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Vaginismus: Wenn Sex unmöglich ist

Kein Sex, dafür höllische Schmerzen, wenn etwas in die Vagina eindringt: Frauen mit Vaginismus leiden oft im Stillen. Was dahintersteckt, und welche Therapie helfen kann.
Abwehrhaltung

Als Lara A. das erste Mal Sex haben will, ahnt sie schon, dass es nicht funktionieren wird. Zuvor hat sie mehrfach versucht, einen Tampon zu benutzen oder sich selbst zu befriedigen. »Doch immer, wenn ich einen Finger in die Vagina einführen wollte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz«, erzählt die 26-Jährige. Dasselbe spürt sie, als ihr damaliger Freund in sie einzudringen versucht. »Ich habe mich sehr geschämt und jedes Mal geweint, wenn es wieder nicht geklappt hat«, sagt sie. Bald darauf endete die Beziehung.

Auch eine Untersuchung beim Frauenarzt ist unmöglich. Der Mediziner beruhigte sie: Sie solle sich Zeit geben. Lara A. nahm ihre Mutter oder andere vertraute Personen mit zu den Vorsorgeterminen. Doch sobald sie auf dem Untersuchungsstuhl saß, war sie wie gelähmt.

Durch Berührung ihrer Vulva kann Lara A. ohne Probleme einen Orgasmus bekommen. »Doch am Eingang der Vagina fing die Verkrampfung an«, sagt sie. Sie suchte im Internet nach Lösungen, bestellte Vibratoren, extra kleine Tampons, Gleitgel und eine leicht betäubende Salbe. Der Frauenarzt empfahl ein Beckenbodentraining, um die Kontrolle über die Muskulatur der Vagina zurückzugewinnen. Nichts half. »Ich hatte sehr starke Angst vor dem Schmerz«, erzählt sie. Erst eine neue Frauenärztin äußerte den Verdacht, der heute eine Diagnose ist: Lara A. hat Vaginismus.

Bei Frauen mit Vaginismus ist der Scheideneingang wie verschlossen. Geschlechtsverkehr oder das Einführen anderer Objekte ist – wenn überhaupt – nur unter starken Schmerzen möglich. Als Ursache wird eine unkontrollierbare Verkrampfung des Beckenbodens und der Vaginalmuskulatur angenommen. Manche Betroffene haben die Symptome schon immer. Bei anderen treten sie erst im Laufe des Lebens auf.

Auch bei Dyspareunie, einer weiteren sexuellen Funktionsstörung, kommt es zu brennenden Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Weil Vaginismus und Dyspareunie nicht klar voneinander abgegrenzt werden können, wurden die beiden Erkrankungen im Diagnosemanual DSM-5 aus dem Jahr 2013 zusammengefasst zur Genito-Pelvinen Schmerz-Penetrationsstörung (GPSPS). Viele Ärzte und Wissenschaftler sprechen aber weiter von Vaginismus. Wir haben uns deshalb hier ebenfalls für diese Bezeichnung entschieden.

Mehr als jede zehnte Frau erlebt Schmerzen beim Sex

Viele Betroffene brauchen wie Lara A. lange, bis sie einen Namen für ihre Symptome finden. Dabei gilt Vaginismus als eine der häufigsten Sexualstörungen von Frauen. In einer Befragung unter Leitung des Sexualwissenschaftlers Peer Briken vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf aus dem Jahr 2020 berichteten fast 11 Prozent der mehr als 2400 Teilnehmerinnen von Verspannungen oder Schmerzen beim Sex. Unter den 18- bis 25-Jährigen waren es mehr als 16 Prozent. Jeweils etwa die Hälfte fühlte sich durch die Beschwerden stark beeinträchtigt, zeigte also Hinweise auf eine Schmerzstörung.

Trotzdem sind sexuelle Probleme bislang wenig erforscht. »Sex ist kein Thema, mit dem wir offen umgehen, noch nicht mal im ärztlichen Zwiegespräch«, sagt die Gynäkologin Andrea Hocke. Sie leitet die Sektion Gynäkologische Psychosomatik am Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde des Universitätsklinikums Bonn und ist Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V. Viele Frauen mit Vaginismus schämten sich sehr, sagt Hocke. »Wenn die Gynäkologinnen ihnen dann sagen, sie sollen sich entspannen, und sie es trotzdem nicht hinkriegen, fühlen sie sich noch schlechter.«

Auch Lara A. gab sich lange selbst die Schuld: »Ich zweifelte an mir und empfand mich nicht als richtige Frau.« Einige Männer, die sich für sie interessierten, reagierten unwirsch oder gar beleidigend, als sie ihnen sagte, dass Sex für sie nicht möglich sei. Sprüche wie »Du brauchst einfach nur einen Mann, der dich ordentlich rannimmt« oder »So wirst du nie jemanden finden, der dich liebt« belasteten ihr Selbstwertgefühl. Berichte zeigen, dass es zahlreichen Frauen mit Vaginismus ähnlich geht. Auch Depressionen und Ängste treten bei ihnen häufiger auf. Ihre Partnerschaften können unter den sexuellen Problemen leiden. Kinder zu bekommen, erscheint vielen unerreichbar.

Dabei gibt es Möglichkeiten, den Vaginismus zu überwinden. Eine standardisierte Behandlungsmethode fehlt jedoch.

Meist ist die Psyche der Auslöser

Andrea Hocke geht individuell auf die Beschwerden der Frauen ein. »Die Therapie braucht Zeit«, sagt die Gynäkologin. Zuerst müsse sie verstehen, was die Ursachen für die Schmerzen und die unwillkürliche Verkrampfung der Vagina sein könnten. Nur selten lassen sich körperliche Gründe finden wie angeborene Fehlbildungen, Infektionen, Wunden oder Narben in Folge einer Genitaloperation.

»Die Therapie braucht Zeit«Andrea Hocke, Gynäkologin

Meist liegt die Erklärung in der Psyche. Andrea Hocke fragt vor allem nach traumatischen Erlebnissen, die Angst oder eine körperliche Abwehrreaktion ausgelöst haben könnten, zum Beispiel Missbrauch, übergriffige Sexualbeziehungen oder schmerzhafte vaginale Untersuchungen. Denn bei traumatisierten Frauen treten sexuelle Funktionsstörungen und Beschwerden gehäuft auf. Lara A. vermutet, dass in ihrem Fall belastende Erfahrungen mit Mobbing und Missbrauch die Ursache sein könnten.

Psychische Vorerkrankungen können der Gynäkologin zufolge ebenfalls einen Einfluss haben. Manche Patientinnen seien extrem perfektionistisch, auch im Hinblick auf die Sexualität. Andere hätten in ihrer Kultur erlebt, dass Geschlechtsverkehr tabuisiert werde. »Letztlich können viele Faktoren zum Vaginismus beitragen«, sagt sie.

Eine mehrstufige Therapie kann helfen, die Beschwerden zu lindern

Der erste Schritt in der Therapie besteht laut Hocke in Aufklärung. Sie sei erstaunt, wie wenig Erfahrung junge Frauen in vielen Fällen mit ihrem eigenen Körper haben. »Sie trauen sich oft nicht mal, einen Finger in die Scheide zu stecken. Oder denken, ihr Jungfernhäutchen sei fest und verschlossen«, sagt die Gynäkologin. Die Unwissenheit verunsichere. »Vielen hilft auch, zu hören, dass sie nicht die Einzigen mit Vaginismus sind.« Hocke klärt mit den Frauen zudem, wie Sexualität wieder freier erlebt werden könnte, und ermutigt sie, offen mit dem Partner darüber zu reden.

Verschiedene Behandlungsansätze können die Gespräche ergänzen. Besonders verbreitet ist ein Training mit Dilatatoren. Diese sehen aus wie unterschiedlich dicke Stifte. Unterstützt von Atem- und Entspannungstechniken führen die Frauen die Dilatatoren nach und nach in die Scheide ein, beginnend mit dem dünnsten. Dadurch wird das Gewebe langsam an die Berührung gewöhnt und gedehnt.

Hilfe für Betroffene

Mit der Suchmaschine der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e. V. lassen sich Fachleute in der Nähe finden: https://dgpfg.de/service/suche-nach-expertinnen/

Der Verein pro familia bietet bundesweit und online Sexualberatung durch Ärztinnen, Psychotherapeutinnen und Sozialpädagoginnen an: https://www.profamilia.de/angebote-vor-ort

Auch ein Beckenbodentraining soll helfen. Psychopharmaka beruhigen oder bauen Ängste ab, eine Injektion mit Botox löst Verspannungen. Eine Psychotherapie ist sinnvoll, wenn Frauen traumatisiert wurden oder unter extremer Angst leiden. Bei Beziehungsproblemen wird eine Paartherapie empfohlen.

Viele Behandlungsansätze sind kaum untersucht

Wie gut diese Therapieansätze tatsächlich dem Vaginismus entgegenwirken, ist jedoch kaum wissenschaftlich untersucht. Für eine Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand ein Team der Sexualmedizinerin Linda Vignozzi von der Universität Florenz lediglich drei randomisiert-kontrollierte Studien zum Thema. In diesen Untersuchungen trainierten Frauen mit Dilatatoren, teilweise ergänzt durch Aufklärung und Strategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Das Ergebnis war ernüchternd: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die keine Behandlung erhalten hatte, zeigten die Teilnehmerinnen nur ansatzweise eine Verbesserung ihrer Symptome. Die Metaanalyse ist wegen der geringen Anzahl an Studien allerdings nur bedingt aussagekräftig.

Das Autorenteam machte daher eine zweite Analyse, in der es die Ergebnisse von 43 Beobachtungsstudien mit insgesamt 1660 Patientinnen betrachtete. Die Frauen hatten verschiedene Therapien ausprobiert (Dilatatoren, kognitive Verhaltenstherapie, Botox, Medikamente oder Beckenbodentraining). Das Fazit fiel deutlich vielversprechender aus: Die Erfolgsquote der Behandlungsansätze lag bei 79 Prozent. Wie häufig die positiven Ergebnisse auf einen Placeboeffekt zurückzuführen sind, lässt sich auf Grund des Aufbaus von Beobachtungsstudien jedoch nicht beurteilen.

In Deutschland hat ein Team um die Psychologin Anna-Carlotta Zarski von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bis 2018 ein onlinebasiertes Selbsthilfetraining für Frauen mit GPSPS entwickelt. Das zehnwöchige Training beinhaltet unter anderem ein Dilatatorentraining, Entspannungs- und Beckenbodenübungen sowie Techniken zum Umgang mit Schmerzen. In einer Studie hatte gut ein Drittel der Teilnehmerinnen innerhalb der folgenden sechs Monate Geschlechtsverkehr. Eine Vergleichsgruppe hatte lediglich Informationen über Vaginismus und mögliche Behandlungsoptionen erhalten. Auch in dieser Gruppe berichtete überraschenderweise jede fünfte Frau, dass Geschlechtsverkehr nun möglich gewesen sei. Eventuell hat sie bereits die Aufklärung darin bestärkt, etwas zu tun.

»Man muss bei der Therapie kleinschrittig und verschiedene Ansätze kombinierend, also multimodal vorgehen«, sagt Andrea Hocke. Dann sei Vaginismus oft gut behandelbar.

Ein erfülltes Sexleben kann trotz Vaginismus möglich sein

Lara A. lernte mit der Zeit Atemübungen und andere Techniken zur Muskelentspannung, übte mit Dilatatoren, trainierte ihren Beckenboden, investierte in Osteopathie. Auf Grund einer Depression begann sie zudem eine psychologische Behandlung. Gegen den Vaginismus kommt sie jedoch nicht an.

Immerhin leidet ihr Liebesleben inzwischen nicht mehr darunter. Denn im Laufe der Zeit lernte sie Männer und Frauen kennen, mit denen sie andere Formen der Sexualität ausprobieren konnte als das Eindringen in die Vagina. Mit ihrem aktuellen Partner macht sie unter anderem Fesselspiele, hat Oralverkehr und nutzt Sexspielzeug. »Viele Männer sind zuerst überfordert, wenn sie eine Frau nicht wie sonst befriedigen dürfen«, sagt Lara A., »dann aber werden sie experimentierfreudig.« Einen Kinderwunsch hat Lara A. nicht. Statt Tampons verwendet sie Binden. Und die Frauenärztin untersucht sie mit Hilfe von Ultraschall über die Bauchdecke.

Heute geht sie offen mit dem Vaginismus um und rät anderen Betroffenen, es ihr gleich zu tun, mit der Frauenärztin zu sprechen und sich nicht vor Männern zu verstecken. Irgendwann wolle sie den Vaginismus überwinden, weil sie neugierig auf Geschlechtsverkehr sei. Doch heute wisse sie, dass sich eine Frau nicht über Sex definiere. »An mich kommen nur Männer heran, die sich wirklich für mich als Mensch interessieren.«

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