Halbinsel. Wenn das nur ein paar Meter weiter links oder rechts liegt, hat das direkt Folgen für die Meereisausdehnung. Die Temperatur der Atmosphäre spielt dort eine geringere Rolle als in der Arktis. Dafür tragen wiederum die Meeresströmungen mehr Wärme heran, so dass man eine Art Fußbodenheizung hat, die das Meereis von unten schmelzen lässt.

Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf das Meereis?

In der Arktis ist vor allem die atmosphärische Erwärmung entscheidend, die das Meereis von oben immer stärker schmelzen lässt. Dadurch zeigt uns das Eis den fortschreitenden Klimawandel sofort an. Im Süden ist der Prozess ein bisschen komplexer, deswegen kann ich darauf keine endgültige Antwort geben. Dort beeinflusst die globale Erwärmung das Meereis indirekt über mehrere Faktoren. Auf der einen Seite haben wir die Winde, die an die sich verändernden globalen Zirkulationssysteme gekoppelt sind. Das heißt, das wärmere Klima verändert auf diesem Weg die Winde in der Antarktis

Auf der anderen Seite erwärmen sich die globalen Ozeane. Speziell in der Antarktis beobachten wir schon seit vielen Jahren eine Erwärmung der tieferen Wasserschichten. Die hatten bisher keinen Kontakt zum Eis an der Oberfläche. Aber wenn sich jetzt die Winde um die Antarktis verändern und womöglich sogar stärker werden, macht das die Oberfläche des Meeres turbulenter. Durch die Durchmischung wird dieses warme Wasser hochgezogen und verhindert, dass sich an der Oberfläche Eis bildet. Das ist einer der möglichen Gründe, die in der Wissenschaftsgemeinschaft diskutiert werden, warum wir dieses Jahr in der Antarktis so einen starken Eisverlust beobachten.

In der Antarktis gab es trotz der globalen Erwärmung bis 2016 tatsächlich mehr Meereis statt weniger. Gibt es Überlegungen, woran das lag?

Paradoxerweise haben wir die leichte Zunahme damals mit ähnlichen Argumenten erklärt, wie wir sie jetzt beim starken Einbruch des arktischen Meereises diskutieren. Das liegt daran, dass in der Antarktis mehrere Prozesse gegeneinander arbeiten, und vielleicht hat sich die jeweilige Gewichtung der Prozesse geändert – das System ist also möglicherweise gekippt. Bei der Zunahme des Meereises gingen wir davon aus, dass stärkere Winde eine Rolle gespielt haben – in dem Fall, weil sie das Meereis stärker nach Norden transportiert haben, so dass sich die Fläche vergrößerte.

Ein weiterer Faktor ist das abschmelzende Eis auf den Landmassen. Das Schmelzwasser ist leichter als das Meerwasser. Es schwimmt oben und bildet eine Art schützende Schicht zwischen dem sich erwärmenden Ozean und dem Meereis. Womöglich ist diese Schicht nach 2016 instabiler geworden, so dass wärmeres Wasser mit dem Eis in Kontakt kommt und es leichter schmelzen lässt. Mich macht aber ein bisschen unglücklich, dass wir bei so etwas immer nur über die Fläche sprechen. Wir haben viele Daten, welche Fläche das Meereis einnimmt, aber wir wissen leider relativ wenig über das Volumen des Eises. Und dadurch ist die Unsicherheit sehr groß, wie viel Eis wirklich da ist.

Welche Rolle spielt das Volumen des Meereises in der Antarktis? Ich habe bisher gedacht, dass es in der Antarktis nachrangig ist, weil die gigantische Menge neu gebildeten Eises im Winter immer frisches, dünnes Eis ist.

Das stimmt nicht. Das Eis in der Antarktis ist sehr dynamisch. Kalte Fallwinde, die katabatischen Winde, strömen vom antarktischen Kontinent herunter und schieben das Meereis weg. Dadurch öffnen sich so genannte Polynjas, also offene Wasserflächen. In diesen offenen Wasserflächen bildet sich neues Eis und wird vom Wind wieder weggedrückt und zusammengeschoben. Zum Beispiel bilden sich dicke Eisrücken, und dadurch steigt ebenfalls das Volumen. Solche Faktoren müssen wir in Betracht ziehen, wenn wir wissen wollen, wie sich das antarktische Eis entwickelt. Im Weddellmeer, wo wir arbeiten, gibt es den größten Anteil an dickem, mehrjährigem Eis, den wir in der Antarktis beobachten. Und da ist natürlich nicht nur die Fläche wichtig, sondern auch, ob sich die Dicke des Eises verändert. Zum Beispiel weil das Eis von unten schmilzt. Aber das wissen wir bisher noch nicht. Und damit ist unser Bild des Meereises unvollständig.

Warum ist das so? Gibt es nicht genug Daten?

Genau das ist tatsächlich das große Problem. Wir haben insgesamt nicht viele Daten aus den Polarregionen. Über die Antarktis haben wir noch einmal wesentlich weniger Informationen als über den Norden, weil die Region schwieriger zugänglich ist. Es gibt zwar Satellitendaten, die uns erlauben, die Fläche des Meereises zu messen. Aber diese Satellitendaten haben extrem hohe Unsicherheiten, weil wir zu wenig direkte Beobachtungsdaten als Vergleich haben, und weil wir viele Prozesse im Detail nicht verstehen. Das spiegelt sich dann auch in den Modellen wider, mit denen wir versuchen, die Entwicklung nachzuvollziehen.

Ist das extreme Meereisminium dieses Jahr in der Antarktis dann eher eine Art »Perfect Storm«, bei der die verschiedenen Variablen alle in eine Richtung zeigen? Und möglicherweise zeigen manche von ihnen nächstes Jahr in eine andere Richtung, so dass wieder ausreichend Eis dazukommt.

Eisbedeckter Ozean | Das Meereis bildet meist keine geschlossene Schicht, sondern besteht aus Schollen, die der Wind mal zu zerklüfteten Trümmerlandschaften zusammenschiebt, mal auf dem weiten Südozean verteilt.

Die Meereisausdehnung hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, von denen mal der eine, mal der andere überwiegt. Geeignete Winde können dafür sorgen, dass sich das Meereis in einem Jahr wieder recht stark ausdehnt. Aber es ist trotzdem wenig wahrscheinlich, dass es sich wieder völlig erholt. Das liegt an der Physik. Durch die relativ geringe Meereisausdehnung konnte der offene Ozean viel Wärme und Energie aufnehmen. Dadurch schmilzt mehr Meereis oder es bildet sich im Winter langsamer neu. Das ist der gleiche Teufelskreis, durch den das Meereis in der Arktis schrumpft.

Was bedeutet dieses anhaltende Schrumpfen für Klima und Wetter bei uns?

Das zentrale Problem in Arktis und Antarktis ist, dass der Ozean immer offener wird. Wasser absorbiert wesentlich mehr von der einfallenden Sonnenstrahlung als Eis und wird wärmer. Man könnte denken: Mein Gott, der wird ein bisschen wärmer, das ist doch egal. Das ist es aber nicht, weil die Antarktis einer der Bereiche ist, in denen das globale Tiefenwasser gebildet wird. Wenn Meerwasser an der Oberfläche des Ozeans gefriert, wird das zurückbleibende Wasser immer salziger und sinkt schließlich nach unten. Dieses in die Tiefe absinkende Wasser ist einer der großen Motoren für die thermohaline Zirkulation, das globale Strömungssystem der Ozeane. Wenn wir dort weniger Meereis haben, bedeutet das vielleicht, dass sich weniger globales Tiefenwasser bildet.

Das heißt, die globale Zirkulation in den Meeren könnte langsamer werden, was wiederum die Atmosphäre beeinflusst und damit auch das globale Wetter. Das beobachten wir zwar im Moment noch nicht in großem Maßstab, aber es wird über kurz oder lang passieren. Außerdem ist das Meereis eine Art Schutzschild für die Schelfeise dahinter. Und die wiederum beeinflussen, wie viel Eis von der antarktischen Eiskappe ins Meer strömt. Wird das Meereis weniger, kann das bedeuten, dass das dahinterliegende Schelfeis instabil wird. Das würde möglicherweise auf lange Sicht dazu führen, dass mehr Eis vom Kontinent ins Meer fließt und der Meeresspiegel ansteigt.

Was ist von der aktuellen Veröffentlichung von Purich und Doddridge in »Nature Communications Earth & Environment« zu halten, laut der sich der Zustand der Antarktis mit dem aktuellen Meereisminimum grundlegend verändert hat? Ist jetzt tatsächlich, salopp gesagt, ein Kipppunkt überschritten?

Ich bin bei solchen Aussagen immer sehr vorsichtig. Das beginnt schon damit, dass ich den Rückgang des Meereises seit 2016 noch gar nicht als Trend bezeichnen würde. Sieben Jahre sind viel zu kurz, um über einen signifikanten Trend zu reden. Und für den extremen Verlust von Meereis in diesem Jahr gilt im Prinzip das Gleiche. Das sind zwar sicher keine natürlichen Schwankungen mehr, sondern definitiv Auswirkungen des Klimawandels, aber wir wissen nicht, wie es weitergeht. Es ist keineswegs gesagt, dass wir von jetzt an immer eine so geringe Eisausdehnung sehen.

Und es gibt Argumente, die dagegensprechen, dass sich das Meereissystem überhaupt fundamental verändert hat. In der Antarktis liegt das ganze Jahr über eine Schneeschicht auf dem Eis, und die hat sich bislang kaum gewandelt. Dabei sollte der Schnee auf veränderte Bedingungen reagieren. Das tut er in der Arktis nämlich sehr stark. Dort ändert sich die Schneeauflage im Jahreslauf drastisch. Im Winter liegt Schnee, im Frühjahr schmilzt er, im Sommer ist er ganz weg und es bilden sich Schmelztümpel, im Herbst überschneit das wieder und der Zyklus geht von vorne los. In der Antarktis sehen wir einen solchen Zyklus nicht, die Schneedecke blieb über die vergangenen Dekaden relativ konstant. Das könnte sich ändern, wenn sich die Atmosphäre immer weiter erwärmt. Dann verändert der Klimawandel irgendwann nicht nur das Eis von unten, sondern auch den Schnee von oben. Aber so weit ist es noch nicht.

Das heißt, in der Antarktis ist es gar nicht so sehr die Fläche des Meereises, die als Indikator des Klimawandels dient, sondern der Schnee darauf?

Wir gehen tatsächlich davon aus, dass der Schnee ein ganz wichtiger Indikator für solche Entwicklungen ist. Aus seinen Eigenschaften und seiner Farbe können wir ableiten, wie sich die Einflüsse der Atmosphäre sowie des Ozeans auf das Meereis verändern. Deswegen ist unser Forschungsschwerpunkt im Weddellmeer anhand der Schneedecke auf dem Meereis genau zu beobachten, wann hier die Klimaerwärmung einsetzt. Das antarktische Meereis ist ganzjährig weiß, in der Arktis dagegen ist es manchmal bläulich. Und jetzt ist die Frage: Kommt es zu dieser Weiß-Blau-Färbung auch in der Antarktis? Wann beginnen wir hier ähnliche Phänomene zu beobachten wie in der Arktis, zum Beispiel Schmelztümpel?

Das ist auch der Grund, warum Sie bei der Bedeutung des diesjährigen Meereisminimums den Ball flach halten?

Man muss da wirklich einen längeren Zeitraum betrachten. Im Moment sehen wir im Weddellmeer keine Veränderungen der physikalischen Eigenschaften von Schnee und Eis, und auch nicht bei der Dicke des Meereises. Das ist natürlich ein völliger Kontrast zu den Flächenverlusten, die man in den Satellitendaten sieht. Und deswegen bin ich selbst total gespannt, ob wir bei unseren zukünftigen Feldforschungen in der Antarktis eine Veränderung gegenüber früheren Jahren bemerken.

Woran würde man einen Kipppunkt beim Meereis erkennen?

Beim Meereis finde ich es generell schwierig, von Kipppunkten zu reden. Und das nicht nur in der Antarktis, sondern auch in der Arktis. Irgendwelche extremen Meilensteine sind einfach kein Zeichen dafür, dass sich die Dynamik grundlegend geändert hat. Wir werden zum Beispiel irgendwann ein Jahr haben, in dem es im Sommer kein arktisches Meereis mehr gibt. Aber im folgenden Winter bildet sich dort wieder neues Eis, weil es eben noch kalt genug ist. Ist der nächste Sommer verhältnismäßig kalt, bleibt dann womöglich ein Teil bis zum nächsten Winter erhalten.

Das heißt, beim Meereis sind solche Entwicklungen immer wieder umkehrbar, wenn es kälter wird. Deshalb gibt es für mich keinen Kipppunkt im klassischen Sinn. Deswegen stehe ich mit dem Begriff in diesem Zusammenhang auch etwas auf Kriegsfuß. Wir können überhaupt nicht absehen, wie es weitergeht oder gar davon ausgehen, dass es jetzt immer weniger Eis geben wird. Schon gar nicht auf Basis eines einzelnen Ereignisses. Dass sich das System rund ums antarktische Meereis verändert, hat sich über die vergangenen sieben Jahre im Sommer angedeutet. Aber wie gesagt: Von einem Kipppunkt als einer Art Weltuntergangsszenario zu sprechen, ist beim Meereis übereilt.

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