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Psychologie: Verborgene Opfer

Ein friedliches Miteinander scheint in vielen Regionen dieser Welt ein Ding der Unmöglichkeit geworden zu sein. Doch Gewalt und Terror gegen andere kosten nicht nur direkt Menschenleben, sie wirken sich auch indirekt auf die Gesellschaft aus - und fordern weitere Opfer.
Jeden Tag hören wir in den Nachrichten neue traurige, unfassbare Schlagzeilen von kaum mehr zu zählenden Opfern und Tätern, die durch terroristische Anschläge irgendwo auf unserem Planeten ihr Leben verlieren. Allein in Israel – die West Banks und Gaza ausgenommen – gab es in den 18 Monaten vom 1. Januar 2001 bis zum 22. Juni 2002 insgesamt 63 Bombenanschläge, bei denen mindestens ein Israeli ums Leben kam. Schon schlimm genug, bleibt es allerdings nicht bei der Zahl der direkten Opfer: Der beinahe alltägliche Terror hinterlässt natürlich auch Spuren in der psychischen Verfassung der dort lebenden Menschen.

Diesen indirekten Auswirkungen widmeten sich nun Guy Stecklov von der Hebräischen Universität in Jerusalem und Joshua Goldstein von der Princeton-Universität. Als Indikator wählten sie die Zahl von Verkehrsunfällen in den Tagen nach einem Anschlag, wobei sie noch zwischen dem täglichen Berufsverkehr und den etwas ruhigeren Tageszeiten differenzierten. Außerdem unterschieden sie zwischen leichten und schweren Verkehrsunfällen sowie solchen mit Todesopfern.

Und die gründliche statistische Analyse der Daten in jenen 18 Monaten brachte eindeutig indirekte Effekte an den Tag. Zunächst verringerte sich das Verkehrsaufkommen in den Tagen nach einem Anschlag, und zwar zu jeder Tageszeit. Am deutlichsten zeigte sich der Rückgang nach schweren Anschlägen und im Verkehr außerhalb der Stoßzeiten. Nach vier bis fünf Tagen war auf den Straßen jedoch wieder das übliche Getümmel zu beobachten.

Weiterhin ging die Zahl der leichten Verkehrsunfälle am Tag nach einem Attentat leicht zurück, erreichte dann jedoch direkt wieder den üblichen Wert. Vielleicht, so mutmaßen die Forscher, führt die höhere Polizeipräsenz zu vorsichtigerem Fahren, oder aber ein gewisses Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl lässt die Fahrer weniger aggressiv werden. Dagegen spricht allerdings, dass ein solcher Effekt bei den schweren Verkehrsunfällen nicht zu beobachten war. Vielleicht liege der Rückgang daher eher darin begründet, dass in den Tagen insbesondere nach einem schweren Anschlag ein kleiner Blechschaden seltener gemeldet wird als sonst – aus dem Gefühl heraus, dass es sich angesichts der wirklichen Probleme doch nur um eine Lappalie handle.

Verblüffend deutlich jedoch stieg drei Tage nach einem Bombenattentat regelmäßig die Zahl der Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang um mehr als ein Drittel, und wenn es sich um einen großen Anschlag mit mehr als zehn Toten gehandelt hatte, sogar um 69 Prozent. An den anderen Tagen war dagegen keine Veränderung der Unfallzahlen festzustellen.

Warum ausgerechnet drei Tage später? Die Antwort bleibt vorerst ein Rätsel, doch taucht dieser Zeitabschnitt auch in anderen Untersuchungen immer wieder auf: So steigt drei Tage, nachdem in den Medien ausführlich über einen Selbstmord berichtet wird, die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle ebenfalls sprunghaft an – wobei es sich dabei dann wohl um einen Nachahmungseffekt handelt, der nun weitere Menschen in den Selbstmord treibt, maskiert als Unfall. Ebenso konstatiert die Polizei drei Tage nach einem berühmten Boxkampf meist deutlich mehr Mord und Totschlag. Insofern halten es Stecklov und Goldstein für möglich, dass der drastische Anstieg der Unfälle mit Todesopfern ebenfalls auf Selbstmord-Nachahmer oder eine erhöhte Aggressivität auf den Straßen zurückgeht.

In dem Beobachtungszeitraum starben auf Israels Straßen 689 Menschen oder durchschnittlich 1,3 Menschen pro Tag – die Fahrweise dort sei insgesamt sehr halsbrecherisch, betonen die Wissenschaftler. Berücksichtige man dazu den Effekt der Terroranschläge auf die Verkehrsunfälle, so forderten jene Attacken weitere 0,4 Menschenleben pro Attentat oder insgesamt 28 Tote mehr, die nicht in der offiziellen Terror-Statistik auftauchen. Als wären der Opfer nicht sowieso schon viel zu viele.

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