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Gehirn: Unsere inneren Universen

Fortlaufend stellt unser Gehirn Vermutungen über die Welt da draußen an und gleicht Sinneseindrücke ab. Damit konstruiert es die Realität, die wir wahrnehmen, als eine Art kontrollierte Halluzination.
Schaffung einer eigenen Welt

Am 10. April 2019 saßen Papst Franziskus, der südsudanesische Präsident Salva Kiir Mayardit sowie der frühere Rebellenführer Riek Machar im Vatikan zusammen beim Abendessen. Sie speisten schweigend. Es war der Beginn einer zweitägigen Klausur. Ihr Ziel: die Versöhnung nach einem Bürgerkrieg, in dem seit 2013 rund 400 000 Menschen ums Leben gekommen waren.

Ungefähr zur gleichen Zeit bereitete mein Doktorand Alberto Mariola ein neues Experiment vor. Sein Ziel: Versuchspersonen sollten erleben, wie sie in einem Zimmer saßen, das es in Wirklichkeit so nicht gab.

Mancher Psychiatriepatient klagt, die Welt um ihn herum oder sogar sein eigenes Ich sei nicht mehr »real«. Was echt ist und was nicht, erscheint in unseren heutigen Gesellschaften zunehmend beliebig zu werden. Kriegsparteien nehmen unterschiedliche Realitäten wahr und glauben fest daran. Dann kann es helfen, schweigend zusammen zu essen, schafft man doch so ein kleines Stückchen gemeinsame Realität, auf das sich alle einigen können – eine stabile Plattform für die weitere Verständigung.

Grundlegend unterschiedliche innere Universen finden wir aber nicht nur bei Kriegen oder Psychosen. 2015 kursierte im Internet das schlecht belichtete Foto eines Kleids und spaltete die Welt: Für die einen (darunter ich) war es blau und schwarz, für die anderen (darunter die Hälfte meiner Institutsbelegschaft) erschien es weiß und golden. Beide Seiten waren von ihrer Sichtweise vollkommen überzeugt und konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass andere das nicht so sahen.

Wie leicht sich unsere Wahrnehmungssysteme austricksen lassen, wissen wir alle. Von dem Phänomen zeugen etwa die allseits beliebten optischen Täuschungen: Zwei Linien scheinen unterschiedlich lang zu sein. Wenn man allerdings nachmisst, erweisen sie sich als exakt gleich. Wir sehen Bewegung in einem Bild, obwohl wir wissen, dass es stillsteht. Die übliche Erklärung für solche Täuschungen lautet: Sie nutzen Eigenheiten der Wahrnehmungsschaltkreise aus, und deshalb nehmen wir etwas wahr, was von der Realität abweicht. In dieser Begründung steckt jedoch die unausgesprochene Annahme, ein richtig funktionierendes System würde dem Bewusstsein die Dinge genau so präsentieren, wie sie wirklich sind.

Tatsächlich besitzen wir kein direktes Fenster zu einer objektiven Realität. Nehmen wir zum Beispiel das Erleben von Farbe – wie etwa das leuchtende Rot meiner Kaffeetasse. Ihre Farbe wirkt ebenso real wie ihre runde Form oder ihre Festigkeit. Solche Aspekte empfinden wir als objektive Eigenschaften der Welt, die von unseren Sinnen aufgenommen und unserem Geist durch die komplexen Mechanismen der Wahrnehmung kundgetan werden.

Andererseits wissen wir seit Isaac Newton, dass Farben in der Außenwelt eigentlich nicht existieren. Sie werden vielmehr vom Gehirn aus Mischungen farbloser elektromagnetischer Strahlung unterschiedlicher Wellenlängen zusammengebraut. Farben sind ein kluger Trick der Evolution, denn damit kann der Organismus Oberflächen unter wechselnden Lichtverhältnissen besser im Auge behalten. Und wir Menschen registrieren nur einen winzigen Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum, eingebettet zwischen Infrarot und Ultraviolett. Jede Farbe, die wir sehen, jeder Teil aus der Gesamtheit unserer einzelnen visuellen Welten entspringt diesem Schnipsel der Realität.

Damit können Wahrnehmungserlebnisse keine umfassende Wiedergabe einer objektiven Außenwelt darstellen. Sie sind einerseits weniger, andererseits aber auch mehr als das. Die Realität, die wir erleben – wie Dinge zu sein scheinen –, spiegelt nicht unmittelbar wider, was tatsächlich vorhanden ist. Es handelt sich vielmehr um eine Konstruktion des Gehirns für das Gehirn. Und wenn mein Gehirn anders ist als deins, dürfte auch meine Realität eine andere sein.

Im Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon (um 427–347 v. Chr.) sind Gefangene ihr ganzen Leben lang vor einer Wand gefesselt und sehen nur das Schattenspiel der Objekte, die sich an einem Feuer hinter ihnen bewegen. Den Schatten geben sie Namen, weil sie diese für real halten. Gut ein Jahrtausend später schrieb der arabische Gelehrte Alhazen (um 965–1040), die Wahrnehmung im Hier und Jetzt entspringe nicht einem unmittelbaren Zugang zu einer objektiven Realität, sondern hänge von Prozessen des »Urteilens und Schließens« ab. Nochmals einige Jahrhunderte danach argumentierte Immanuel Kant (1724–1804), das Chaos der uneingeschränkten sensorischen Eindrücke bleibe immer sinnlos, wenn es nicht durch bereits vorhandene Vorstellungen oder »Überzeugungen« eine Struktur erhielte, einschließlich vorgegebener Rahmen wie dem von Raum und Zeit. Kant verwies auf das »Ding an sich«, eine objektive Realität, die der menschlichen Wahrnehmung immer unzugänglich bleiben werde.

Diese Ideen gewinnen heute neuen Auftrieb auf Grund einflussreicher Theorien, laut denen das Gehirn wie eine Art Vorhersagemaschine funktioniert. Demnach beruht die Wahrnehmung der Welt – und des Ichs in ihr – auf einem Prozess der neurobiologischen Vorhersage über die Ursachen sensorischer Signale. Zurückgeführt werden solche Theorien in der Regel auf den deutschen Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz (1821–1894), der Wahrnehmung als einen Prozess der unbewussten Rückschlüsse betrachtete. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts griffen Kognitionsforscher sowie Experten für künstliche Intelligenz Helmholtz’ Gedanken wieder auf und prägten Begriffe wie prädiktive Codierung (predictive coding) und prädiktive Verarbeitung (predictive processing).

Das Gehirn entwickelt und aktualisiert plausible Hypothesen über die Sinneseindrücke

Nach dieser Vorstellung versucht das Gehirn festzustellen, was in der Welt draußen oder im Körperinneren vorgeht, indem es ständig möglichst plausible Hypothesen über die Ursachen seiner sensorischen Eindrücke aufstellt und aktualisiert. Hierfür kombiniert es frühere Erwartungen oder »Überzeugungen« über die Welt mit den neu hinzukommenden sensorischen Daten und berücksichtigt dabei auch die Zuverlässigkeit der Signale. Wissenschaftler formulieren diesen Prozess in der Regel mit Hilfe der bayesschen Statistik, die Vermutungen mit neuen Daten optimiert.

»Man kann Menschen dazu bringen, eine unwirkliche Umgebung so zu erleben, als wäre sie real«

Dabei macht das Gehirn laufend Vorhersagen über sensorische Signale und vergleicht sie mit denen, die über Augen und Ohren sowie über die Nase, die Fingerspitzen und alle weiteren sensorischen Kanäle eintreffen. Aus den Unterschieden zwischen vorhergesagtem und tatsächlichem Input resultiert der »Vorhersagefehler«, mit dem das Gehirn die Prognosen aktualisiert und sich auf die nächste Runde vorbereitet. Dabei versucht es stets, die Abweichung so niedrig wie möglich zu halten. Die daraus entstehende plausible Vermutung ist das, was wir letztlich wahrnehmen.

Um zu verstehen, wie dramatisch eine solche Sichtweise unsere intuitiven Vorstellungen von den neurobiologischen Grundlagen der Wahrnehmung auf den Kopf stellt, muss man sich die Richtung der Signalströme im Gehirn vergegenwärtigen: Wenn wir die Wahrnehmung für ein direktes Fenster zu einer äußeren Realität halten, erscheint es logisch, dass Informationen von den Sinnesorganen zum Gehirn fließen, also von unten nach oben (bottom up). Umgekehrt gerichtete Signale könnten lediglich Zusammenhänge oder Verfeinerungen des Wahrgenommenen beisteuern – mehr nicht. In einer solchen Sichtweise scheint es, als offenbare sich die Welt uns unmittelbar durch unsere Sinne.

Ganz anders das Szenario der Vorhersagemaschine: Hier erfolgt der Hauptteil der Wahrnehmungstätigkeit durch von oben nach unten gerichtete Signale (top down), die Vorhersagen über die Wahrnehmung liefern. Der zum Gehirn gerichtete Strom der Sinneseindrücke dient nur dazu, diese Prognosen zu verfeinern und angemessen mit ihren realen Ursachen zu verbinden. Somit beruht unsere Wahrnehmung mindestens so stark auf einem zur Peripherie gerichteten Informationsfluss wie umgekehrt, wenn nicht noch stärker. Es handelt sich also nicht um ein passives Aufnehmen einer äußeren, objektiven Realität, sondern um einen aktiven Konstruktionsprozess – eine kontrollierte Halluzination (siehe Grafik »Die Ursprünge der Wahrnehmung«).

Die Ursprünge der Wahrnehmung | Nach klassischer Vorstellung (links) funktioniert die Wahrnehmung als direktes Fenster zur äußeren Realität. Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut senden ihre Sinnessignale von unten nach oben (bottom up) zum Gehirn und präsentieren uns die Außenwelt, wie sie ist. Umgekehrt fließende Signale dienen nur dazu, das Wahrgenommene zu verfeinern. Im Gegensatz dazu beruht nach der Theorie der Vorhersagemaschine (rechts) die Wahrnehmung auf von oben nach unten (top down) gerichteten Prognosen, die das Gehirn auf der Grundlage früherer Erfahrungen anstellt. Aus den einströmenden Sinnessignalen ermittelt das Gehirn Unterschiede zur Vorhersage, den Vorhersagefehler, die dann in neue Hypothesen eingehen. Demnach entsteht Wahrnehmung aus einer kontrollierten Halluzination.

Beim Wort Halluzination denkt man meist an Sinneseindrücke, die in klarem Widerspruch zur realitätstreuen normalen Wahrnehmung stehen. Die Theorie der Vorhersagemaschine geht dagegen von einem kontinuierlichen Übergang zwischen Halluzination und normaler Wahrnehmung aus. Beide beruhen auf der Interaktion zwischen den Top-down-Prognosen des Gehirns und den Bottom-up-Signalen der Sinnesorgane, aber während einer Halluzination ist diese Verknüpfung gestört. Was wir so nennen, erweist sich als eine Art unkontrollierter Wahrnehmung.

Daraus folgt keineswegs, dass nichts real wäre. Der englische Philosoph John Locke (1632–1704) unterschied bereits im 17. Jahrhundert zwischen »primären« und »sekundären« Qualitäten. Die primären Qualitäten eines Objekts wie seine Festigkeit oder der Raum, den es einnimmt, existieren unabhängig von demjenigen, der sie wahrnimmt. Sekundäre Qualitäten – wie etwa Farbe – gibt es dagegen nur durch den Betrachter. Daher bedeutet die Interpretation der Wahrnehmung als kontrollierte Halluzination nicht, dass es klug wäre, vor einen Bus zu springen. Der Bus besitzt unabhängig von unserem Wahrnehmungsapparat die primären Qualitäten der Festigkeit und räumlichen Ausdehnung, die uns verletzen können. Die kontrollierte Halluzination ist also nicht der Bus als solcher, sondern die Art, wie er uns erscheint.

Scheinbar sinnlose Flecken

Immer mehr Befunde bestätigen mittlerweile die These von der kontrollierten Halluzination. Betrachten Sie einmal das Bild »Was mag das sein«! Vermutlich erkennen Sie nur eine Ansammlung schwarzer und weißer Flecken. Nun betrachten Sie das Foto mit dem Schmetterling und gehen Sie dann zurück zum ersten! Jetzt sieht das erste Bild für Sie wahrscheinlich anders aus: Wo zuvor nur ein Durcheinander von Flecken erschien, sind nun abgegrenzte Objekte zu erkennen.

Was mag das sein? | Dieses Zweitonbild erscheint wie ein Durcheinander aus schwarzen und weißen Flecken. Jetzt scrollen Sie bitte nach unten!
Dunkler Schmetterling im Grünen | Wenn Sie dieses Foto betrachten und dann wieder zurückscrollen, werden Sie auf dem Zweitonbild von vorher etwas erkennen.

Bemerkenswerterweise haben sich die von den Augen aufgenommenen Sinnessignale beim zweiten Betrachten des Bilds überhaupt nicht verändert. Verändert haben sich lediglich die Vorhersagen des Gehirns über die Ursachen der Sinnessignale. Indem Sie eine neue Wahrnehmungserwartung auf höherem Niveau gewonnen haben, sehen Sie bewusst etwas anderes als zuvor.

Forscher um Christoph Teufel von der britischen Cardiff University testeten damit Patienten, die im Frühstadium einer Psychose zu Halluzinationen neigten. Wie sich zeigte, erkennen diese Personen, nachdem sie mehrfach die vollständigen Abbildungen gesehen hatten, besser als gesunde Kontrollprobanden, was sich hinter solchen Zweitonbildern verbirgt. Mit anderen Worten: Die Neigung zu Halluzinationen wirkt sich auf die Wahrnehmung aus. Genau das ist zu erwarten, wenn psychotische Halluzinationen durch eine zu starke Gewichtung der Prognosen des Gehirns ausgelöst werden, so dass sie dominieren und die Wahrnehmung von ihren äußeren Ursachen entkoppeln.

Mit einem simplen Versuchsaufbau lösten Philip Corlett von der Yale University in New Haven (USA) und seine Kollegen Halluzinationen aus: Ihre Probanden sahen zunächst einen Lichtreiz, wobei gleichzeitig ein Ton erklang. Nach einigen Durchgängen glaubten die Versuchspersonen den Ton zu hören, wenn nur das Licht aufleuchtete. Wie bildgebende Verfahren dabei offenbarten, sind an dieser prädiktiven Wahrnehmung bestimmte Hirnareale wie der tief im Schläfenlappen liegende Sulcus temporalis superior beteiligt, der spezifisch die Top-down-Vorhersagen mit akustischen Signalen koppelt.

Statt Hirnaktivitäten zu untersuchen, simulieren wir in meinem Institut an der University of Sussex verschobene Wahrnehmungsprioritäten mittels virtueller Realität (VR). Keisuke Suzuki konstruierte dafür eine »Halluzinationsmaschine«: Mit einer 360-Grad-Kamera filmten wir zunächst an einem Dienstagmittag einen belebten Platz auf dem Unigelände. Die Aufnahmen verarbeiteten wir dann mit einem Algorithmus auf der Grundlage des Programms »DeepDream«. Dabei wird der Lernprozess eines künstlichen neuronalen Netzes – eines der Arbeitspferde der künstlichen Intelligenz – quasi umgedreht. Unser Netzwerk war darauf trainiert, Gegenstände auf Bildern zu erkennen; wenn es jedoch mehrfach rückwärts läuft und somit statt des Outputs den Input aktualisiert, projiziert es die Dinge auf das Bild, von denen es »glaubt«, sie seien dort. Die Vorhersagen gewinnen gegenüber den einlaufenden Daten die Oberhand und lassen das Gleichgewicht der Wahrnehmungsvermutungen in Richtung dieser Prognosen kippen. Unser Netzwerk konnte insbesondere verschiedene Hunderassen erkennen; und so tauchten in dem Video plötzlich überall Hunde auf. Versuchspersonen, die sich solche verarbeiteten Aufnahmen mit einem VR-Headset ansahen, kamen sich vor wie auf einem psychedelischen Trip.

Mit der Halluzinationsmaschine konnten wir zudem ganz unterschiedliche Erlebnisse erzeugen. Ließen wir beispielsweise das neuronale Netz nicht von der Output-Schicht, sondern von einer seiner mittleren Schichten aus rückwärtslaufen, glaubten die Probanden, statt ganzer Objekte nur Teile davon zu sehen.

Das Theorem des Thomas Bayes |

Als Reverend Thomas Bayes 1761 in der südenglischen Stadt Tunbrigde Wells starb, ahnte niemand, dass einmal eine berühmte mathematische Methode nach ihm benannt werden würde. Der Aufsatz, in dem er ein Problem aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung löste, wurde erst Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Rund 200 Jahre später entwickelten Mathematiker daraus das, was man heute »bayessche Statistik« nennt.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie entstand historisch aus der Beschäftigung mit Glücksspielen. Viele spielbegeisterte (oder spielsüchtige) Fürsten beauftragten Mathematiker mit der Lösung von Problemen am Spieltisch. Auch Thomas Bayes befasste sich damit, etwa in Form dieser Aufgabe: Ein Mann beobachtet eine Lotterie, in der kontinuierlich Gewinne gezogen werden, aber die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns ist unbekannt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit P, dass x Prozent aller Lose gewinnen (in der Formel: A), wenn bei den bisherigen Ziehungen y Prozent Gewinne waren (B)?

Dieses Problem lässt sich theoretisch lösen, indem man umgekehrt die Wahrscheinlichkeit betrachtet, dass y Prozent Gewinne aufgetreten wären, wenn x Prozent aller Lose Gewinnlose sind (B|A). Der entscheidende Dreh ist, bedingte Wahrscheinlichkeiten zu berechnen (etwa die von A vorausgesetzt, dass B), was Statistiker als vertikalen Strich darstellen (A|B). In der heutigen Form lautet Bayes’ Theorem wie oben abgebildet.

Die bayessche Statistik lässt also Vorwissen in die Berechnung einfließen. Um etwa die mittlere Schuhgröße in der Bevölkerung zu bestimmen, könnte man die Füße von 100 Personen ausmessen. Dabei kann jedoch zufällig auch ein extremer Wert herauskommen, etwa eine mittlere Schuhgröße bei Männern von 48, was eher unplausibel ist. Um dies zu vermeiden, sollte man Vorwissen berücksichtigen – zum Beispiel Messungen aus den letzten Jahren. Bayes’ Theorem kalkuliert dieses Wissen mit ein.

Das ist sicherlich beeindruckend, allerdings merkt jeder, dass das Erlebte nicht echt ist, denn trotz ausgeklügelter Computergrafiken liefert derzeit kein VR-Umfeld ein so überzeugendes Erlebnis, dass es nicht von der Realität zu unterscheiden wäre. Dieser Herausforderung stellen wir uns inzwischen mittels einer neuen Einrichtung zur »Ersatzrealität«. Anfang 2019, just als Papst Franziskus mit Salva Kiir Mayardit und Riek Machar in Klausur ging, entwickelten wir ein System, in dem Versuchspersonen eine Umwelt als real erleben – und sie für real halten –, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht ist.

Das irreale Zimmer

Dahinter steckt ein einfacher Trick: Wir machen wieder Panoramaaufnahmen, diesmal allerdings im Innern unseres Labors. Wir bitten unsere Versuchspersonen, auf einem Schemel in der Mitte des Raums Platz zu nehmen und ein VR-Headset aufzusetzen, in das vorne eine Kamera eingebaut ist. Die Probanden sollen sich damit im Zimmer umschauen. Aber ohne es ihnen zu sagen, schalten wir irgendwann um, so dass das Headset jetzt statt der echten Szene das zuvor aufgenommene Panoramavideo zeigt. Die meisten Menschen erleben das Gesehene weiterhin als real, obwohl es sich um eine vorproduzierte Aufnahme handelt.

Offensichtlich kann man Menschen dazu bringen, eine unwirkliche Umgebung so zu erleben, als wäre sie vollständig real. Allein diese Erkenntnis eröffnet Neuland für die VR-Forschung: Wir können ausprobieren, wo die Grenzen dessen liegen, was Menschen als real erleben und für echt halten. Außerdem können wir erkunden, wie sich das Erlebnis, Dinge für real zu halten, auf andere Aspekte der Wahrnehmung auswirkt.

Die Idee, die Welt unseres Erlebens sei nicht real, taucht immer wieder in Philosophie und Sciencefiction, aber auch bei manch nächtlichem Stammtischgespräch auf. Im Spielfilm »Matrix« schluckt der Held Neo eine rote Pille und erkennt, dass alles, was er für real gehalten hat, eine raffinierte Simulation ist, während er in Wirklichkeit in einer Art Brutkasten liegt und intelligenten Maschinen als Energiequelle dient. Der schwedische Philosoph Nick Bostrom von der University of Oxford schloss aus statistischen Berechnungen, wir könnten in einer Computersimulation leben, die aus einem postmenschlichen Zeitalter stammt. Ich stimme seiner Argumentation nicht zu, setzt sie doch voraus, dass sich Bewusstsein simulieren lässt – wovon man meiner Meinung nach nicht mit Sicherheit ausgehen kann –, die Vorstellung macht allerdings schon nachdenklich.

Solche Gedankenspiele mögen zwar reizvoll sein, bringen uns aber nicht viel weiter. Beschränken wir uns auf die Erkenntnis: Unsere Wahrnehmungswelt besteht aus kontrollierten Halluzinationen, mit denen das Gehirn Vermutungen über die letztlich unergründlichen Ursachen der sensorischen Signale aufstellt. Und die meisten von uns erleben solche kontrollierten Halluzinationen als real – allerdings nicht immer. Manche Menschen mit dissoziativen Störungen empfinden ihre wahrgenommene Welt oder sogar ihr eigenes Ich als irreal. Durch psychedelische Substanzen ausgelöste Wahnvorstellungen verbinden ein Gefühl der Unwirklichkeit mit lebhafter Wahrnehmung; das Gleiche gilt für so genannte Klarträume. Synästhetiker kombinieren ihre sinnlichen Erfahrungen; beim Anblick von schwarzer Schrift auf einem weißen Blatt Papier erkennen manche beispielsweise Farben, die sie als nicht real empfinden. Selbst in der normalen Wahrnehmung sehen wir etwa nach einem direkten Blick in eine Lampe das unwirklich erscheinende Nachbild auf der Netzhaut. Somit gibt es zahlreiche Fälle, bei denen wir unseren Augen nicht trauen.

»Wir verhalten uns beim Anblick einer Kaffeetasse, eines heranfahrenden Busses oder unseres Partners eher angemessen, wenn wir diese als real existierend erleben«

Für mich bedeutet das, dass wir die empfundene Realität nicht für gegeben halten sollten. Sie stellt nur einen Aspekt dar, mit dem unser Gehirn seine bayesschen Vermutungen über die Ursachen von Sinneseindrücken anstellt. Doch wozu das Ganze? Vielleicht lautet die Antwort: Eine plausible Annahme über die Welt, die der Realität möglichst nahekommt, ist für unser Dasein sinnvoller als eine, die das nicht tut. Wir verhalten uns beim Anblick einer Kaffeetasse, eines heranfahrenden Busses oder unseres Partners eher angemessen, wenn wir diese als real existierend erleben.

Eine Fülle verschiedener Realitäten

Das Ganze hat auch eine Kehrseite. Sie zeigt sich an der optischen Täuschung mit dem Kleid: Wenn wir Dinge als real erleben, können wir schlecht einschätzen, ob unsere wahrgenommene Welt von den Welten anderer abweicht. Solche Unterschiede mögen zunächst gering sein; sie können sich jedoch festsetzen und verstärken, wenn wir immer mehr unterschiedliche Informationen aufnehmen, die am besten mit unseren individuellen Weltbildern übereinstimmen, um mit Hilfe solch einseitiger Daten unsere Modelle zu aktualisieren. Wir alle kennen diesen Prozess aus den Filterblasen der sozialen Medien und den von uns gelesenen Zeitungen. Ich glaube, dass die gleichen Prinzipien genauso auf einer tieferen Ebene unterhalb unserer gesellschaftlich-politischen Überzeugungen gelten, bis hin zu unserer wahrgenommenen Realität. Sie gelten wahrscheinlich sogar für unsere Selbstwahrnehmung – für die Empfindung, ich zu sein –, denn auch das Ich-Erlebnis stellt seinerseits eine Wahrnehmung dar.

Damit bekommen die konstruktiven, kreativen Wahrnehmungsmechanismen eine unerwartete gesellschaftliche Relevanz. Wenn wir die Fülle der erlebten Realitäten, die sich auf die Milliarden Gehirne auf unserem Planeten verteilen, besser einschätzen können, finden wir vielleicht eine Basis, auf der sich ein gemeinsames Verständnis und eine bessere Zukunft aufbauen lassen – ob zwischen Bürgerkriegsgegnern, zwischen Anhängern verschiedener politischer Parteien oder zwischen zwei Menschen, die zusammen wohnen und Geschirr spülen müssen.

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  • Quellen

Corlett, P. R. et al.: Hallucinations and strong priors. Trends in Cognitive Sciences 23, 2019

Powers, A. R. et al.: Pavlovian conditioning-induced hallucinations result from overweighting of perceptual priors. Science 357, 2017

Seth, A. K., Tsakiris, M.: Being a beast machine: the somatic basis of selfhood. Trends in Cognitive Sciences 22, 2018

Suzuki, K. et al.: A deep-dream virtual reality platform for studying altered perceptual phenomenology. Scientific Reports 7, 2017

Teufel, C. et al.: Shift toward prior knowledge confers a perceptual advantage in early psychosis and psychosis-prone healthy individuals. PNAS 112, 2015

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