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Forensische Neurologie: Das kriminelle Gehirn

Neurologische Befunde halten zunehmend Einzug in die Gerichtssäle. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zu ihrer Rolle in der Rechtsprechung.
Reihe von schwarz-weißen Hirnscans
Neurologische Nachweise wie Hirnscans, EEG-Messungen und neuropsychologische Tests sollen über die Schuldfähigkeit von Angeklagten Auskunft geben.

Gary und Linda Haas aus Oklahoma waren 2010 unterwegs nach Colorado – wie jeden Sommer seit elf Jahren. Am 2. August entschied sich das Ehepaar, eine kurze Pause auf seiner Reise einzulegen, und fuhr mit seinem Wohnmobil auf einen Rastplatz in New Mexico. Drei Tage zuvor war ein Mann aus einem Gefängnis in der Nähe ausgebrochen: John McCluskey. Nun befand er sich mit seiner Verlobten und einem weiteren Häftling auf der Flucht. Gemeinsam beschlossen sie, sich ein Fahrzeug zu beschaffen.

So gerieten Gary und Linda in das Visier des Trios. McCluskey und seine Komplizen bedrohten die beiden mit Handfeuerwaffen. Kurze Zeit später war das Ehepaar tot, die Täter setzten den Camper samt Leichen in Brand. 2013 wurde McCluskey vor Gericht gestellt, angeklagt wegen des Mordes an dem Ehepaar Haas sowie weiterer Straftaten. Die Staatsanwaltschaft forderte die Todesstrafe.

Um ihn davor zu bewahren, argumentierte die Verteidigung mit Hirnschäden bei ihrem Mandanten. So hatten neuropsychologische Tests und Hirnscans unter anderem eine Funktionsstörung des Stirnlappens ergeben, der für die Impulskontrolle zuständig ist. McCluskeys Fähigkeit, gewalttätige Impulse zu unterdrücken, war laut seinen Anwälten dadurch stark beeinträchtigt und er somit schuldunfähig. Am Ende des Verfahrens erwartete ihn tatsächlich »nur« eine lebenslange Haft.

Grundsätzlich werden neurologische Befunde im Rahmen von psychologischen oder psychiatrischen Gutachten vorgelegt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Es kann beispielsweise darum gehen, die Glaubhaftigkeit von Zeugen zu beurteilen oder die Eignung eines Erziehungsberechtigten, wenn es um das Sorgerecht geht. In Strafprozessen sollen sie einen Hinweis darauf geben, ob eine Person schuldfähig ist – wie im Fall von John McCluskey. Gutachten liefern medizinische Expertise und werden von Rechtspsychologen und forensischen Psychiatern erstellt, im besten Fall geben sie juristischen Entscheidungen damit eine fundierte Basis.

Die Neurowissenschaft hält immer mehr Einzug in europäische und US-Gerichtssäle. Wie verbreitet es in Deutschland ist, Hirnscans, EEG-Messungen und Ähnliches vor Gericht anzuführen, lässt sich bisher schwer erfassen. Es gibt nur sehr wenige Studien dazu. In den USA spielen sie in zirka zehn bis zwölf Prozent der Mordprozesse und in ungefähr 25 Prozent aller Verfahren, in denen die Todesstrafe droht, eine Rolle. Auf Grund ihrer wachsenden juristischen Bedeutung dort forderte der Neurologe Ryan Darby von der Vanderbilt University in Nashville 2024 die Einführung einer weiteren Berufsgruppe: forensischer Neurologen.

Ein kriminelles Netzwerk

Aber was weiß man eigentlich über den Zusammenhang von Hirnschäden und Straftaten? Dazu wurde in den letzten drei Jahrzehnten viel geforscht. So untersuchten Wissenschaftler von den National Institutes of Health in Bethesda 1996 mehr als 250 Kriegsveteranen, die unterschiedliche Hirnverletzungen erlitten hatten. Jene mit Schädigungen im »ventromedialen« Bereich, in der Mitte des Stirnlappens, verhielten sich aggressiver (vor allem verbal) als gesunde Kontrollprobanden sowie Veteranen mit Schäden in anderen Regionen des Denkorgans.

Ryan Darby und sein Team scannten in einer Ende 2017 veröffentlichten Studie das Gehirn von insgesamt 17 Patienten, die kurz nach einer erlittenen Hirnverletzung erstmals kriminell geworden waren (die meisten hatten Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung oder Mord begangen). Alle dokumentierten Läsionen hatten eines gemeinsam: Sie befanden sich innerhalb eines neuronalen Netzwerks im Stirn- und Schläfenlappen, das an der moralischen Entscheidungsfindung sowie der Theory of Mind beteiligt ist – also der Fähigkeit, zu ergründen, was in anderen Menschen vor sich geht. Außerdem begehen laut einer finnischen Studie mit mehr als 10 000 Probanden aus dem Jahr 2002 Männer, die in ihrer Kindheit oder Jugend ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben, vermehrt Verbrechen. Ob ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist allerdings unklar. Denn Drogenkonsum und Impulsivität stellen sowohl für kriminelles Verhalten als auch für Kopfverletzungen Risikofaktoren dar.

»Wir wissen, dass die große Mehrheit der Menschen im Todestrakt sowie derer, die bereits hingerichtet wurden, irgendeine Art von neurologischem Schaden, eine Hirnverletzung oder Ähnliches hat«Deborah Denno, Rechtswissenschaftlerin

Immer wieder machen Einzelfälle Schlagzeilen. Beispielsweise der von Charles Joseph Whitmann, der 1966 bei einem Amoklauf in Austin, Texas, 16 Menschen tötete und anschließend sich selbst. In den Monaten vor der Tat klagte er über Persönlichkeitsveränderungen und Kopfschmerzen. In einer Notiz, die er vor den Morden hinterließ, beschrieb er das Gefühl, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimme. Bei seiner Obduktion fand man ein Glioblastom, einen aggressiven Hirntumor, welcher eventuell in Bezug zu seiner Tat gestanden haben könnte. Eventuell. Diese Unsicherheit zieht sich durch viele Studien zu dem Thema, vor allem, wenn sie nur einzelne Fälle betrachten.

Auch neurodegenerative Erkrankungen machen Menschen mitunter anfälliger für Straftaten. So vermindert eine Demenz das Urteilsvermögen, beeinträchtigt die emotionale Verarbeitung und kann zu Gewalttätigkeit und antisozialem Verhalten führen. Zu diesem Schluss kamen 2015 Madeleine Liljegren und ihre Kollegen an der schwedischen Universität Lund. Die Fachleute nannten hierbei vor allem die frontotemporale und die semantische Demenz, außerdem Chorea Huntington. Kaum einen Einfluss hingegen schien Alzheimer zu haben. Allerdings ist die Interpretation hier ebenfalls schwierig, da die Daten rückblickend erhoben wurden. Und bei fortschreitenden Hirnerkrankungen lässt sich der genaue mentale Zustand zum Zeitpunkt der Tat nur schwer rekonstruieren.

Bei Entwicklungsstörungen spielt vor allem die geistige Behinderung eine Rolle. Laut einer kanadischen Studie findet sie sich bei Inhaftierten häufiger (2,1 Prozent) als in der Allgemeinbevölkerung (0,9 Prozent). Auch die Autismus-Spektrum-Störung, ADHS und Lernstörungen tauchen in forensischen Zusammenhängen auf. So scheinen einige Menschen mit Asperger-Syndrom durch Impulskontrollprobleme oder soziale Defizite leichter mit der Justiz in Konflikt zu geraten.

»Das Wichtigste ist nicht irgendein Befund im Gehirn. Ich will das im Verhalten sehen«Frank Urbaniok, forensischer Psychiater

»Wir wissen, dass die große Mehrheit der Menschen im Todestrakt sowie derer, die bereits hingerichtet wurden, irgendeine Art von neurologischem Schaden, eine Hirnverletzung oder Ähnliches hat«, sagt Deborah Denno, Gründerin des Neuroscience and Law Center an der Fordham University in New York. In ihren Augen können neurobiologische Befunde zu einem gerechteren und möglicherweise milderen Urteil führen: »Wenn zum Beispiel jemand sagt, er habe eine psychische Krankheit, können unter anderem Hirnscans diese Behauptung bestätigen und untermauern«, so die Rechtswissenschaftlerin. Doch sind Menschen, die einen irreversiblen Schaden im Stirnlappen haben, nicht dauerhaft gefährlicher und müssen deshalb strenger beurteilt werden? Neurowissenschaftliche Gutachten werden daher manchmal auch als zweischneidiges Schwert bezeichnet.

Im Fall von John McCluskey sahen sich die Geschworenen genau mit diesem Dilemma konfrontiert und waren darüber uneins, ob die Befunde seine Strafe mildern sollten. Einige waren der Meinung, dass die Hirnstörung seine Verantwortung für die brutalen Morde verringerte. Andere verwiesen auf die bleibende Bedrohung auf Grund mangelnder Impulshemmung. Letztendlich konnten sie sich nicht einigen. Die einstimmige Entscheidung für die Todesstrafe war nicht möglich, stattdessen wurde eine lebenslange Haftstrafe verhängt.

Deborah Denno lieferte 2015 eine erste umfassende Analyse darüber, wie sich neurologische Gutachten tatsächlich auf Gerichtsentscheide in den Vereinigten Staaten auswirken. Sie bezog alle Strafverfahren (insgesamt 800) ein, in denen solche Dokumente im Lauf von zwei Jahrzehnten (1992 bis 2012) eine Rolle spielten, und kam zu dem Ergebnis: In den meisten Fällen wirkten sie strafmildernd. Denno zufolge ist das zweischneidige Schwert in den USA daher »ein Mythos«.

Schuldunfähig, aber länger weggesperrt

Kann man die Ergebnisse auf unser Rechtssystem übertragen? Immerhin bestehen zwischen der hiesigen und der amerikanischen Justiz große Unterschiede, wie auch Denno immer wieder betont. So gibt es in Deutschland beispielsweise weder die Todesstrafe noch Geschworene. Außerdem erwartet psychisch kranke Straftäter hier zu Lande die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt – an Stelle einer Haftstrafe.

2015 führte ein Team um Johannes Fuß am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Untersuchung mit deutschen Richtern durch. Er legte den 372 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fiktive Fallberichte vor, bei denen es um schwere Körperverletzung ging. Nach dem Zufallsprinzip wies er den Probanden Expertenaussagen zu: Entweder erklärten diese die Psychopathie des Täters neurogenetisch, also mit angeborenen neurologischen Defekten, oder sie enthielten nur eine psychiatrische Diagnose.

»Problematisch wird es immer dann, wenn die Gutachter in Schubladen denken«Frank Urbaniok, forensischer Psychiater

Das Ergebnis: Bei neurogenetischen Beweisen stuften die Richter und Richterinnen die Zurechnungsfähigkeit der Verurteilten als deutlich geringer ein. Dennoch beeinflusste dies nicht die durchschnittliche Haftstrafe, die sie in dem fiktiven Szenario verhängten. Es erhöhte aber deutlich die Anzahl der nicht freiwilligen Einweisungen in ein forensisch-psychiatrisches Krankenhaus. Und eine solche Unterbringung wegen verminderter oder fehlender Zurechnungsfähigkeit kann im deutschen Rechtssystem viel länger dauern als eine Haftstrafe.

Eine Gruppe um Daniela Guillen Gonzalez von der Humboldt-Universität zu Berlin kam 2019 zum selben Ergebnis: Während in den Vereinigten Staaten biomedizinische Befunde offenbar eine mildernde Wirkung haben, scheinen sie in Deutschland die Rate der unfreiwilligen Einweisungen zu erhöhen. Fuß und seine Kollegen warnen darum ausdrücklich: »Forscher, Kliniker und Richter sollten sich davor hüten, die Auswirkungen eines biologischen Befunds auf das Verhalten überzubewerten, der möglicherweise eher zufällig als kausal ist.«

Neurologische Gutachten nicht überbewerten

Frank Urbaniok sieht das ähnlich. Er arbeitet als forensischer Psychiater in Deutschland und der Schweiz. Seit fast 20 Jahren beschäftigt er sich mit den neurobiologischen Ursachen von strafbarem Verhalten. Er sagt: »Das Wichtigste ist nicht irgendein Befund im Gehirn. Ich will das im Verhalten sehen.« Wer nur die Theorie kenne, laufe Gefahr, Hirnscans eine zu große Bedeutung beizumessen. Aus diesem Grund hält er auch wenig von Ryan Darbys Forderung nach forensischen Neurologen. Besser sei es, als forensischer Psychiater oder Rechtspsychologe zu erkennen: »Wann muss ich einen anderen Spezialisten hinzuziehen?« Urbaniok arbeitet daher immer wieder mit einem Neurowissenschaftler zusammen, der ihm bei Bedarf Informationen liefert.

»Es gibt eine wahnsinnig weite Strecke zwischen dem, was man in der Bildgebung sieht, und dem, was dann im Verhalten ankommt«, erklärt der Experte. In der klassischen forensischen Psychiatrie betrachte er deswegen: Ist die Willensbildung oder die Entscheidungsfähigkeit erschwert? Hat der Angeklagte eine veränderte Wahrnehmung? »Hat man davon einen Abdruck im Verhalten, kann der neurologische Befund diesen allenfalls bestätigen. Doch meistens gibt es keine relevanten Befunde«, sagt Urbaniok. Hirnschäden würden zudem unveränderlich klingen. »Das muss aber nicht so sein. Es gibt Medikamente und Verhaltenstrainings«, so der Psychiater. Auf der anderen Seite könnte ein psychologischer Befund wie ein gesteigertes Kontrollbedürfnis kaum veränderbar sein. Allerdings sehe man neurologisch davon nichts.

»Problematisch wird es immer dann, wenn die Gutachter in Schubladen denken«, findet Urbaniok. Deborah Denno sieht diese Gefahr ebenfalls: »Manche äußern einfach nur ihre Meinung. Forensische Psychiater liegen häufig nicht richtig mit ihren Einschätzungen, vor allem dann, wenn es um zukünftiges Verhalten geht.«

»Forensische Psychiater liegen häufig nicht richtig mit ihren Einschätzungen, vor allem dann, wenn es um zukünftiges Verhalten geht«Deborah Denno, Rechtswissenschaftlerin

Tatsächlich kritisieren Studien die Aussagekraft von forensischen Gutachten immer wieder. Dabei beziehen sich einige auf eine schlechte Interrater-Reliabilität – darauf, ob verschiedene Fachleute beim gleichen Fall zum selben oder zu einem ähnlichen Schluss kommen. Eine Untersuchung aus Polen etwa fand eine starke Korrelation zwischen der Anzahl der Gutachten und der Menge an widersprüchlichen Bewertungen. Die Autoren forderten daher bessere und standardisierte Verfahren.

»Da es schwierig ist, die künftige Gefährlichkeit oder die Ursache, die jemanden zu einer Straftat veranlasst hat, einzuschätzen, ist es umso wichtiger, neurowissenschaftliche Beweise vorsichtig anzubringen«, betont Deborah Denno. Am Ende bleiben die Befunde wohl nur ein Teil des Puzzles und der Antwort auf die Frage: Ist ein Mensch schuldig oder nicht?

»Wenn wir uns einen Gewaltakt zwischen zwei Menschen ansehen, dann gibt es Tausende von Fragen: Wie war die Art ihrer Beziehung? Gab es einen Streit? Gab es Eifersucht? Woher kommt diese Person? Wie ist sie aufgewachsen?«, sagt Denno. Es ließen sich unzählige solcher Faktoren auflisten. Wenn ein Gutachter versucht, sich ein vollständiges Bild von den Angeklagten zu machen, ist die Frage nach der Unversehrtheit ihres Gehirns letztlich nur eine kleine Komponente.

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  • Quellen

Aono, D. et al.: Neuroscientific evidence in the courtroom: A review. Cognitive Research 4, 2019

Darby, R. et al.: Forensic neurology: A distinct subspecialty at the intersection of neurology, neuroscience and law. Nature Reviews Neurology 20, 2024

Darby, R. et al.: Lesion network localization of criminal behavior. PNAS 115, 2017

Fuss, F. et al.: Neurogenetic evidence in the courtroom: A randomised controlled trial with German judges. Cognitive and Behavioral Genetics 52, 2015

Greenley, H. et al.: Neuroscience and the criminal justice system. Annual Reviews of Criminology 2, 2019

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