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News: Verformungen mit Überschall

Falls Sie einmal Pech hatten und Teile ihres Autos sich infolge eines Unfalls 'irreversibel plastisch verformt haben', dachten Sie sicher: 'Das ging aber schnell!' Jetzt haben Computersimulationen gezeigt, daß sich Verformungen kristalliner Körper sogar mit Überschallgeschwindigkeit ausbreiten können.
Bisher galt die Schallgeschwindigkeit als obere Grenze für alle mechanischen Pozesse einschließlich Verformungen. Atomistische Simulationen am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart haben aber gezeigt, daß es Ausnahmen gibt (Science, 12. Februar 1999).

Irreversible plastische Verformungen von kristallinen Stoffen wie Metallen oder Halbleitern geschehen hauptsächlich durch die Bewegung von Versetzungen, das sind lineare Defekte des Kristallgitters. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit dieser Versetzungen wird begrenzt durch die Gitterreibung und durch Wechselwirkung zwischen Gitterschwingungen und Elektronen. Bei niedrigen Temperaturen und hohen Spannungen können Versetzungen aber doch so schnell werden, daß ihre Geschwindigkeit einen relativ großen Bruchteil der Geschwindigkeit der Scherwelle beträgt. Sehr schnelle Bewegungen von Versetzungen müssen jedoch relativistisch beschrieben werden. Das bedeutet, die Versetzungen können niemals so schnell wie die Scherwelle werden, da dann eine unendlich große Energie nötig wäre, um sie voranzutreiben. Oberhalb dieser Schallgrenze haben jedoch die Gleichungen des elastischen Feldes, die die Vorgänge bei der Deformation von Festkörpern beschreiben, einen zweiten Satz von Lösungen. Damit sind Überschallgeschwindigkeiten bei Verformungen also zumindest theoretisch erlaubt. Lange Zeit wurden diese Lösungen jedoch lediglich als mathematische Kuriosität ohne physikalische Bedeutung angesehen.

Peter Gumbsch vom Max-Planck-Institut und Huajian Gao von der Stanford University haben jetzt gezeigt, wie man Versetzungen dazu bringen kann, sich von Anfang an mit Überschallgeschwindigkeit zu bewegen. Es ist gar nicht notwendig, sie über die Schallgrenze hinweg zu beschleunigen, sondern die Versetzung kann gewissermaßen als "Überschallversetzung geboren werden". Dazu werden hohe Spannungskonzentrationen benötigt, wie sie zum Beispiel an den Spitzen eines Risses vorkommen können. Mit neuartigen Werkzeugen, sogenannten "sharp indenters" kann man solche Spannungskonzentrationen praktisch erzeugen.

Die Computermodelle zeigen auch, daß die Schallgrenze für die "superschnellen" Versetzungen sehr wohl eine Barriere darstellt, nur eben in anderer Richtung. Bremst man eine solche Versetzung ab, kommt sie völlig zum Stillstand, wenn sie eigentlich die Geschwindigkeit der Scherwelle erreichen müßte und setzt sich dann wiederum mit Überschallgeschwindigkeit fort. Dieser Prozeß ist in einer kurzen Animation veranschaulicht.

Die praktischen Auswirkungen der Entdeckung lassen sich derzeit schwer abschätzen. Es ist jedoch denkbar, daß in sehr spröden Stoffen wie Felsgestein und selbst in Metallen bei hinreichend tiefer Temperatur Bedingungen herrschen, die das Phänomen ermöglichen. Das könnte nicht nur in der Materialwissenschaft von Bedeutung sein, sondern auchzu neuen Erklärungsansätzen in der geophysikalischen Erforschung von Verwerfungen führen.

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