Vagusnerv: »Der Rhythmus unseres Herzens sollte atmen wie die Musik beim Jazz«

Julian Thayer erforscht nicht nur die Verbindung zwischen Herz und Gehirn – noch etwas interessiert den 66-Jährigen brennend: wie sich Diskriminierung und Rassismus auf die Gesundheit auswirken. In den USA ist die Zukunft seiner Forschung derzeit unsicher. Anfang August sitzt der Professor von der University of California an der Charité in Berlin in einem schmucklosen Raum. Dabei könnte er uns genauso gut in einem Konzertsaal empfangen: Thayer ist passionierter Musiker und hat mehrere Schallplatten veröffentlicht.
Herr Thayer, Sie erforschen unseren Herzschlag – und Sie spielen Bass in einer Jazzband: Wäre nicht das Schlagzeug als Taktgeber die bessere Wahl gewesen?
Julian Thayer: Ich habe den Bass für mich entdeckt, als ich zehn Jahre alt war. Er ist für mich das Fundament einer Band – der eigentliche Puls.
Können wir uns das Herz als eine Art Metronom des Körpers vorstellen?
In vielerlei Hinsicht: ja. Es gibt sogar Forscher, die sagen, dass alle Säugetiere eine feste Anzahl von Herzschlägen haben – und dass man stirbt, wenn man diese Herzschläge aufgebraucht hat.
Die Anzahl der Herzschläge im Leben soll für alle gleich sein?
Über verschiedene Arten hinweg, ja. Laut der These sind es im Schnitt ungefähr 1,5 Milliarden Herzschläge. Wie schnell ein Lebewesen diese Herzschläge aufbraucht, hängt mit seiner Herzfrequenz und auch mit der Größe des Organismus zusammen. Das Herz eines Elefanten etwa schlägt viel langsamer als das einer Maus – er lebt also länger. Auch vieles, was für uns als Menschen gesund ist, ist typischerweise mit einer niedrigeren Herzfrequenz verbunden.
Aber würde das nicht bedeuten, dass wir keinen Sport treiben sollten, weil unser Herz dann schneller schlägt?
Doch, sollten wir, unbedingt! Wer regelmäßig Sport treibt, hat nämlich eine niedrigere Ruhe-Herzfrequenz – und wird damit potenziell länger leben.
Einen wichtigen Einfluss auf unseren Herzschlag hat auch der Vagusnerv, der zum beruhigenden Teil des autonomen Nervensystems gehört. Sie erforschen, wie dieser Nerv als Vermittler zwischen Herz und Gehirn dient. Was interessiert Sie an dieser Verbindung zwischen Geist und Körper, die Philosophen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten beschäftigt?
Diese Verbindung ist in östlichen Kulturen schon immer bekannt gewesen. Im Westen veröffentlichte Charles Darwin 1872 ein Buch, in dem er beschrieb, dass Herz und Gehirn über den Vagusnerv verbunden sind. Das ist einer der längsten Nerven in unserem Körper, damals hieß er noch »pneumogastrischer Nerv«. Darwin sagte: Bei jeder Aufregung gibt es über den Vagusnerv Wechselwirkungen zwischen Herz und Gehirn, den beiden wichtigsten Organen des Körpers. Ich habe versucht, mit meiner Forschung etwas dazu beizutragen, die tatsächlichen biologischen Signalwege aufzuzeigen.
»Wer regelmäßig Sport treibt, hat nämlich eine niedrigere Ruhe-Herzfrequenz – und wird damit potenziell länger leben«
Wie spricht denn das Herz mit dem Gehirn und das Gehirn mit dem Herzen?
Rezeptoren im ganzen Körper senden über den Vagus Signale an das Gehirn. Er informiert es zum Beispiel, wenn es eine Verletzung gibt, und teilt mit, an welcher Stelle genau. Der Vagusnerv ist also wie ein Wächter im Körper. Wir konnten zeigen, wie die Signale vom Herzen, die über die vagalen Fasern kommen, der Gehirnaktivität vorausgehen. Und dann sendet das Gehirn wieder Signale zurück, um den Körper zu regulieren. Es ist eine Feedbackschleife.
Das Herz spricht also zuerst?
Ja, und das war etwas überraschend, obwohl die Emotionstheorie von William James von Anfang des 20. Jahrhunderts bereits Ähnliches beschreibt. Das war ein berühmter Psychologe und Philosoph, und seine Theorie über Emotionen besagt: Wenn Sie einen Bären bemerken, fangen Sie an zu rennen, und dann verspüren Sie Angst – in genau dieser Reihenfolge. Unsere Gruppe hat die Theorie von William James umfassend untersucht …
… aber vermutlich ohne Bären.
Natürlich! In einer unserer Studien haben wir Menschen Filme schauen lassen und dabei ihre Herz- und Gehirnaktivität sowie eine ganze Bandbreite von Emotionen gemessen, nicht nur Angst. Dabei haben wir beobachtet, dass die Herzaktivität, die mit der physiologischen Erregung einherging, der Gehirnaktivität vorausging. Und die Gehirnaktivität wiederum wirkte dann zurück auf das Herz und erhielt die emotionale Reaktion aufrecht – oder nicht.
Zuerst gibt es also eine körperliche Empfindung – das schneller schlagende Herz – und dann versucht unser Gehirn, diese Signale einzuordnen, und sendet anschließend Rückmeldungen ans Herz? Aber unser Herz kann den Bären doch gar nicht sehen. Es kann doch erst reagieren, wenn die Augen unserem Gehirn gemeldet haben: Da ist ein Bär!
Das läuft außerhalb der bewussten Wahrnehmung ab. Bedenken Sie: Die Gehirnareale, die für die feinere Verarbeitung zuständig sind, wie der präfrontale Kortex, sind aus evolutionärer Sicht relativ neu. Dennoch konnten schon frühere Lebewesen ihren natürlichen Feinden entkommen.
»Dieses primitive System ist noch immer in uns aktiv«
Der präfrontale Kortex ist die Schicht des Gehirns, die rationalisiert.
Er überwacht unter anderem, wie sicher eine Situation ist. Er kann zum Beispiel einordnen: Es besteht keine Gefahr, der Bär ist hinter Gittern, wir sind hier in einem Zoo, entspann dich! Wir haben dazu eine Theorie entwickelt, wir nennen sie »Generalized Unsafety Theory of Stress«. Wir denken, dass die Kampf-oder-Flucht-Reaktion die voreingestellte Standardreaktion des Organismus ist – weil Lebewesen eben auch früher schon, bevor sie diese Hirnregion hatten, einem Feind entgehen konnten. Dieses primitive System ist noch immer in uns aktiv. Und nur wenn das Gehirn Sicherheit erkennt, wird diese Reaktion unterbrochen.
Die Bremse, die uns beruhigt
Dann ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion, die den Körper in Alarmbereitschaft versetzt, so etwas wie das Gaspedal des Organismus, und der präfrontale Kortex betätigt – über den Vagusnerv – die Bremse, damit wir uns beruhigen, wenn es keinen Grund zur Aufregung gibt?
Ganz genau.
Aber wie kommen Sie darauf, dass das Gaspedal, also die Kampf-oder-Flucht-Reaktion, die Standardeinstellung ist?
Wir haben zum Beispiel in einer Studie einen Test mit Epilepsiepatienten gemacht, die vor einer Hirnoperation bestimmte Untersuchungen durchlaufen mussten. Dabei wurden mithilfe einer Injektion in die Halsschlagader einzelne Hirnareale vorübergehend deaktiviert. Als wir so den präfrontalen Kortex sozusagen offline genommen haben, stieg die Herzfrequenz um etwa 15 Schläge pro Minute an. Es ist also die Standardeinstellung – die Herzfrequenz war höher, wenn kein präfrontaler Kortex da war, um zu sagen: alles in Ordnung.
Welche Rolle spielt der Vagusnerv dabei?
Wenn Regionen im präfrontalen Kortex aktiv sind, übt der Vagus größeren Einfluss auf das Herz aus, und das senkt offenbar die Herzfrequenz und den Blutdruck.
Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für meine Gesundheit?
Wenn Ihr Vagus gut funktioniert, stehen viele Körperfunktionen – zum Beispiel Herzfrequenz und Blutdruck, aber auch Vorgänge wie Entzündungen oder der Blutzuckerspiegel – unter einer Hemmung durch den Vagus. All diese Werte steigen, wenn man den Vagusnerv durchtrennt.
Wie ermitteln Sie den Zustand des Vagus?
Wir können die Aktivität des Vagusnervs nicht direkt messen, aber wir messen die Herzratenvariabilität – die HRV – als Indikator dafür. Tierstudien zeigen, dass die Aktivität des Vagus sehr stark mit der Herzratenvariabilität korreliert. Grob gesagt: Mehr Variabilität ist besser. Und: Je höher die HRV, desto niedriger ist die Herzfrequenz.
Was ist die Herzratenvariabilität genau?
Die Herzratenvariabilität, von der wir sprechen, ist die Schlag-zu-Schlag-Variabilität. Das heißt: Der zeitliche Abstand zwischen zwei Herzschlägen variiert. Zu dieser Variabilität tragen viele Faktoren bei, zum Beispiel auch unsere Atmung. Grundsätzlich ist es so: Wenn wir einatmen, schlägt unser Herz schneller, und damit wird der Abstand zwischen den Herzschlägen kürzer. Wenn wir ausatmen, sinkt die Herzfrequenz, sodass der Abstand länger wird.
Das heißt: Wenn jemand einen Puls von 60 hätte, wäre das genau ein Herzschlag pro Sekunde. Aber der Abstand zwischen zwei Schlägen ist nicht immer exakt eine Sekunde – es gibt eine Variation …
… und je größer diese Variation, desto größer ist die Herzratenvariabilität – und allgemein gesprochen: desto besser. Denn tatsächlich will man nicht, dass der Rhythmus ganz regelmäßig ist. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Er soll nicht wie ein Metronom sein. Man will, dass er »atmet«.
Wie im Jazz.
Genau. Ich werde nie vergessen: Wir haben einmal unsere Band in einem Studio in Oslo aufgenommen, mit dem Tontechniker von Keith Jarrett. Als wir uns die Aufnahmen anhörten, sagten wir alle: »Wir atmen zusammen!« Genau das war es. Ein gemeinsames Atmen in der Musik.
Atemübungen, Meditation oder Sport?
Eine hohe Herzratenvariabilität bedeutet also nicht etwa, dass man eine Herzrhythmusstörung hat?
Im Gegenteil. Wenn Sie eine gute Vagusfunktion haben – die zu einer höheren HRV führt – , ist es weniger wahrscheinlich, dass Sie eine Herzrhythmusstörung bekommen.
Herzratenvariabilität ist ein Trendthema. Immer mehr körperbewusste Leute messen sie mit ihrer Smartwatch.
Das ist Fluch und Segen zugleich. Denn alle Geräte haben ihre eigene Software, und man weiß nicht genau, wie sie rechnen.
Meine Smartwatch zeigt an, dass meine HRV in der vergangenen Nacht zwischen 27 und 82 Millisekunden lag, im Schnitt 46 Millisekunden. Was sagt mir das?
Die Herzratenvariabilität ist nachts in der Regel größer als tagsüber. Personen mit einer HRV – auf eine bestimmte Art gemessen – von unter etwa 25 Millisekunden haben ein erhöhtes Risiko für alle möglichen körperlichen Probleme: für Bluthochdruck, hohes Cholesterin, hohen Blutzucker. Ihre Werte waren in Ordnung, auch wenn nicht klar ist, welche genauen Messwerte Ihre Smartwatch verwendet.
Ist die Herzratenvariabilität nur ein Indikator für den körperlichen Zustand – oder kann ich sie gezielt verändern und nutzen, um meine Gesundheit zu verbessern und länger zu leben?
Beides. Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der Variabilität genetisch bedingt und relativ konstant ist. Aber das heißt: 50 Prozent sind veränderbar.
Wie mache ich das?
Durch Sport, Ernährung, Meditation. Meine Kollegin Mara Mather von der University of Southern California und ich haben für eine Studie zum Beispiel Menschen darauf trainiert, langsam zu atmen – etwa sechs Atemzüge pro Minute, 30 Minuten pro Tag über fünf Wochen. Sie bekamen bei den Übungen ein Biofeedback und konnten so direkt sehen, wie ihre Atmung ihre Herzratenvariabilität veränderte.
Was bewirkte dieses Training?
Wir konnten zeigen, dass bei den Probanden die Dichte im präfrontalen Kortex zunahm. Die Teilnehmer waren besserer Stimmung, sie fühlten sich sicherer. Hirnverbindungen in den emotionsregulierenden Regionen hatten zugenommen.
»Der Gedanke, dass Atmung die Gesundheit beeinflusst, ist Tausende Jahre alt«
Welche Atmung empfehlen Sie?
Der Gedanke, dass Atmung die Gesundheit beeinflusst, ist Tausende Jahre alt. In der östlichen Medizin gibt es spezielle Atemformeln. Ich lasse auf Vorträgen das Publikum gerne diese Übung machen: Zählen Sie beim Einatmen bis vier, dann halten Sie die Luft an und zählen bis sieben – und schließlich acht Schläge lang ausatmen.
Das beeinflusst die Aktivität des Vagus?
Wie gesagt, wir können den Vagusnerv nicht direkt messen – aber, ja: Ausgehend von den Veränderungen der Herzratenvariabilität gehen wir davon aus, dass es Einfluss darauf hat, wie der Vagus arbeitet.
Meditation verbessert meine Herzgesundheit – Sport auch. Wenn ich wählen müsste: Wofür sollte ich mich entscheiden?
Meine persönliche Ansicht, kein medizinischer Ratschlag: Meditieren Sie. Ich mache das seit etwa 50 Jahren.
Jeden Morgen?
Im Prinzip ja, eigentlich an jedem Morgen. Eine halbe Stunde – oder auch mal länger.
Welche Art von Meditation?
Ich mache Mantra-Meditation, also Transzendentale Meditation, wie sie auch die Beatles praktiziert haben. In den 1970er-Jahren, als ich als Jugendlicher angefangen habe, konnte man solche Kurse für 50 Dollar buchen. Ich hatte mein Mantra etwa 25 Jahre lang. Dann wurde ich in die Vedanta Ramakrishna Vivekananda Society eingeführt und bekam ein neues. Das habe ich jetzt seit etwa 30 Jahren.
Was ist Ihr Mantra?
Das soll man nicht verraten.
Was macht Meditieren so wichtig?
Einer meiner meistzitierten Fachartikel ist der über das »neurovisuelle Integrationsmodell«. Es beginnt mit einem Zitat aus dem Hinduismus: »Eine der unmittelbaren Folgen richtiger Konzentration ist, dass unser Geist stark und flexibel wird. Er passt sich mit großer Leichtigkeit allem an, was ihm vorgelegt wird, selbst etwas, das außerhalb seiner gewohnten Bahnen liegt.«
Ihre Forschung hat auch mit dem Tod Ihres Vaters zu tun. Sie haben ihn früh verloren. Was ist damals passiert?
Als ich 14 Jahre alt war, starb mein Vater an einem Schlaganfall, mit 54. Er hatte Bluthochdruck. Der Schlaganfall kam unerwartet, aber die Risikofaktoren waren da: Generationen von Schwarzen waren unfair behandelt worden. Der Voting Rights Act in den USA, der Minderheiten dasselbe Wahlrecht einräumte, war erst wenige Jahre zuvor verabschiedet worden. Und als wir von New York nach Delaware zogen, waren die Schulen dort immer noch segregiert, also aufgeteilt in Schwarz und Weiß. Mein Vater hatte 30 Jahre lang bei der Eisenbahn gearbeitet. Aber als er in Rente ging, wollten sie ihm nur 29 Jahre anrechnen – wer weiß, warum. Die letzten Jahre seines Lebens hat er damit verbracht, mit der Eisenbahnbehörde zu kämpfen, um doch noch seine volle Rente zu erhalten.
Wenn Gefühle unterdrückt werden müssen
Sie meinen, das hat ihn umgebracht?
Ich denke, es hat sehr dazu beigetragen, ja. Diese Ungerechtigkeit belastete ihn sehr: dagegen anzukämpfen und doch nichts erreichen zu können. Meine Forschungsarbeit heute versucht zu verstehen, welche körperlichen Folgen unfaire Behandlung hat. Wir haben ein Muster identifiziert. Es ist mit höherer Herzratenvariabilität verbunden, aber auch mit einem höheren Widerstand in den Blutgefäßen. Dieser Widerstand ist gesundheitsschädlich – er erhöht den Blutdruck, führt zu Organschäden und einem höheren Krankheitsrisiko. Und diese Kombination tritt bei Menschen auf, die unfair behandelt werden. Wir haben sie insbesondere bei schwarzen Menschen gefunden. Wir nennen sie: das »Herz-Kreislauf-Rätsel«.
Was ist an dieser Kombination rätselhaft?
Eine hohe Herzratenvariabilität sollte doch eigentlich gut sein! Sie sollte schützend auf das Herz-Kreislauf-System wirken und eher mit niedrigerem Blutdruck einhergehen – Afroamerikaner jedoch haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deshalb ist es paradox, dass sie zu einer höheren Herzratenvariabilität neigen.
»Eine höhere Herzratenvariabilität ist mit Emotionsregulation verbunden«
Wie erklären Sie sich das?
Wir denken: Die erhöhte Herzratenvariabilität spiegelt wider, dass sie ihre Emotionen stärker regulieren müssen. Denn eine höhere HRV ist mit Emotionsregulation verbunden. Wir haben gezeigt, dass dieses Muster des Herz-Kreislauf-Paradoxons eine Reaktion darauf ist, Wut oder Traurigkeit zu unterdrücken.
Wie haben Sie das erforscht?
Wir hatten Testpersonen, die sich selbst als schwarz beziehungsweise afroamerikanisch oder als weiß identifizierten. Wir ließen sie positive, negative oder neutrale Bilder ansehen. Dabei haben wir die Aktivität ihrer Stirnmuskeln registriert und ihren Blutdruck gemessen. Und wir haben sie gefragt, wie stark sie ihre Emotionen für gewöhnlich unterdrücken. So konnten wir zeigen: Personen – egal, ob schwarz oder weiß – , die häufiger Emotionen unterdrückten, zeigten bei negativen und neutralen Bildern weniger Aktivität des Stirnrunzelmuskels – man konnte ihnen negative Emotionen also weniger ansehen. Bei den Afroamerikanern aber war das noch dazu mit höherem Blutdruck verbunden.
Könnte dieses spezielle Muster nicht auch genetisch bedingt sein?
Nein, das ist nicht genetisch. Wir finden es auch bei anderen Menschen, die diskriminiert werden. Ich habe zusammen mit Kolleginnen eine Studie an der Universität La Sapienza in Rom durchgeführt. Wir hatten heterosexuelle und lesbische, schwule sowie bisexuelle Testpersonen im Labor. Wir baten sie, über Diskriminierungserfahrungen zu berichten, und maßen dabei ihre Herzratenvariabilität und ihren Gefäßwiderstand. Alle Probanden zeigten dasselbe paradoxe Muster, während sie sich an diese Erlebnisse erinnerten. Aber nur bei den lesbischen, schwulen oder bisexuellen Personen fanden wir es auch schon in der Baseline-Messung, also im Ausgangszustand. Das deutet darauf hin, dass sie es quasi ständig haben. Genau wie wir es bei Afroamerikanern gefunden haben.
»In Landkreisen mit mehr offenem Rassismus hatten nicht nur Schwarze mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen – sondern auch Weiße«
Was bedeuten Ungerechtigkeit, Diskriminierung und das ständige Unterdrücken von Gefühlen für die Gesundheit?
Ich habe vor ein paar Jahren einen Vortrag mit dem Titel »Angry in America« gehalten. Darin erwähnte ich, dass man als Afroamerikaner schnell sterben kann, wenn man es mit der Polizei zu tun bekommt und seine Wut zeigt – oder aber man stirbt langsam, wenn man die Wut immer wieder unterdrückt. Wir haben gezeigt, dass Grübeln und Sich-Sorgen über die ungerechte Behandlung ein Hauptfaktor für gesundheitsschädliche Folgen von Diskriminierung sind. In den USA ist die Lebenserwartung von Afroamerikanern fünf bis zehn Jahre kürzer als die von weißen Amerikanern. Allerdings gibt es eine interessante US-weite Studie, die zeigt: In Landkreisen mit mehr offenem Rassismus hatten nicht nur Schwarze mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen – sondern auch Weiße.
Rassist zu sein, ist also auch ungesund.
Ja. Es gibt ein Sprichwort: Wut ist ein Gift, das man sich selbst verabreicht, in der Hoffnung, dass der andere daran stirbt.
Wenn Sie ein Experiment machen und die Herzratenvariabilität der gesamten US-Bevölkerung messen könnten – welches Ergebnis würden Sie erwarten?
Ich habe eine Kollegin an der University of Wisconsin-Madison, Paula Niedenthal; sie hat Herzratenvariabilität landesweit untersucht. Und sie hat herausgefunden: In Gegenden mit mehr kultureller Vielfalt war die HRV höher. Wenn man mit verschiedenartigen Menschen interagieren muss, reguliert man seine Emotionen stärker – und das erhöht die HRV. Manche in der US-Regierung vertreten eine weiß-nationalistische Perspektive. Deren Idee, alle Migranten loszuwerden und ein rein weißes Amerika zu schaffen, ist – basierend auf dieser Forschung – also gesundheitsschädlich.
Die US-Regierung eliminiert derzeit jegliche Diskussion über Diversität, Gleichstellung und Inklusion. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
All diese Themen werden im Wesentlichen gerade aus der wissenschaftlichen Forschung in den USA entfernt. Ich habe kürzlich in Neuseeland an einem Treffen mit mehreren Kollegen teilgenommen, die in den USA staatliche Stipendien erhalten. Jeden Tag standen wir auf und ein weiterer dieser Kollegen sagte: »Meine Fördergelder wurden gestrichen.« Einige von ihnen hatten Tränen in den Augen. Glücklicherweise war keines meiner Forschungsprojekte davon betroffen. Ich weiß nicht, ob die Fördergelder bei den anderen inzwischen wieder fließen, aber die Unsicherheit, mit der die Menschen konfrontiert sind, ist sehr belastend.
Wie ist das für Sie persönlich?
Die Wahrheit ist: Ich liebe mein Land. Ich habe mein ganzes Leben als Wissenschaftler damit verbracht, die Gesundheit der Menschen zu verbessern, und werde dies auch weiterhin auf jede mir mögliche Weise tun.
Claudia Wüstenhagen und Max Rauner versuchen seit dem Gespräch mit Julian Thayer, in ihrem oft stressigen Alltag bewusst tiefer ein- und vor allem noch länger auszuatmen, um damit ihren Vagusnerv anzuregen. Das klappt ganz gut.
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