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News: Unvermeidlicher Selbstbetrug

Je öfter ein Angler von seinem Fang erzählt, umso größer wird der Fisch. Nicht nur beim sprichwörtlichen Anglerlatein und Seemannsgarn verändern sich die Erinnerungen an frühere Ereignisse, fast jede Begebenheit wird in unserem Gedächtnis nachträglich verfälscht. Manchmal glauben wir uns sogar an Vorgänge zu erinnern, die niemals stattgefunden haben. Erstaunlicherweise können wir dieser Selbsttäuschung nicht einmal dann widerstehen, wenn wir bewußt darauf achten, nicht hereinzufallen.
"Selbst wenn Sie die Menschen restlos über die Möglichkeit illusorischer Erinnerungen aufklären, versetzt sie das nicht in die Lage, ihre Denkprozesse zu kontrollieren und den Fehler zu vermeiden", sagt Kathleen McDermott von der Washington University in St. Louis. "Die wichtigste Frage ist jetzt, wie und wann diese falschen Erinnerungen entstehen und vermieden werden können."

In der Oktober-Ausgabe 1998 der Zeitschrift Memory und Language beschrieben McDermott und ihre Mitarbeiter ein Experiment, aus dem hervorgeht, daß unser Gedächtnis nicht wie ein Videorecorder arbeitet. Stattdessen ist der Vorgang des Erinnerns ein konstruktiver Prozeß, bei dem einerseits Erinnerungsbruchstücke verarbeitet werden müssen und andererseits eine vollständige Handlung entstehen soll.

Sie konfrontierten Studenten, die sich als Versuchspersonen gemeldet hatten, mit Listen von Wörtern, die einen gemeinsamen inhaltlichen Kontext haben. So passen zu dem Thema "Schlaf" etwa Begriffe wie "Bett", "Traum", "Decke", Kopfkissen" und andere. Insgesamt gab es 20 Aufzählungen mit jeweils 15 Wörtern. Bei der Hälfte der Listen stand der Hauptbegriff (in dem Beispiel wäre dies "Schlaf") nicht dabei. Die Studenten wurden gebeten, eine Tonbandaufnahme anzuhören, auf welcher die Wortlisten vorgelesen wurden. Anschließend sollten sie sagen, ob das besondere Wort dabei war oder nicht.

In der Versuchseinleitung wurde den Probanden ganz genau erklärt, worum es in dem Test ging. Die Forscher erläuterten ihnen das Konzept der falschen Erinnerungen und verdeutlichten es anhand von Beispielen. Sie wurden angewiesen, sorgfältig darauf zu achten, bei den Versuchsreihen aufmerksam zu sein und falsche Erinnerungen zu vermeiden. Um die Aufgabe zu vereinfachen, fragten die Wissenschaftler direkt im Anschluß an das Verlesen einer Liste, ob der kritische Begriff aufgetreten sei. "Den Ergebnissen zufolge sind Menschen nicht sonderlich gut darin, diese einfache Aufgabe zu bewältigen, selbst wenn sie über das Phänomen der fehlerhaften Erinnerung informiert wurden", sagte McDermott.

Die Forscher haben zwei mögliche Erklärungen für den Effekt: Die Illusionen könnten auftreten, weil das nicht vorhandene, aber in den Kontext passende Wort aufgrund der Assoziation in das Bewußtsein springt, sobald die Liste den Probanden vorgelegt wird. Alternativ dazu wäre es denkbar, daß die Verarbeitung der Information unterhalb der bewußten Ebene stattfindet, wo dann die Verbindung zu eng verwandten Wörtern etabliert wird.

McDermott nimmt an, daß es uns Menschen schwerfällt, zwischen dem zu unterscheiden, was wir extern gehört, und dem, was wir intern selbst dazugedichtet haben. Selbst beim ernsthaften Versuch, beide Quellen der Erinnerung zu trennen, treten Fehler auf. Wie in diesen und anderen Versuchen gezeigt wurde, sind bei geschicktem Druck von außen auch die falschen Erinnerungen detailgenau. So glaubten einige Studenten, die Position eines Wortes in der Aufzählung angeben zu können, obwohl das Wort überhaupt nicht vorkam.

"Anscheinend handelt es sich um einen sehr natürlichen Vorgang", meint McDermott. "Ich glaube, wir sollten nicht so überrascht sein, denn das ist die Art, wie wir normalerweise die Welt wahrnehmen. Ein Film besteht zum Beispiel aus einer Reihe von Einzelbildern, aber wir nehmen sie als ein bewegtes Bild wahr. Der Geist verfährt mit dem Gedächtnis genauso: Er benutzt Schlußfolgerungen, um eine manchmal unvollständige Abbildung der Vergangenheit zusammenzusetzen."

Siehe auch

  • Spektrum der Wissenschaft 1/98, Seite 63
    "Falsche Erinnerungen"
    (nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)

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