UV-Strahlen: Sonnenlicht als Heilmittel

Jeden Morgen nach dem Duschen setzt Kathy Reagan Young eine Schutzbrille auf und stellt sich 23 Zentimeter vor eine Lichtbox von der Größe eines kleinen Heizstrahlers. Die Frau aus Virginia Beach drückt einen Knopf, und die Lampen der Box beginnen in einem schummrigen Violett zu leuchten. Vier Minuten lang badet sie jede Seite ihres Oberkörpers in den ultravioletten Strahlen. Dann widmet sie sich ihren täglichen Aufgaben.
Dass Young einen völlig normalen Alltag leben kann, ist bemerkenswert. 2008 erhielt sie die Diagnose multiple Sklerose (MS): eine schwere Krankheit, bei der das Immunsystem die Schutzhüllen der Nerven angreift und allmählich zerstört. Die Symptome beginnen mit Schwäche, Krämpfen, Seh- und Sprachstörungen, starker Müdigkeit und dem, was Young als »Cog Fog« bezeichnet – eine leichte, dauerhafte kognitive Beeinträchtigung. Schübe können Phasen auslösen, in denen die Betroffenen die motorische Kontrolle verlieren und teilweise gelähmt sind. Young hat viele solcher Episoden durchgemacht. Doch seit sie die Lichtbox nutzt, hat sich ihr Gesundheitszustand merklich verbessert. Angetrieben von ihren Erfahrungen mit MS setzt sie sich für die Belange Betroffener ein und produziert einen beliebten Podcast zum Thema.
UV-Licht wird schon seit Jahren zur Behandlung von Schuppenflechte, auch als Psoriasis bekannt, eingesetzt. Da für die therapeutische Anwendung nur ein begrenztes Spektrum eingesetzt wird, kann es in diesem Fall keinen Hautkrebs auslösen. Young erhielt mit einem Rezept eine Lampe des Medizintechnikunternehmens Cytokind. Das Unternehmen wollte die Methode auf MS und andere Autoimmunerkrankungen ausweiten und war auf der Suche nach Feedback von Betroffenen. Young testete das Gerät und schlug Verbesserungen vor: Es sollte kleiner und handlicher sein, da MS oft Taubheitsgefühle in den Händen verursacht, und eine Erinnerungsfunktion für Menschen mit »Cog Fog« enthalten. Zu ihrer Überraschung verschwand ihre Müdigkeit wenige Monate nach Beginn der Lichtbehandlung.
Jahrelang musste sich Young mehrmals täglich ins Bett legen, um sich auszuruhen. Seit ihrer »UV-getriebenen Wiedergeburt« – wie sie es nennt – gehört das der Vergangenheit an. »Ich war in einer Besprechung, und jemand sagte zu mir: ›Wow, du wirkst ziemlich energiegeladen!‹«, erzählt Young. »Ich hatte selbst noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Und dann sagte meine Tochter zwei Tage später zu mir: ›Mama, was nimmst du denn?‹«, erinnert sie sich. »Ich glaube, wir waren alle ein bisschen überrascht, wie schnell und eindeutig das passiert ist.«
Der Schweregrad einer MS-Erkrankung wird mit dem MS-Aktivitätsindex (MSDA) bewertet, der die Konzentration bestimmter Entzündungsmoleküle im Blut berücksichtigt. Bei Young lag dieser einige Zeit nach Behandlungsbeginn bei eins von zehn – dem bestmöglichen Wert. Seit mehr als einem Jahr verharrt er dort. MS wird zwar durch UV-Licht nicht heilbar. Noch immer leidet Young vorübergehend unter Schmerzen und Kribbeln. Doch seit sie ihren Antrieb zurückgewonnen hat, ist der Alltag erträglicher geworden. »Es ist unglaublich«, findet sie. »Früher haben mich meine Freunde eingeladen, etwas zu unternehmen, und ich habe erst zugesagt. Aber dann immer wieder abgesagt, weil ich zu erschöpft war. Das ist jetzt nicht mehr der Fall.«
Young gehört zu den ersten Personen in den USA, die eine UV-Phototherapie zur Behandlung von MS getestet haben. Womöglich steht sie damit an der Spitze einer Entwicklung, die unsere Sichtweise auf Licht und dessen Einfluss auf eine ganze Gruppe von Krankheiten verändern könnte. Bei Autoimmunerkrankungen wie MS und Diabetes Typ I greift das Immunsystem den eigenen Körper und seine Organe an. Schätzungen zufolge sind weltweit mehr als 350 Millionen Menschen von solchen Krankheiten betroffen. Doch wirksame Therapien sind rar.
Bislang wurden nur sehr wenige klinische Studien zur Lichttherapie bei MS durchgeführt. Allerdings zeigen zahlreiche medizinische Untersuchungen, dass UV-Licht – der energiereichste Teil des Sonnenlichtspektrums – eine überraschende Fähigkeit besitzt: Es ist offenbar in der Lage, ein außer Kontrolle geratenes Immunsystem zu beruhigen. Neuere Studien liefern zudem Hinweise darauf, dass die UV-Therapie auch bei anderen Autoimmunerkrankungen wie Diabetes Typ 1, rheumatoider Arthritis, Morbus Crohn und Colitis wirksam sein könnte. All diese Erkrankungen treten häufiger bei Personen auf, die nur wenig in der Sonne sind. Das gilt ebenso für Alzheimer und Herz-Kreislauf-Erkrankungen; auch hier besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Immunsystem und Entzündungen.
Nun hoffen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Mechanismen zu entschlüsseln, mit denen UV-Licht das Immunsystem von seinem Alarmzustand befreit. Dazu untersuchen sie bestimmte Moleküle in der Haut wie Urocaninsäure und Lumisterol. Diese Stoffe können die Aktivität des Immunsystems beeinflussen und reagieren auf Licht, indem sie eine Signalkaskade auslösen, die jedes Organ im Körper erreicht. Befürworter der Lichttherapie sind überzeugt, dass die Forschung hierzu ein Blockbuster-Medikament hervorbringen könnte – eine Art Ozempic für Autoimmunerkrankungen.
Fachleute, die nicht direkt zu diesem Thema forschen, äußern sich zurückhaltender. Doch auch sie sind sich einig, dass gerade etwas Wichtiges passiert: »Die UV-Lichttherapie ist viel versprechend«, sagt etwa Annette Langer-Gould, MS-Forscherin und Neurologin beim US-Gesundheitsversorgungsunternehmen Kaiser Permanente in Los Angeles. Sie fordert aber strengere und umfangreichere Studien zu verschiedenen Krankheiten und ein tieferes Verständnis der zu Grunde liegenden Mechanismen. Das würde zudem helfen, ein Rätsel zu lösen, das die Wissenschaft seit mehr als einem Jahrhundert beschäftigt: Warum sind Menschen in lichtarmen Regionen so häufig von bestimmten Krankheiten betroffen?
Die Entdeckung der positiven Effekte von UV-Licht begann im gleichen Moment, als dessen Gefahren bekannt wurden. 1974 zeigte die Immunologin Margaret L. Kripke, die später die Abteilung für Immunologie am MD Anderson Cancer Center in Texas gründete, dass UV-Licht bei Mäusen Hauttumoren auslösen kann. Übertrug sie die Wucherungen auf die Haut einer anderen Maus, bekämpfte deren Immunsystem die Krebszellen zuverlässig. Zehnmal wiederholte sie das Experiment, jedes Mal verschwanden die Tumoren. Als sie jedoch das Immunsystem des neuen Wirts mit Medikamenten unterdrückte, entwickelten sich Krebsgeschwüre. »Das war der Schlüssel!«, erinnerte sie sich später.
»UV-Licht lindert Entzündungen in der Haut. Aber es reduziert auch Entzündungen im zentralen Nervensystem, in der Bauchspeicheldrüse und im Darm«Prue Hart, Immunologin
Wieso also wuchs der Tumor in der ursprünglich bestrahlten Maus? Hatte das UV-Licht nicht nur Krebs ausgelöst, sondern auch die natürliche Immunantwort der Maus unterdrückt? In einer Reihe von Experimenten stellte Kripke fest, dass UV-Strahlung tatsächlich gleich auf doppelte Weise wirkt: Sie beschädigt nicht nur die DNA der Hautzellen und löst Mutationen aus, die zu Krebs führen können. Sie hindert zusätzlich das Immunsystem daran, die Haut zu überwachen und die entstehenden Krebszellen abzutöten. Diese Erkenntnis revolutionierte unser Verständnis von Hautkrebs. Doch aus evolutionärer Sicht wirkte sie widersinnig. Warum sollte es für unser Immunsystem vorteilhaft sein, in Gegenwart eines häufigen Karzinogens untätig zu bleiben?
Inzwischen weiß man: Immunzellen haben im Lauf der Evolution eine heikle Balance entwickelt. Die Haut ist unsere erste Kontaktstelle zur Außenwelt und daher zahlreichen Stressfaktoren ausgesetzt: Hitze, Kälte, Verletzungen, Insektenstichen, Mikroorganismen aller Art. In den Millionen Jahren, die unsere Vorfahren unter dem tropischen Himmel Afrikas lebten, war die Sonnenstrahlung der größte Stressfaktor. »Das ist eine Herausforderung für den Körper«, sagt Prue Hart, Immunologin am Kids Research Institute Australia in Perth. »Es ist die bedeutendste Umweltbelastung, der wir ausgesetzt sind. Wir haben uns so entwickelt, dass wir damit klarkommen«, erläutert Hart, die seit mehr als 30 Jahren untersucht, wie sich Sonnenlicht auf das Immunsystem auswirkt.
Die gefährliche Seite des Sonnenlichts
Sonnenlicht ist lebenswichtig – doch zu viel davon kann krank machen. Die energiereiche UV-Strahlung der Sonne dringt tief in die Haut ein und schädigt dort das Erbgut der Zellen. Langfristig kann das zu Hautkrebs führen. Besonders gefährlich ist UVB-Strahlung: Sie verursacht Sonnenbrand und geht direkt mit einem erhöhten Risiko für schwarzen Hautkrebs – das Melanom – einher.
Studien zeigen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit häufig Sonnenbrand hatten, als Erwachsene ein deutlich erhöhtes Hautkrebsrisiko aufweisen. Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der stationär behandelten Hautkrebserkrankungen in Deutschland in den letzten 20 Jahren stetig gestiegen. 2023 wurden 116 900 Menschen mit der Diagnose Hautkrebs in einer Klinik behandelt. Das waren 87,5 Prozent mehr Fälle als 2003, wie das Statistische Bundesamt in einer Pressemitteilung schreibt. Besonders stark haben die Behandlungsfälle des so genannten weißen Hautkrebses zugenommen, die sich binnen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben. Auch diese Krebsform wird durch langjährige und intensive UV-Strahlung mit ausgelöst.
Gefährdet sind vor allem helle Hauttypen und Menschen, die in sonnenreichen Regionen leben. Ebenso erhöhen häufige Solariumbesuche das Hautkrebsrisiko. Die Haut »vergisst« nicht – selbst kleinere Schäden summieren sich über Jahrzehnte auf. Zwar schützt sich der Körper durch Bräunung und Hautverdickung, doch dies reicht nicht aus, um intensiver oder dauerhafter UV-Belastung standzuhalten. Deshalb gilt: Sonnenlicht in Maßen genießen, sich mit Kleidung und Sonnencreme schützen sowie Schatten aufsuchen.
Würde das Immunsystem auf jeden Sonnenstrahl abwehrend reagiert, lebten wir laut Hart in einem permanenten Entzündungszustand. Unsere Haut wäre geplagt von Ausschlägen, Nesselsucht und Autoimmunerkrankungen. Um das zu vermeiden, hat das Immunsystem gelernt, sich zurückzuhalten. In prähistorischen Zeiten war das sinnvoll: So blieben die Schäden meist gering, die Haut reparierte sich selbst, das Leben ging weiter. Aber der Ansatz hat seinen Preis – hin und wieder entsteht Hautkrebs. Heutzutage, da Menschen länger leben, können die langsam wachsenden Tumoren der Haut groß werden und sich auf andere Körperteile ausbreiten. Ein Beleg dafür ist die polymorphe Lichtdermatose (PLE), auch als Sonnenallergie bekannt. Bei dieser häufigen Erkrankung unterdrückt das Sonnenlicht das Immunsystem nicht. Betroffene entwickeln nach Sonneneinstrahlung juckende Hautausschläge und Bläschen, erkranken allerdings seltener an Hautkrebs.
Die Photoimmunologie
Durch die Entdeckung, dass UV-Licht unsere Immunreaktionen beeinflusst, entstand eine völlig neue Disziplin: die Photoimmunologie. Die ersten Forscher auf dem Gebiet, darunter Margaret L. Kripke, konzentrierten sich auf die negativen Auswirkungen der Immunsuppression. Doch bald entdeckten sie auch einige positive Aspekte. So fanden sie etwa eine Erklärung für eine seit Jahrhunderten bekannte Beobachtung: Sonnenlicht lindert Psoriasis – eine Erkrankung, bei der sich schmerzhafte, juckende Schuppen auf der Haut bilden. Als klar wurde, dass Psoriasis eine Autoimmunerkrankung ist, bei der das Immunsystem die eigenen Hautzellen angreift, ergab plötzlich alles Sinn: UV-Licht – sei es von der Sonne oder einer Lampe – bessert die Symptome, indem es die Entzündungsreaktion dämpft.
Erstaunlich war, dass die Wirkung nicht nur lokal begrenzt war. Bestrahlte man eine entzündete Hautstelle, konnte das die Symptome an anderen Orten ebenfalls lindern. Noch überraschender: Menschen mit Psoriasis leiden oft zusätzlich an anderen Autoimmunerkrankungen. Die Phototherapie verbesserte manchmal auch diese Symptome.
Photoimmunologen untersuchten die Mechanismen genauer und fragten sich, ob nicht nur die äußere Hautschicht auf UV-Licht reagiert. Im Labor setzten sie Mäuse UV-Strahlung aus und bemerkten, dass infolgedessen das gesamte Immunsystem der Tiere in einen entzündungshemmenden Zustand überging. Bei Mäusen mit Autoimmunerkrankungen verbesserte sich dadurch ihr Gesundheitszustand. Die Forscher begannen, ihre Ergebnisse mit den Beobachtungen von Epidemiologen zu vergleichen, die bei Menschen ähnliche Effekte dokumentiert hatten.
Vom Breitengrad abhängig
Seit mehr als einem Jahrhundert beobachten Fachleute, dass viele Krankheiten, insbesondere Autoimmun- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einem Breitengradgradienten folgen. Rechnet man andere Einflussfaktoren wie Ernährung, Bewegung und sozioökonomische Faktoren heraus, nehmen diese Krankheiten mit steigendem Breitengrad zu. Forscher vermuteten alle möglichen Ursachen – Klima, Ernährung, kosmische Strahlung, Stoffe im Wasser –, aber nichts passte.
1940 zeigte der Arzt Frank Apperly vom Medical College of Virginia, dass US-Bundesstaaten und kanadische Provinzen mit mehr Sonneneinstrahlung zwar eine höhere Hautkrebssterblichkeit, aber insgesamt niedrigere Krebssterblichkeitsraten aufwiesen. Es war bekannt, dass Sonnenlicht Hautkrebs auslösen kann. Apperly vermutete, dass es zugleich vor anderen Krebserkrankungen schützt, konnte den Mechanismus jedoch nicht erklären. 1980 entdeckten dann die beiden Brüder Frank und Cedric Garland von der Johns Hopkins University in Baltimore ein starkes Nord-Süd-Gefälle bei Darmkrebsraten. Im Rahmen des staatlichen Programms »Krieg gegen den Krebs« hatten sie Karten zur Krebsinzidenz erstellt und analysiert. In einer viel beachteten Veröffentlichung im »International Journal of Epidemiology« vermuteten sie, dass Vitamin D eine entscheidende Rolle spielt.
Bis dahin galt Vitamin D vor allem als Mikronährstoff, der Rachitis vorbeugt. Es wird in der Haut mit Hilfe von Sonnenlicht gebildet und hilft, Kalzium in die Knochen zu transportieren, wodurch diese stabiler werden. Die Garlands vermuteten jedoch, dass Vitamin D noch viel mehr bewirken könnte. Tatsächlich entdeckten Forschergruppen eine umgekehrte Korrelation zwischen dem Vitamin-D-Spiegel und dem Risiko für Dutzende Krankheiten wie Brustkrebs, Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz, Depressionen und verschiedene Autoimmunerkrankungen.
Damit begann der Siegeszug des Vitamin D. Ärzte auf der ganzen Welt empfahlen, das neue Wundermittel einnehmen. Für Menschen mit einem Vitamin-D-Mangel gilt das noch heute. Doch klinische Studien zeigen, dass die Einnahme von Vitamin D bei keiner der oben genannten Krankheiten hilft. Zudem treffen diese Leiden Menschen, die Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, genauso häufig wie jene, die darauf verzichten. Die meisten von uns erhalten bereits genug Vitamin D über Sonnenlicht sowie die Ernährung. Mit Vitamin D angereicherte Milchprodukte und fettreicher Fisch wie Lachs sind beispielsweise gute Quellen. Wie auch immer die Sonne es schafft, unzähligen Krankheiten vorzubeugen: Die Mechanismen sind offensichtlich viel komplexer als nur eine erhöhte Produktion von Vitamin D.
Die Erkrankung mit dem auffälligsten Breitengradgefälle ist MS. In der Nähe des Äquators tritt sie fast nie auf, aber mit jedem Breitengrad steigt die Rate um durchschnittlich 3,64 Fälle pro 100 000 Menschen. In Nordeuropa und Nordamerika liegt sie bei weit über 100 Fällen pro 100 000 Menschen. Dieser Gradient lässt sich weltweit beobachten, und er hat sich im Lauf der Zeit verstärkt. Er zeigt sich sogar innerhalb einzelner Länder wie Frankreich, Großbritannien, Schweden, Neuseeland, Kanada und den USA.
Einige der verlässlichsten Daten hierzu stammen aus Australien, einem der wenigen Länder mit einem großen Spektrum an Breitengraden, einer relativ homogenen Bevölkerung und einem gut dokumentierten nationalen Gesundheitssystem. Eine Studie von 1981 zeigt, dass die MS-Raten von 12 pro 100 000 Einwohner im tropischen Townsville (19. Breitengrad) auf 21 in Brisbane (27. Breitengrad), 37 in Newcastle (33. Breitengrad) und sogar 76 pro 100 000 Einwohner in Hobart auf Tasmanien (43. Breitengrad) stiegen. Diesen Zusammenhang zwischen Breitengrad und MS-Inzidenz bestätigte Anfang der 2000er Jahre eine weitere Studie: MS trat in den höheren Breitengraden Australiens um ein Vielfaches häufiger auf.
Damals gingen viele Wissenschaftler davon aus, dass eine unterschiedliche Vitamin-D-Versorgung dafür verantwortlich sei, sagt Robyn Lucas, Epidemiologin an der Australian National University und eine der Leiterinnen der Studie. »Vitamin D war damals in aller Munde. Vitamin D bei Krebs. Vitamin D bei Herz-Kreislauf-Erkrankung. Vitamin D bei Autoimmunerkrankungen. Immer Vitamin D«, sagt sie. »Und wir dachten einfach: ›Ja, Vitamin D ist es.‹«
Doch 2010 las Lucas eine Studie, die zeigte, dass UV-Behandlungen Mäuse vor MS schützten, ohne ihren Vitamin-D-Spiegel zu beeinflussen. Zwar lassen sich Versuche mit Mäusen nicht einfach auf den Menschen übertragen, aber die Untersuchung weckte Lucas' Interesse. »Ich hatte gerade die Vitamin-D-Analyse abgeschlossen, als diese Studie veröffentlicht wurde, und ich dachte: ›Okay, schauen wir uns das mal an‹«, sagt sie. »Also habe ich unsere Daten noch einmal geprüft und tatsächlich einen viel stärkeren Effekt durch Sonneneinstrahlung festgestellt.«
Seitdem haben Lucas und andere Forscher überall, wo sie gesucht haben, Hinweise auf die vorbeugende Wirkung des Sonnenlichts bei MS gefunden. Menschen mit den stärksten Sonnenschäden auf den Handrücken – ein präziser Indikator für die im Lauf des Lebens erhaltene Sonneneinstrahlung – weisen nur ein Drittel der MS-Rate bei Personen mit wenig Sonnenschäden auf. Kinder, die weniger als 30 Minuten täglich im Freien verbrachten, hatten ein doppelt so hohes MS-Risiko wie jene, die bis zu einer Stunde draußen waren. Im Vergleich zu Kindern, die durchschnittlich mehr als eine Stunde täglich im Freien weilten, war das Risiko sogar rund fünfmal höher.
Derartige Beobachtungsstudien liefern allerdings keinen Beleg für eine Ursache. Es könnte andere Erklärungen für diese Muster geben. Vielleicht bleiben Menschen mit ersten MS-Symptomen länger drinnen, weil sie sich unwohl fühlen. Vielleicht begünstigt etwas anderes in hohen Breitengraden, dass MS entsteht. Epidemiologinnen und Epidemiologen suchten daher nach weiteren Belegen und fanden zahlreiche. So folgen selbst innerhalb derselben Region die MS-Rückfallraten einem saisonalen Zyklus: Sie steigen im Winter, wenn die Sonne selten scheint. Zudem hängen die Inzidenzraten eng mit dem Geburtsmonat zusammen. Am höchsten sind sie bei Menschen, die den Winter während ihres ersten Schwangerschaftstrimesters im Mutterleib erlebt haben – jener Phase, in der sich Gehirn und Immunsystem entwickeln.
»Wir wissen nicht, was das ›goldene‹ Molekül ist; wir wissen nur, dass es nicht Vitamin D ist«Prue Hart, Immunologin
Zusätzliche Hinweise lieferte eine kleine klinische Studie von Hart. Die Immunologin untersuchte 20 Personen mit dem so genannten klinisch isolierten Syndrom, einer Frühform der MS, die schließlich zu einer vollständigen MS führt. Die Hälfte der Probanden erhielt acht Wochen lang eine UV-Lichttherapie, ähnlich der von Kathy Reagan Young. Sie absolvierten drei Sitzungen pro Woche, jeweils nur wenige Minuten lang. Die andere Gruppe blieb unbehandelt. Bereits eine Woche nach der ersten Behandlung sank der Spiegel der Entzündungsproteine im Blut der UV-Gruppe und blieb nach Ende der Sitzungen niedriger. Drei Monate nach Studienbeginn war der Schweregrad der Erkrankung in der UV-Gruppe um 13 Prozent gesunken, während er in der Kontrollgruppe um 14 Prozent angestiegen war. Diese Werte spiegelten sich in der von den Probanden selbst eingeschätzten Müdigkeit wider. Ein Jahr später hatten alle unbehandelten Teilnehmer eine voll ausgeprägte MS entwickelt, aber 30 Prozent der UV-Gruppe waren verschont geblieben.
Erstaunlich war auch die Tatsache, dass die Wirkung noch Monate nach der ersten UV-Behandlung anhielt. Im Knochenmark entstehen ständig neue Immunzellen, die jeweils nicht lange überleben. Die UV-Strahlung unterdrückt also nicht nur die zirkulierenden Immunzellen, sondern setzt das Immunsystem auf einen toleranteren Zustand zurück. »Ich glaube, UV-Strahlung trainiert unser angeborenes Immunsystem«, sagt Hart. »Sie programmiert bestimmte Untergruppen der angeborenen Immunzellen um, während diese im Knochenmark reifen. Diese Zellen agieren dann eher regulatorisch, als dass sie Entzündungen fördern.«
Harts Annahme passt zu aktuellen Forschungsergebnissen. Sie zeigen, dass das Immunsystem konditioniert wird, wenn es frühzeitig geringen Mengen von Allergenen ausgesetzt ist. Das verhindert später übermäßig starke Reaktionen. »Man erreicht eine Art Gleichgewicht«, sagt Hart. »UV-Licht lindert Entzündungen in der Haut. Aber es reduziert auch Entzündungen im zentralen Nervensystem, in der Bauchspeicheldrüse und im Darm«, führt sie aus. »Ich glaube, sein Potenzial als Regulator der Körperhomöostase hat man noch nicht vollständig erkannt.«
In den vergangenen Jahren stellte sich heraus, dass bei vielen anderen chronischen Krankheiten ebenfalls Entzündungen eine Rolle spielen. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen greifen Immunzellen die Wände der Blutgefäße an und schädigen sie. Alzheimer hängt mit einer leichten, schwelenden Entzündung im Gehirn zusammen. Auch Arthritis, Asthma, Allergien, Diabetes und sogar Depressionen sollen entzündliche Komponenten haben. Womöglich führt unser moderner Lebensstil mit übermäßiger Hygiene dazu, dass unser Immunsystem aus dem Gleichgewicht gerät.
Sonnenlicht beeinflusst offenbar auch den Verlauf einiger anderer Autoimmunerkrankungen – etwa von Diabetes Typ II, bei dem das Immunsystem die Bauchspeicheldrüse angreift und die Insulinproduktion stört. In Südaustralien tritt die Krankheit dreimal häufiger auf als im Norden des Kontinents. In den USA liegt die Erkrankungsrate bei Babys, die im Sommer gezeugt wurden, am niedrigsten. Der Unterschied zeigt sich besonders stark in nördlichen Regionen und weniger in sonnigeren Gegenden wie Hawaii und Südkalifornien.
All diese Ergebnisse ergeben ein sehr überzeugendes Bild, so Lucas. »Wir haben es nun bei MS bei Kindern und Jugendlichen, bei Morbus Crohn und bei Diabetes Typ I nachgewiesen«, sagt sie. »Es gibt übereinstimmende Belege für Autoimmunerkrankungen mit ähnlicher Immunpathologie.«
Die Sonnenlichtpille
Was also sollten wir angesichts der überzeugenden Beweislage tun? Einige Fachleute raten dazu, dass Menschen mit erhöhtem Risiko für Autoimmunerkrankungen mehr Zeit in der Sonne verbringen sollten. Doch kaum ein Gesundheitsexperte würde etwas empfehlen, das bekanntermaßen Krebs auslöst.
Um den optimalen Weg zu finden, müsste man zuerst den molekularen Mechanismus aufdecken, über den die Haut dem Immunsystem signalisiert, sich zu beruhigen. Danach ginge es darum, ein so genanntes Biologikum zu entwickeln – also ein aus lebenden Organismen gewonnenes Medikament, das aus großen Molekülen wie Proteinen, Antikörpern oder anderen biologischen Bestandteilen besteht. »Was ist das Ozempic für Autoimmunerkrankungen?«, fragt John MacMahon, Mitbegründer von Cytokind. »Wo wird man es finden? Gibt es etwas in dieser Photoimmun-Kaskade, das sich identifizieren lässt?«
»Wir wissen nicht, was das ›goldene‹ Molekül ist; wir wissen nur, dass es nicht Vitamin D ist«, sagt Hart. »Also geht man einen Schritt zurück und verabreicht UV-Strahlung. Damit bringt man die Haut dazu, etwas zu produzieren – was auch immer es ist.« Doch eine Pille wäre als Therapie besser als eine Lichtbox, meint MacMahon: »Menschen bevorzugen Pillen.«
Das Problem bei der Suche nach dem magischen Stoff liegt darin, dass man sozusagen eine mikroskopische Apotheke entdeckt, wenn man die Haut mit UV-Licht bestrahlt und nachschaut, was dabei alles entsteht: Neben Vitamin D bildet die Haut Melatonin, Serotonin, Endorphine, Endocannabinoide, Kortisol, Oxytozin, Leptin, Stickstoffmonoxid, Cis-Urocaninsäure, Itaconat, Lumisterol, Tachysterol und ein Dutzend anderer Vitamin-D-ähnlicher Verbindungen, die noch nicht einmal alle einen Namen haben.
Die meisten dieser Moleküle wirken als Hormone oder Neurotransmitter. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn obgleich viele die Haut nur als Barriere betrachten, handelt es sich dabei um das größte Organ des Körpers und einen zentralen Teil des neuroendokrinen Systems. Die Haut kommuniziert ständig mit dem Körper und Gehirn, um den Menschen gesund halten. Zudem ist sie eine wesentliche Komponente des Immunsystems, da sie Abwehrzellen wie T-Zellen, Makrophagen und Neutrophile enthält sowie Zytokine, antimikrobielle Peptide und andere wichtige Akteure.
Reaktionen auf UV-Licht
Wie UV-Licht auf die bunte Mischung einwirkt, ist ebenso elegant wie komplex. So speichert der Körper in der Haut etwa eine Vorstufe von Vitamin D, 7-Dehydrocholesterol. Trifft eine gewisse Menge an UV-Licht auf das Molekül, bricht eine seiner Bindungen auf und seine Atome ordnen sich neu. Es entsteht Prävitamin D3. Bei noch höherer UV-Energie nimmt es eine nochmals andere Struktur ein, die als Lumisterol bekannt ist. Im Blut findet man es in höheren Konzentrationen als Vitamin D. Es wirkt entzündungshemmend und schützt vor Krebs. Die bindungsbrechende Kraft der UV-Strahlung nutzt die Haut, um weitere Moleküle herzustellen, darunter cis-Urocaninsäure und Stickstoffmonoxid, die den Blutdruck senken und Entzündungen im gesamten Körper lindern.
Andere Hautzellen reagieren auf Sonnenlicht, indem sie mehr Pro-Opiomelanocortin produzieren. Letzteres wird anschließend durch Enzyme in drei wichtige Moleküle gespalten: (i) Beta-Endorphin, einen Neurotransmitter, der Wohlbefinden fördert und Stresshormone senkt; (ii) adrenocorticotropes Hormon, das die Ausschüttung von Kortisol auslöst – ein Steroid, das Stress reguliert und Entzündungen hemmt; und (iii) die Alpha-Form des Melanozyten-stimulierenden Hormons, das beschädigte Zellen repariert, entzündungsfördernde Moleküle hemmt und Melanin herstellt, um die Haut zu bräunen.
Der Immunologe Scott Byrne von der University of Sydney hat kürzlich sechs bisher unbekannte Lipidformen entdeckt – darunter zwei Acylcarnitine und ein Phosphatidylethanolamin. Sie werden von der Haut unter UV-Licht produziert und an die Lymphknoten weitergeleitet. Dort treffen verschiedene Immunzellen aufeinander und tauschen Informationen aus. Die Lipide signalisieren den T-Zellen – jenen einflussreichen Immunabwehrzellen, die bei MS-Patienten außer Kontrolle geraten und das Nervensystem angreifen –, dass sie an Ort und Stelle verbleiben und sich nicht weiter vermehren sollen. Dieser Signalweg funktioniert unabhängig von dem Mechanismus, der die Haut daran hindert, Krebszellen zu bekämpfen. Er könnte also viel versprechend für die Entwicklung von Medikamenten sein, da er lediglich die positiven Effekte der UV-Strahlung nutzt, ohne die negativen hervorzurufen.
Niemand versteht bisher vollends das komplexe Zusammenspiel von Zellen und Signalen. Daher wird sich wohl auch keine einfache Lösung auftun: »Es wäre naiv zu glauben, ein einziges Molekül könnte alle durch UV-Strahlung beinflussbaren Gesundheitsprobleme lösen«, sagt Hart. Eine einzige Ursache wäre sicherlich praktisch, »aber wir haben uns über Millionen von Jahren unter der Sonne entwickelt. Wahrscheinlich gibt es mehrere Auslöser«.
Ebenso unwahrscheinlich ist, dass allein die Phototherapie alle Vorteile des gesamten Sonnenlichtspektrums ausschöpfen kann. Doch das muss sie auch nicht. Da sie sicher, einfach und erschwinglich ist, reicht schon ein begrenzter Nutzen. »Die Phototherapie ist im Vergleich zu Biologika sehr günstig«, sagt Hart. »Als Zusatzbehandlung für die entzündlichen Autoimmunerkrankungen ist sie fast ein Selbstläufer.«
Das hat das Interesse der Versicherungsgesellschaften geweckt. Eine UV-Lichtbox kostet etwa 2000 US-Dollar, während der Preis des führenden Wirkstoffs gegen verschiedene Autoimmunerkrankungen – Adalimumab (Handelsname Humira) – bei 80 000 US-Dollar pro Jahr liegt und lebenslang eingenommen werden muss. Inspiriert von dieser Rechnung und klinischen Studien, die zeigen, dass die Phototherapie ebenso wirksam ist wie einige Medikamente, aber weniger Nebenwirkungen hat, stellte die Krankenversicherung von Kaiser Permanente 2200 seiner Psoriasispatienten versuchsweise kostenlose UV-Lichtboxen zur Verfügung. Weniger als ein Drittel von ihnen benötigte anschließend noch Biologika. Kaiser Permanente listet die UV-Therapie nun als empfohlene Behandlung für Schuppenflechte auf.
Laut Annette Langer-Gould, MS-Expertin bei Kaiser Permanente, wäre es zwar interessant zu wissen, ob die Lichttherapiegeräte auch bei MS helfen könnten. Noch sei es aber zu früh, um einen solchen Einsatz zu befürworten. »Die Daten von Hart sind sehr ermutigend«, sagt sie. »Doch die aktuellen Erkenntnisse reichen noch nicht aus, um definitiv zu belegen, dass die Behandlung wirkt und man eine breite Anwendung empfehlen kann. Wir brauchen mindestens eine weitere Studie.« Diese müsste groß genug sein, um nachzuweisen, dass sich die Grunderkrankung der Betroffenen signifikant verbessert. Cytokind führt derzeit eine solche Untersuchung durch, allerdings werden die Ergebnisse wohl noch Jahre auf sich warten lassen.
Bis es so weit ist, können Menschen mit MS durch Phototherapie immerhin eine neue, unerwartete Unabhängigkeit erreichen. »MS raubt einem so viel«, erzählt Young. »Man kann nicht aus dem Bett aufstehen, nicht zur Arbeit gehen, nicht putzen, nicht einkaufen. Für einen Arztbesuch muss man sich eine Mitfahrgelegenheit suchen.« Ihre Tage sind jedoch zumindest vorläufig wieder voll mit Krafttraining, Yoga, Wohltätigkeitsarbeit, Live-Chats, geführten Meditationen und jeden Morgen ein paar Minuten UV-Licht-Bestrahlung. »Das gibt mir viel Kraft«, sagt sie. »Wenn man eine Behandlung findet, die es schafft, dass man sich wieder selbst versorgen kann, ist das schon erstaunlich.«
Die Berichterstattung für diesen Artikel wurde vom Nova Institute for Health unterstützt.
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