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News: Unvertrauter Feind

Sie stehen allein auf weiter Flur und hören plötzlich das Heulen eines Wolfes oder das tiefe Brummen eines Bären. Wie reagieren Sie? Die meisten Menschen werden sicherlich unruhig, mustern ihre Umgebung und suchen womöglich sogar ein Versteck, auch wenn keine direkte Gefahr besteht. Das ist die normale Verhaltensweise eines potenziellen Beutetiers, das auf seinen Jäger trifft. Nicht so jedoch Elche, die seit einigen Generationen keinen dieser natürlichen Feinde zu Gesicht bekamen - sie lassen sich kaum beirren. Aber haben sie erst einmal schlechte Erfahrungen gemacht, sind sie außerordentlich schnell lernfähig.
In vielen Regionen Europas und Nordamerikas konnten Elche und andere Huftiere seit der Jahrhundertwende ein relativ unbeschwertes Leben führen – zumindest was die Gefahr durch natürliche Feinde wie Wölfe oder Bären betrifft: Jäger hatten die Raubtiere nach und nach ausgerottet. Seit einigen Jahren jedoch versuchen Ökologen, die ursprünglichen Räuber wieder anzusiedeln, mit mehr oder weniger Erfolg. Für die Elche in Nordamerika und Skandinavien bedeutete dies, dass plötzlich neue Risiken in ihr Leben traten – ausgehend von Tieren, die sie nie zuvor gesehen hatten.

Wie reagierten sie darauf? Um diese Frage zu beantworten, versteckten sich Joel Berger von der University of Nevada und seine Mitarbeiter unter einem Elchkostüm und pirschten sich an weidende Elche heran. Nah genug herangekommen, warfen sie Stofffetzen in die Runde, die nach Bären, Wölfen oder – als Kontrolle – menschlichem Urin rochen. Außerdem spielten sie ihnen Aufnahmen von heulenden Wölfen oder Koyoten vor.

Die Ergebnisse waren eindeutig: Elche, in deren Verbreitungsgebiet in Alaska immer Wölfe und Bären lebten, reagierten, wie es in diesem Fall geraten ist: Sie spitzten die Ohren, musterten aufmerksam die Umgebung, zeigten sich aggressiv oder verließen gar den Futterplatz. Ganz anders ihre Räuber-unerfahrenen Artgenossen in Skandinavien und Wyoming. Sie ließen sich kaum stören, kamen sogar teilweise neugierig näher, um den ungewohnten Geruch genauer zu erkunden – ohne Anzeichen von Aggressivität, die einen Wolf oder Bär durchaus in die Flucht schlagen können.

Aber auch hier erwies sich, dass schlechte Erfahrungen fürs Leben schulen. Denn am Rande einer sich ausdehnenden Bärenpopulation ist die Todesrate unter Elchen größer als im Zentrum. Kein Wunder, erklärt Berger. Solange die Tiere die Gefahr noch nicht einschätzen konnten, gab es für sie auch keinen Anlass, darauf entsprechend zu reagieren. Doch sie lernen schnell: Elchmütter, die ihr Kalb an Wölfe verloren hatten, reagierten fünfmal empfindlicher auf deren Heulen als unbedarfte Tiere. Eine Generation reicht also aus, um die Wachsamkeit gegenüber der Räuber wieder zu wecken und so den Nachwuchs zu schützen.

Das ist ermutigend, meint Berger. Denn viele Ökologen befürchteten, dass die wieder angesiedelten natürlichen Feinde den Bestand der unbedarften Beutetiere in den Gebieten gefährden könnten und vergleichen das sogar mit dem Aussterben zahlreicher Huftiere nach den Eiszeiten, die dem plötzlichen Druck durch jagende Menschen nicht gewachsen waren. Wenn sich jedoch alle Beteiligten so schnell an die veränderten Bedingungen anpassen können wie die Elche, dann düften diese Bedenken unbegründet sein.

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  • Quellen
Science 291: 1036–1039 (2001)

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