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Unterwasserarchäologie: Schätze am Grund unserer Meere

Zahlreiche Zeugnisse der Vergangenheit liegen in Nord- und Ostsee. Sie reichen von steinzeitlichen Lagerplätzen bis zu historischen Wracks. Doch nicht nur die Gezeiten nagen an den Überresten, sondern vor allem der Mensch bedroht einzigartige Funde.
Ostsee-Wrack vor der Küste Stockholms. Archäologen vermuten, dass es sich um die 1678 gesunkene Bodekull handelt, ein schwedisches Versorgungsschiff.

Eines Morgens im September 1931 lief der englische Kutter Colinda zu einer Fahrt aus, die Geschichte schreiben sollte. Der Fischer Pilgrim Edward Lockwood fand in seinem Schleppnetz ein Stück Torf – und darin ein seltsam geformtes Stück Geweih. Lockwood brachte den über 20 Zentimeter langen Fund zu einem Museum. Dort stellten die Experten fest, dass es sich um die Spitze einer Harpune aus der Mittelsteinzeit handelte. Sie war 12 000 Jahre alt. Lockwoods Fang ging als »Colinda-Spitze« in die Forschungsgeschichte ein und lieferte den Beweis, dass zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland einst kein Meerwasser schwappte, sondern Menschen trockenen Fußes umherstreiften.

In jener Phase lag der Meeresspiegel tiefer. Eine Eiszeit ging ihrem Ende zu, doch noch immer waren große Mengen Wasser in Gletschern gebunden. Wo heute die Wellen im Ärmelkanal und in der Nordsee wogen, gingen Menschen auf die Jagd. Erst als die bis zu drei Kilometer hohen Eisriesen auf der Nordhalbkugel weiter abtauten, füllte sich die Region allmählich mit Wasser. Vor zirka 8600 Jahren waren dann die meisten Gebiete überspült. Heute schlummert das Flachland, das einst Flüsse, Seen, Wälder und vereinzelte Hügel bedeckte, unter teils zehn Meter mächtigen Sedimentschichten am Ozeangrund. Je nach Region erhebt sich der moderne Meeresspiegel dutzende Meter über dem alten Bodenniveau. Doch die Zeugnisse des damaligen Lebens sind weiterhin vorhanden.

Forscher gehen von einer 90 000 Quadratkilometer großen Paläolandschaft allein unter der Nordsee aus. Sie hat den Namen Doggerland erhalten – nach einer Sandbank, der Doggerbank. Hinzu kommen die südwestlichen Teile der Ostsee. In beiden Meeresgebieten wurden bereits 2700 prähistorische Fundplätze geortet. Archäologen entdeckten Schädel von Auerochsen, Werkzeuge der Steinzeit und Reste versunkener Wälder.

Der zweite Untergang

»Auf dem Meeresboden ist ein Archiv der Menschheitsgeschichte zu finden«, sagt Christian Anton. »Doch durch menschliche Aktivitäten sind diese Relikte bedroht.« Anton ist Biologe und wissenschaftlicher Referent an der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Halle an der Saale. Gemeinsam mit Meeresforschern und Unterwasserarchäologen veröffentlichte er einen Aufruf, der auf die Situation des Kulturerbes unter Wasser aufmerksam machen soll. Denn das droht erneut unterzugehen.

Energie- und Rohstoffgewinnung in Nord- und Ostsee nehmen zu, heißt es in dem Dokument der Leopoldina. In den historischen Boden werde immer öfter eingegriffen. Für Windkraftanlagen müssen Fundamente in den Meeresgrund getrieben werden. Die Anbindung der Windräder an das Stromnetz erfordert das Verlegen unterseeischer Rohre und Kabel. Dazu werden die Sedimente, die uralte Zeugnisse über lange Zeiträume bedeckt und konserviert haben, abgetragen oder umgelagert. Kulturspuren und Überreste liegen dadurch offen. »Zugleich sind sie dann der Erosion ausgesetzt und können nach kurzer Zeit vergehen«, beschreiben die Autoren die Situation.

Beil | Ein niederländischer Fischer klaubte das mesolithische Steingerät aus seinem Netz. Das zirka 20 Zentimeter lange Stück ähnelt Beilen aus England. Offenbar standen die Menschen des Doggerlands über weite Distanzen im Austausch.

Anton und seine Kollegen haben einen langen Katalog von Bedrohungen zusammengestellt. Dazu zählen der Sand- und Kiesabbau auf dem Meeresboden, die Verwendung von Schleppnetzen in der Fischerei, das Ausbaggern von Schifffahrtsrinnen, der Tunnelbau, der Anstieg der Wassertemperatur und die Versauerung der Ozeane durch den Klimawandel.

Was an Land nicht erhalten bliebe

All diese Faktoren greifen vor allem Artefakte aus organischem Material an, wie Holz und Knochen. An Land findet man sie ohnehin selten, weil sie im abwechselnd trockenen und feuchten Boden oft längst vergangen sind. Im Wasser hingegen erhalten sich insbesondere Hölzer außergewöhnlich gut. Ein Beispiel: Vor der Ostseeinsel Poel stießen vor rund 20 Jahren Archäologen auf den Fundort Timmendorf-Nordmole I, in zirka drei Meter Tiefe. Es war ein Lagerplatz, einst an der Küste gelegen, wo die Menschen der späten Mittelsteinzeit ihre Abfälle im flachen Wasser entsorgten. Funde von Fischknochen verraten, dass die Bewohner Dorsch, Plattfische und Aale fingen.

Die Taucher vom Landesamt für Kultur und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern entdeckten auch Holzteile, die in eine Grube verstürzt waren. Die Grube erwies sich als wahre Schatzkiste. Sie enthielt ein einzigartiges Fundstück: eine Feuersteinklinge, an der sich ein hölzerner Griff erhalten hatte. Um diesen war Garn aus Lindenbast gewickelt, vermutlich, um das Werkzeug zu fixieren und gut halten zu können. An Land sind von steinzeitlichen Messern meist nur die Klingen übrig, von den Griffen fehlt längst jede Spur.

Mit Hilfe von C-14-Datierungen der Hölzer ließen sich Grube und Messer von Timmendorf-Nordmole auf die Zeit zwischen 4400 und 4100 v. Chr. datieren. Worauf die Forscher genau an dieser Stelle gestoßen waren, ist aber bis heute nicht ganz klar. Sie nehmen jedoch an, dass es sich um einen Vorratsspeicher gehandelt hatte.

Der Nachfahre der Wikinger von Wismar

Zu den bekanntesten Zeugnissen des Kulturerbes unter Wasser gehören Wracks. Insbesondere gesunkene Schiffe aus Holz überdauern viele hundert Jahre lang, gerade wenn sie im Schlick der Ostsee lagern. Und wer die Sprache der Archäologie versteht, kann in den Überresten lesen wie in einem Geschichtsbuch. Die Wracks geben Aufschluss über die Entwicklung der Seefahrt und erlauben Einblicke in die Gesellschaften der Vergangenheit. Wie in Wismar in Mecklenburg-Vorpommern.

Erst 2017 hatten Forscher am Grund der Wismarer Bucht drei Wracks erspäht, archäologisch dokumentiert und die Überreste des größten Schiffs Teil für Teil geborgen. Es erhielt den schlichten Namen »Großes Schiff von Wismar«. Denn wie der einst 26 Meter lange Lastkahn wirklich hieß, ist nicht bekannt. Dendrochronologische Untersuchungen der Hölzer ergaben, dass sie zwischen den Jahren 1184 und 1190 in Schweden geschlagen wurden. Das Wrack ist demnach mehr als 800 Jahre alt.

Kunst ganz alter Meister | Aus der Nordsee stammt dieser Knochen eines Wisents. Das Besondere: Das Stück ist 13 500 Jahre alt und mit feinen Zickzacklinien dekoriert. Es gibt insgesamt fünf ähnlich verzierte Funde in Europa, einen davon in Wales.

Der Baustil verriet den Archäologen um Jens Auer vom Landesamt für Kultur und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, dass der mächtige Kahn einen Nachfolger der Wikingerboote darstellte. Die Planken aus Kiefernholz wurden in Klinkerbauweise zusammengesetzt, dabei überlappte die obere Planke ein Stück weit die untere. Zudem machen Größe und Baudetails klar: Das Schiff segelte sehr wahrscheinlich nicht unter der Flagge eines einfachen Händlers. Auer und seine Kollegen haben den dänischen König Waldemar II. (1170–1241) im Verdacht, der damals sein Handelsgebiet ausweitete.

Sicher ist: Noch im 12. Jahrhundert war das große Schiff in der Wismarer Bucht versenkt worden – absichtlich. Mit dem Wrack wollte Waldemar vermutlich die Hafeneinfahrt eines Handelsstützpunkts sichern. Das war ehedem gängige Praxis. Forscher kennen sie von anderen Fundstellen wie Schleswig oder Roskilde auf der dänischen Ostseeinsel Sjælland. Man nahm alles Brauchbare vom Schiff und schickte es auf den Grund der Hafeneinfahrt. Und nur wer seine Lage kannte, konnte unbeschadet vorübersegeln. Unbekannt war aber bisher, dass Wismar zu dieser Zeit bereits eine Rolle im Ostseehandel spielte. Viel mehr noch: Der Ort war vor dem 12. Jahrhundert nirgendwo verzeichnet. Die Stadtgeschichte Wismars muss nun korrigiert werden.

Die beiden Schwestern der Vasa

Wie viele versunkene Schiffe auf dem Grund von Nord- und Ostsee liegen, lässt sich kaum genau schätzen. Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie zählt 3000 Wracks allein in deutschen Küstengewässern. Doch die Forscher um Christian Anton von der Leopoldina sind davon überzeugt, dass diese Zahl viel höher anzusetzen ist. Die meisten Überreste befänden sich dabei nicht in der Nordsee, sondern in der viel kleineren Ostsee. Dort ist der Tidenhub wesentlich schwächer, die Gezeiten spielen praktisch keine Rolle. Dadurch bleiben die Schiffe am Meeresgrund länger erhalten – solange sie nicht von Menschenhand zerstört werden. Denn das Binnenmeer birgt Aufsehen erregende Funde.

Vor nicht allzu langer Zeit, im Winter 2019, entdeckten Meeresarchäologen zwei Kriegsschiffe aus dem 17. Jahrhundert vor der Insel Vaxholm nahe Stockholm. Bisher gehen die Forscher vom Hauptstadtmuseum Vrak davon aus, dass es sich zumindest bei einem der Wracks um eine historisch bezeugte Schwester der berühmten Vasa handelt. Dieses 69 Meter lange Flaggschiff war mit seinen 64 Kanonen der kurzlebige Stolz der schwedischen Flotte. Es lief 1628 vom Stapel und kenterte nach nicht einmal anderthalb Kilometern Fahrt. Der Grund war ein Konstruktionsfehler.

Die Vasa wurde 1961 aufwändig geborgen und konserviert. Heute zählt sie zu den großen Touristenattraktionen Stockholms. Die beiden neu entdeckten Wracks wollen die Archäologen nicht heben, sondern unter Wasser untersuchen und Erkenntnisse über den schwedischen Schiffsbau der frühen Neuzeit sammeln. Sie vermuten zudem, dass es sich bei ihnen um Galeonen handelt, die während des Dreißigjährigen Kriegs zum Einsatz kamen.

Die Gesetzeslage ist unklar

Entdeckungen wie vor Stockholm könnten in den kommenden Jahrzehnten unwahrscheinlicher werden. Einige Faktoren dafür sind klimatisch bedingt. Durch die Erwärmung der Meere gibt es immer weniger Seegras, das die Reste schützend umgeben könnte. Überdies breitet sich die Schiffsbohrmuschel aus und zerfrisst die Holzplanken. Noch drastischer gehen Schatzjäger und Tauchtouristen zu Werk, die in die Wracks eindringen und historische Gegenstände mitnehmen. Im Fall von Schlachtschiffen wird dabei oft die Totenruhe gestört. Viele gesunkene Schiffe des 20. Jahrhunderts gingen mit ihrer Besatzung unter und sind als Kriegsgräber ausgewiesen. Außerdem gibt es zahlreiche Bauvorhaben. Und das kulturelle Erbe würde dabei nicht immer ausreichend berücksichtigt. »Das größte Problem für Wracks und andere historische Zeugnisse ist, dass die rechtliche Lage nicht geklärt ist«, sagt Christian Anton.

Grabung am Grund | Ein Unterwasserarchäologe dokumentiert Teile des Großen Schiffs von Wismar im dortigen Hafengebiet.

Das Meer vor der deutschen Küste ist in drei Zonen aufgeteilt, für die unterschiedliche Regelungen gelten. Das Staatsgebiet erstreckt sich zwölf Seemeilen (zirka 22 Kilometer) ins Gewässer hinein. Dort gelten dieselben Gesetze wie an Land. Dahinter beginnt die so genannte ausschließliche Wirtschaftszone, kurz AWZ. Sie kann bis zu 200 Seemeilen (zirka 370 Kilometer) ins Meer hineinreichen – das hängt jedoch von den angrenzenden Gebieten der Nachbarländer ab. Die AWZ vor Deutschland ist etwa so groß wie Nordrhein-Westfalen. In diesem Bereich hat der Küstenstaat noch weit gehende Rechte. Hinter der AWZ beginnt die Hohe See, in der rechtlich die Freiheit der Meere gilt. Die internationalen Gewässer stehen unter keiner Staatshoheit.

Während innerhalb der Zwölfmeilenzone die Auflagen und Gesetze des Denkmalschutzes der jeweiligen Bundesländer gelten, sieht die Lage in der AWZ anders aus. »Es ist bedenklich, dass der Schutz des kulturellen Erbes in dieser Zone deutlich schwächer ausfällt als auf deutschem Staatsgebiet«, beurteilt Christian Anton die Lage. Die Autoren der Leopoldina fordern deshalb, dass für den Bereich dieselben archäologischen Standards erhoben werden.

Schutz des Kulturerbes unter Wasser – ohne Deutschland und Österreich

»Was wir brauchen, ist auch eine bessere Zusammenarbeit mit der Industrie«, sagt Anton. »Die Daten, die die Firmen bei den Voruntersuchungen eines Bauvorhabens sammeln, sind wertvoll für die Forschung.« Ein Bohrkern, der Informationen über die Beschaffenheit des Untergrunds liefert, kann für Archäologen ebenfalls interessant sein. Gut möglich, dass darin Pollen und Pflanzenreste konserviert sind, die über die einstigen klimatischen Verhältnisse in Doggerland Auskunft geben. In England, erklärt Anton weiter, sei es üblich, dass große Firmen ihre Daten an die Wissenschaftler weiterreichen. »Bei uns in Deutschland ist die Industrie darüber verwundert, dass niemand diese Daten abfragt.« Als mögliche Lösung schlägt die Expertengruppe der Leopoldina vor, hier zu Lande eine Fachbehörde mit den nötigen Kompetenzen einzurichten.

»Das größte Problem für Wracks und andere historische Zeugnisse ist, dass die rechtliche Lage nicht geklärt ist«
Christian Anton, Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle an der Saale

Schon 2001 rief die UNESCO ein Abkommen ins Leben, das Kulturzeugnisse in Gewässern schützen soll: die UNESCO-Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Die unterzeichnenden Staaten verpflichteten sich, kommerzielle Ausbeutung von Schiffswracks und historischen Orten zu vermeiden und die Denkmäler zu bewahren – und zwar nicht nur in ihren Hoheitsgewässern, sondern auch in der AWZ. Im Klartext: Sie müssen archäologische Fundstätten dokumentieren und den Handel mit Artefakten, die älter als 100 Jahre sind, unter Strafe stellen. Bis heute haben 64 Staaten die Konvention der UNESCO unterzeichnet, darunter Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und die Schweiz. Deutschland und Österreich sind nicht dabei.

Ein möglicher Grund: die staatliche Organisation im Föderalismus. »In Deutschland sind die Bundesländer für ihre Gebiete zuständig«, sagt Anton. »Und jedes hat seine eigenen Regelungen.« 3 der 16 deutschen Länder haben längere Küstenbereiche: Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Der Biologe von der Leopoldina plädiert dafür, dass jene Bundesländer eine gemeinsame Regelung finden, damit im Anschluss die UNESCO-Konvention auch von Deutschland ratifiziert werden kann. Was wäre der Effekt? Kapitäne müssten dann beispielsweise ihre Flaggenstaaten davon unterrichten, wenn sie Grabungen und Tauchgänge an archäologischen und historischen Fundplätzen beobachten. »Das bedeutet in nationaler Konsequenz, dass kein Schiff unter deutscher Flagge irgendwo auf den Weltmeeren an illegalen Ausgrabungen teilnehmen darf«, heißt es dazu in einer Erklärung der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Unterwasserarchäologie. »Dies ist ein wirksames Mittel im Kampf gegen Schatzsucher.« Würden doch viele Schiffsunternehmen davon profitieren, selbst oder im Auftrag anderer Fundplätze anzusteuern und Objekte aus den Gewässern zu hieven.

Beifang der niederländischen Bauindustrie

Auch vor der Küste der Niederlande greift die Industrie in das Kulturerbe unter Wasser ein – und wirft Archäologen Artefakte aus Doggerland direkt vor die Füße. Luc Amkreutz versucht, möglichst viele Fundstücke aus der Steinzeit zu retten. Der niederländische Forscher sammelt für das Archäologische Nationalmuseum in Leiden, das Rijksmuseum van Oudheden, Strandgut aus Doggerland. Die Objekte stammen nicht von Ausgrabungen, denn »dafür ist die Nordsee zu dunkel und die Strömung zu stark«, erklärt Amkreutz. Was im Depot des Wissenschaftlers landet, ist Beifang der Bauindustrie.

Uralter Niederländer | Vom Schädel eines Neandertalers ist nur noch die Stirn- und Brauenpartie übrig. Das Knochenfragment kam vor der niederländischen Küste ans Licht. Es ist der erste Nachweis eines Neandertalers in dem Land. Archäologen tauften den Überrest eines jungen Mannes »Krjin« (Quirin).

»Maasvlakte«, zu Deutsch Maasfläche, nennt sich eine Erweiterung des Rotterdamer Hafens, die in den 1960er Jahren angelegt und zwischen 2008 und 2013 nochmals vergrößert wurde – mit Sand aus dem Meer. Dazu holten Saugbagger mehr als 50 Millionen Kubikmeter Sediment aus der Nordsee und schütteten es an der Baustelle auf, bis genug Landmasse entstanden war. Auf dem neuen Gebiet fanden Spaziergänger immer wieder Objekte aus der Steinzeit: Feuersteinklingen, Geweihspitzen, Tier- und Menschenknochen – Artefakte aus Doggerland.

Nicht nur bei Rotterdam förderte das schwere Gerät Funde herauf. Auch vor der Küste der Provinz Südholland pumpten Saugbagger große Mengen Sediment aus dem Meer. Diesmal, um die Küste vor Erosion zu schützen. Im Jahr 2011 kamen innerhalb von sechs Monaten am »Zandmotor« über 20 Millionen Kubikmeter Sand an Land – und mit ihnen tausende archäologische Objekte. »Die Leute fanden so viele Stücke, dass wir Sammelstellen dafür einrichteten«, sagt Amkreutz. Heute würden 160 ehrenamtliche Helfer regelmäßig die Strände ablaufen. »Die Archäologie Doggerlands ist zu einer Bürgerwissenschaft geworden.«

Zu den spektakulärsten Funden zählt der Teil eines altsteinzeitlichen Schädels. »Es ist der erste Neandertaler der Niederlande«, berichtet der Forscher. Denn in dem Küstenstaat fehlen die sonst typischen Stätten wie Höhlen, in denen Relikte der Frühmenschen die Zeiten überdauert haben könnten. An einem weiteren Artefakt, einer Feuersteinklinge, haftete ein Stück Birkenpech, das offenbar vor 50 000 Jahren ein Neandertaler als Griff angeklebt hatte, um die Klinge leichter handhaben zu können – ein seltener Beweis für den Erfindungsreichtum der Steinzeitmenschen.

Unter den Funden seien auch viele Knochen von anatomisch modernen Menschen in gut erhaltenem Zustand. Vermutlich lag in 10 oder 20 Kilometer Entfernung vor der Küste ein Bestattungsplatz. Nun können die Forscher einige Gebeine davon untersuchen, aber die Fundstelle selbst hat der Saugbagger für immer zerstört. »Diese Art Archäologie ist ein zweischneidiges Schwert«, findet Amkreutz. In der Nordsee herrsche jedoch industrieller Hochbetrieb, der sich nicht aufhalten ließe. »Also sollten wir so eng wie möglich mit der Industrie zusammenarbeiten.«

Ein Wald in der Ostsee

Nicht viel anders ist die Lage in der Ostsee: Im Sediment liegen ganze Fundregionen verborgen, die es zu schützen gilt. In der Wismarer Bucht fanden Forschungstaucher mehrere hundert Stümpfe und einige Stämme von Bäumen auf einer mehrere Kilometer großen Fläche – ein ganzer Wald war dort im Wasser versunken. Er steckt in einer Torfschicht, die den Zerfall bislang verhindert hat.

Für die Archäologen ist Holz wertvoller als Gold. Es lässt sich mit Hilfe der Dendrochronologie und der C-14-Methode relativ genau datieren. So ergab die Untersuchung von Proben, dass die Bäume von Wismar etwa um 6000 v. Chr. abgestorben und umgestürzt waren – nämlich als die Küste überspült wurde. Damit konnte ein genaues Datum der europäischen Klimageschichte gewonnen werden: Während der Großteil des Doggerlands schon um 8600 v. Chr. unterging, dauerte es an dieser Stelle der Ostsee noch etwa 2000 Jahre länger, bevor der Boden vollends überspült war. Im Umfeld des versunkenen Waldes entdeckten die Ausgräber zudem steinzeitliche Werkzeuge. Offenbar waren die Menschen einst vor dem ansteigenden Wasser in höher gelegene Regionen geflohen. Heute liegen die versunkenen Bäume der Wismarer Bucht in acht Meter Tiefe.

Das Große Schiff von Wismar | Oben im 3-D-Scan auf dem Grund der Wismarer Bucht, unten als Modell im Maßstab 1 : 20. Die Forscher haben den Lastkahn aus dem 12. Jahrhundert geborgen und die Teile mit Hilfe eines Handscanners vermessen. Auf diesen Aufnahmen beruhen die 3-D-ausgedruckten Modellteile.

In Mecklenburg-Vorpommern mit seinen zahlreichen Unterwasserfundplätzen geht man nach Meinung von Christian Anton einen Schritt in die richtige Richtung. Denn beim Landesdenkmalamt in Schwerin arbeitet seit 2018 Jens Auer als erster fest angestellter Unterwasserarchäologe. Dass die Behörde diese Stelle überhaupt eingerichtet hat, liegt laut Auer an der wachsenden Industrie im Küstenbereich. »Es kommen immer mehr Windparkanlagen und Pipelines auf den Meeresboden. Das sind Großprojekte, die archäologisch begleitet werden müssen.«

Wracks – nicht aus Holz, sondern aus Plastik

Auer soll dafür sorgen, dass es vor der Küste von Mecklenburg-Vorpommern erst gar nicht zu Zerstörungen durch Bauarbeiten kommt. »Wir versuchen, Wracks und Bodendenkmäler an Ort und Stelle zu bewahren«, erklärt der Archäologe. »Nur wenn sicher ist, dass man eine Rohrleitung nicht um einen Fundplatz herumlegen kann, graben wir aus.«

Taucher, die Bootsreste beschädigen und ausräumen, lassen sich jedoch nicht immer dingfest machen. Es würden derart viele Schiffe über die Ostsee fahren, erklärt Auer, dass nicht alle überwacht werden könnten. Daher bemerkt kaum jemand, wenn Plünderer am Werk sind. Einen Beitritt Deutschlands zum UNESCO-Abkommen hält Auer deshalb für notwendig. Ebenso wichtig sei es, ein Bewusstsein für die historische Bedeutung der Wracks bei Tauchern zu wecken.

Denn die Schiffe sollen nach Möglichkeit ungefährdet an Ort und Stelle liegen bleiben. In der Vergangenheit haben Forscher in der Regel versucht, solche Funde zu bergen. Das ist technisch möglich, aber aufwändig. Sobald das Holz mit Sauerstoff in Kontakt kommt, beginnt es zu trocknen und zu zerfallen. Deshalb mussten die gehobenen Planken permanent feucht gehalten und mit chemischen Substanzen behandelt werden.

»Die Archäologie Doggerlands ist zu einer Bürgerwissenschaft geworden«
Luc Amkreutz, Archäologe, Rijksmuseum van Oudheden in Leiden

Heute gehen die Forscher anders mit Wrackfunden um. »Wir bergen die Hölzer der Schiffe und vermessen sie«, erklärt Auer. Dazu zeichnen der Archäologe und sein Team die Bauteile einzeln mit einem Handscanner auf und vermerken Konstruktionsdetails am Computer. Das Große Schiff von Wismar haben die Wissenschaftler auf diese Weise in nur 37 Tagen dokumentiert. Sie lichteten 240 von insgesamt 316 Holzteilen ab. »Dann stellen wir 3-D-Modelle aus Kunststoff her. Daran können wir forschen«, sagt Auer. Die empfindlichen Originale werden nach dieser Behandlung wieder versenkt, allerdings in Einzelteilen. Für die Wissenschaft sei das ausreichend, erklärt Auer. Denn für Nachuntersuchungen könnten die Stücke jederzeit wieder geborgen werden. Laut dem Unterwasserarchäologen ist das momentan der einzig praktikable Ansatz, um Schiffswracks frei zu legen und zu bewahren.

Damit sie in den Sedimenten von Nord- und Ostsee überhaupt erhalten bleiben, pochen die Experten auf dem Festland auf stärkere Schutzmaßnahmen durch Politik und Behörden. Christian Anton: »Deutschland muss für das kulturelle Erbe unter Wasser dieselben Regeln gelten lassen wie bei den Bodendenkmälern an Land.«

Land unter | Jahrhundert um Jahrhundert flutete die Nordsee das Doggerland, bis es vor rund 8600 Jahren das Meiste der einstigen Landfläche überdeckte. Der Grund: Der Eisschild über Nordeuropa schmolz allmählich ab, und die Landmassen hoben sich an.

Land unter

Wo sich heute die Nordsee erstreckt, befand sich einst Landfläche mit üppiger Vegetation: das Doggerland. Dies belegen mesolithische Funde vom Meeresboden, die Archäologen zahlreich dokumentiert haben. Die auffälligste Erhebung dürfte damals die Doggerbank gewesen sein. Die rund 300 Kilometer lange und in durchschnittlich 30 Meter Meerestiefe gelegene Sandbank befindet sich heute zwischen England und Dänemark.

Als das letzteiszeitliche Maximum überschritten war, begann der Eisschild über Nordeuropa vor zirka 16 000 bis 18 000 Jahren abzuschmelzen. Der Meeresspiegel stieg allmählich und überspülte im Lauf von 10 000 Jahren das Flachland. Wie schnell sich der Küstenverlauf veränderte, können Forscher inzwischen gut abbilden, allerdings auf Grund von Messschwankungen nicht auf den Meter genau.

Die nacheiszeitliche Landschaft in Nordeuropa formte sich dabei noch durch einen weiteren Prozess neu, den Fachleute als postglaziale Landhebung bezeichnen. Was hat es damit auf sich? Über weite Teile von Nordeuropa hatte zuvor ein riesiger Eisschild gelastet – an der mächtigsten Stelle über dem Nordosten von Schweden, so schätzen Forscher, war er rund 2,7 Kilometer dick. Als das Eis zurückging, verringerte sich auch das Gewicht, das auf die Erdkruste drückte und diese in den Erdmantel presste. Die Folge: Die Erdkruste hob sich nun wieder an. So stieg das Land in den ehemals vereisten Regionen nach oben, doch im Gegenzug sackten die Regionen am einstigen Gletscherrand ab – und beschleunigten somit den Meeresspiegelanstieg vor allem in den Regionen an den westlichen und südlichen Eisrändern.

Die Landmassen hoben und senkten sich allerdings nicht gleichmäßig. Wie die beiden Archäologen Geoff Bailey von der University of York und Hauke Jöns vom Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung erläutern, war die Ostsee in der Zeit von 14 000 bis 6000 v. Chr. nicht dauerhaft mit den Gewässern der damaligen Nordsee verbunden, sondern bildete phasenweise auch einen Süßwassersee.

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