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Schwertwale: Orcas mit Marotten

Orcas sind äußerst soziale Tiere, die neben raffinierten Jagdtechniken bisweilen recht sonderbare Verhaltensweisen entwickeln. Was steckt hinter solchen Modeerscheinungen? Eine Spurensuche – unter anderem in der Straße von Gibraltar, wo die Tiere manchmal Segelboote rammen.
Ein Orca springt aus dem Wasser und schleudert eine Robbe in die Luft. Im Hintergrund erstreckt sich der blaue Ozean bis zum Horizont. Rechts im Bild sind die Rückenflossen weiterer Orcas zu sehen. Die Szene zeigt die beeindruckende Jagdtechnik der Orcas in ihrem natürlichen Lebensraum.
Orcas (Orcinus orca) fallen immer wieder durch raffinierte Jagdtechniken auf, die sich zwischen den verschiedenden Population unterscheiden. Manchmal steckt auch bloße Spielerei dahinter.

Modeerscheinungen feiern hin und wieder ein Comeback. Daran ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Auch der Kopfschmuck, der zuletzt 2024 in den Medien die Runde machte, war bereits vor fast vier Jahrzehnten en vogue. Doch dieses Accessoire unterschied sich wesentlich von grellen Leggins, bunten Sneakern oder anderen schrillen Trends aus den Achtzigern: Es handelte sich um einen toten Lachs, den ein Schwertwal (auch Orca genannt) auf Kopf und Schnauze trug.

Ein weiterer Trend unter Orcas wurde einige Jahre lang ebenfalls vor der Westküste der USA in der Nähe von British Columbia beobachtet: Junge Männchen schubsten immer wieder Garnelen- und Krabbenfallen von Fischern herum, obwohl solche Schalentiere nicht auf ihrem Speiseplan stehen. »Sie wickeln sich in die Leinen, nehmen Krabbenkörbe oder Garnelenfallen in den Mund und bringen sie an andere Orte«, sagte Jared Towers, Direktor von Bay Cetology in Kanada, 2022 gegenüber dem »Discover Magazine«. Es scheint keinen offensichtlichen Grund für dieses Verhalten zu geben.

Die inzwischen wohl bekannteste »Marotte« ist das Rammen der Ruder von Segelbooten. Wann sie begann, lässt sich nicht genau sagen – die ersten Fälle wurden 2020 in der Meerenge von Gibraltar zwischen Spanien und Marokko berichtet. Seither kam es zu etlichen weiteren Vorfällen im Atlantik vor Portugal, Spanien und Frankreich. Bis heute dokumentierte man fast 700 solcher Zusammenstöße mit Schwertwalen, in mindestens sieben Fällen sanken die dabei demolierten Boote. Insgesamt ließen sich 16 Individuen identifizieren, die bei den Interaktionen beteiligt waren. Sie gehören zu einer Population von 39 Tieren – den so genannten iberischen Orcas, die zwischen dem Norden der Iberischen Halbinsel und der Straße von Gibraltar leben.

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Wale und Delfine haben die Menschen seit jeher fasziniert. Einst schrieb man ihnen gar übernatürliche Kräfte zu. Heute weiß man viel mehr über ihre Lebensweise – dank moderner Methoden wie der künstlichen Intelligenz. Mit Ihrer Hilfe versuchen Forschende zu ergründen, was sich Buckelwale und Co zu sagen haben. Und warum tragen Orcas mitunter tote Lachse auf ihrem Kopf herum? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert »Spektrum.de« in einer Themenwoche.

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Alle Inhalte zur Themenwoche »Faszination Wale & Delfine« finden Sie auf unserer entsprechenden Themenseite.

Die engste Stelle der Meerenge liegt vor Tarifa, einem Städtchen am südlichsten Zipfel Spaniens. Es ist der 18. Juni 2024, der Himmel ist leicht wolkenverhangen, eine angenehme Brise weht. Vom »Levante«, einem für die Gegend typischen, starken Ostwind, ist heute nichts zu spüren. Im Hafen sitzen Touristen im Halbkreis auf Plastikstühlen und lassen sich etwas über eine bevorstehende Whalewatching-Tour der Stiftung Firmm (siehe »Stiftung Firmm«) erzählen: vor allem über die verschiedenen Meeressäuger, die es hier in der Straße von Gibraltar zu sehen gibt. Dazu gehören neben Pottwalen und Finnwalen auch Grindwale und Schwertwale, die beide zur Familie der Delfine gehören. Ausgewachsene Orca-Männchen können fast zehn Meter lang werden bei einem Gewicht von bis zu zehn Tonnen, die Weibchen sind um einiges kleiner und leichter.

In ihren Familien herrschen eine komplexe soziale Struktur und Organisation. In der Regel handelt es sich um so genannte Matrilinien, bei der das älteste Weibchen die Herde anführt. Innerhalb der Gruppe sind die Bindungen entlang der weiblichen Verwandtschaftslinie besonders stark. »Wahrscheinlich werden Jagdstrategien und andere Verhaltensmuster primär von der Mutter gelernt«, sagt der Meeresbiologe Volker Deecke von der University of Cumbria in England in einem Videotelefonat. Jede Familie hat ihre eigenen Rufe, spricht also quasi einen eigenen Dialekt. »Wie bei Menschen aus Berlin oder Hamburg, die man anhand ihrer Sprache unterscheiden kann, gelingt das auch bei Schwertwalen aus verschiedenen Familien«, erklärt Deecke, der die Tiere und insbesondere ihre Akustik seit 1992 erforscht.

Stiftung Firmm

Die Stiftung Firmm (Foundation for Information and Research on Marine Mammals) wurde vor 26 Jahren von der Schweizerin Katharina Heyer gegründet. Damals war sie eine erfolgreiche Handtaschendesignerin, des Lebens im »Hamsterrad« aber überdrüssig. Zu jener Zeit war es kaum mehr als ein Gerücht, dass vor der Küste Südspaniens Wale anzutreffen sind. Nach einem dortigen Urlaub und einer Begegnung mit den Meeressäugern gründete sie Firmm und widmete ihr Leben dem Schutz und der Erforschung dieser Tiere.

Laut eigener Auskunft nehmen pro Jahr mehr als 25 000 Gäste an den Ausfahrten vor der Küste Tarifas teil. Während der Tour dokumentiert die Crew Sichtungen von Orcas, notiert die erkannten Individuen, den Zeitpunkt und die genaue Position. Unterscheiden lassen sich einzelne Individuen anhand von Merkmalen auf der bis zu zwei Meter langen Rückenfinne sowie ihrer charakteristischen schwarz-weißen Färbung. Zur Identifizierung und um Verletzungen zu dokumentieren, werden Fotos geschossen. Forschungsgruppen, die die iberische Orca-Population untersuchen, erhalten dann alle diese Informationen. Im Rahmen des Gesprächs mit einem Meeresbiologen von Firmm wurde der Autor auf eine Walbeobachtungstour eingeladen.

Orcas geben ihr Wissen, etwa über die Bedeutung von Lauten oder Jagdtechniken, über Generationen hinweg weiter. Umweltveränderungen können aber dazu führen, dass rasche Anpassungen notwendig sind. Dann werden bestimmte Kenntnisse innerhalb einer Generation übermittelt. Fachleute bezeichnen das als vertikalen beziehungsweise horizontalen Wissenstransfer. »Orcas können voneinander lernen und einander kopieren, wir sprechen von sozialem Lernen«, sagt Deecke. »Sobald eine Tierart über diese Fähigkeit verfügt, dann gibt es auch eine Kultur inklusive Trends. Wenn ein Individuum irgendwas macht, das interessant aussieht, dann wird es nachgeahmt. Wird es langweilig, verschwindet das Verhalten wieder.« Solche Modeerscheinungen bringen in der Regel keinen ersichtlichen evolutionären Vorteil. »Killerwale haben Marotten, die kommen und gehen, und sie sind oft bei bestimmten Geschlechts- und Altersklassen einer Population am weitesten verbreitet«, so Jared Towers laut »Discover Magazine«.

Den »Lachshut« zum Beispiel beobachtete man erstmals im Sommer 1987 bei einem Orca-Weibchen im Puget Sound, einer Meerenge im Nordwesten des US-Bundesstaats Washington. Etliche Tiere derselben Familie und dann auch von anderen Gruppen der »Southern Residents«, einer Population im nordöstlichen Pazifik, ahmten das Verhalten nach und machten es vor der Küste Kaliforniens zum »letzten Schrei«. Nach fünf bis sechs Wochen war der Trend wieder passé. In den darauffolgenden Jahren wurde die Mode noch vereinzelt gesehen, bevor sie ganz verschwand. Weshalb sie vor Kurzem plötzlich wieder auftauchte, ist unklar.

Vielleicht erfanden die Meeressäuger den Trend schlicht wieder neu. So wird spekuliert, dass heranwachsende Tiere das Verhalten eher zufällig entdecken, wenn sie spielerisch das Jagen und den Umgang mit Beute lernen. »Jungtiere schauen zunächst bei der Jagd zu und werden langsam herangeführt«, erklärt Tamara Narganes Homfeldt, Meeresbiologin bei der Organisation »Whale and Dolphin Conservation.

»Orcas können voneinander lernen und einander kopieren, wir sprechen von sozialem Lernen«Volker Deecke, Meeresbiologe

Wie zum Beispiel der junge Orca-Bulle »Alder« aus der Gruppe der »Northern Residents«, der bereits 2019 dabei beobachtet wurde, wie er einen toten Lachs auf der Nase trug. Die Mutter des Elfjährigen hatte den Kadaver immer wieder vor dessen Maul platziert. Er nahm die Beute auf und interagierte mit ihr. Vielleicht probierte der Teenager schlichtweg herum, um Erfahrungen zu sammeln. Und dabei entdeckte er das Lachs-Balancieren. Hätten nun andere Artgenossen das Verhalten nachgeahmt, wäre es möglicherweise erneut trendy geworden. Aber bislang blieb es bei Einzelfällen.

So wie derartige Gewohnheiten jeweils nur in einer bestimmten Gruppe von Schwertwalen auftreten, betrifft das bisweilen auch ihre Jagdtechniken und ihr Fressverhalten. »Jede Population hat einen sehr spezifischen Nahrungserwerb – fast genauso wie bei menschlichen Kulturen mit Jägern, Sammlern und Ackerbau«, sagt Deecke. Der Speiseplan ist ebenfalls unterschiedlich. Einige Gemeinschaften fressen nur Fische, andere nur Meeressäuger. Und manche sind auch regelrechte Feinschmecker: Bei ihnen stehen etwa Haileber oder Blauwalzunge hoch im Kurs. Womöglich schmecken diese Körperteile besonders gut, auf jeden Fall sind sie aber nährstoffreich, was den Verzehr aus evolutionärer Sicht sinnvoll macht.

Um ihre Beute zu erlegen, haben unterschiedliche Orca-Populationen ihre eigenen, oftmals raffinierten Methoden entwickelt: So erzeugen Familien in der Antarktis einen Wellengang, indem sie koordiniert schwimmen. Die Wellen werfen Robben von Eisschollen, woraufhin die Jäger zuschnappen. Andere Herden erbeuten weitaus größere Grau- und Blauwale, indem sie ihr Opfer von seiner Gruppe trennen und es unter Wasser halten, bis es ertrinkt. Schwertwale in den Küstengewässern Argentiniens wiederum lassen sich absichtlich mit einer auflaufenden Welle beinahe stranden, um junge Seelöwen oder Seeelefanten im flachen Wasser zu schnappen. Die nächste Welle trägt sie wieder ins tiefere Wasser zurück. »Die Orcas suchen die Beutetier-Kolonien bevorzugt dann auf, wenn die Jungtiere unabhängig werden und zum ersten Mal ins Meer gehen«, sagt Deecke.

Raffinierte Jagdtechnik | Orca fängt Seelöwen-Baby an der Küste Argentiniens. Hierzu lässt er sich in flaches Küstengewässer treiben, um mit der nächsten Welle zurück ins Meer zu gelangen.

Vom Strand in Tarifa aus kann man die nur 14 Kilometer entfernte Küste Marokkos sehen. Durch diese Meerenge wandert der Rote Thun (Thununs thynnus) im Frühjahr in riesigen Schwärmen aus dem Atlantik ins Mittelmeer und nach dem Laichen im Sommer wieder zurück. Für die iberischen Schwertwale, deren Speiseplan hauptsächlich aus jenem Thunfisch besteht, ist die Straße von Gibraltar daher ein strategisch sinnvoller Jagdgrund. Das Problem: »Die Thunfische können viel schneller schwimmen als die Orcas«, sagt José Manuel Escobar Casado. Der Meeresbiologe arbeitet bereits 15 Jahre hier in Tarifa im Whalewatching-Business, seit sieben Jahren bei Firmm. Seine langen schwarzen Haare bändigt er nur halbwegs durch eine Baseballmütze. Dazu trägt er Sonnenbrille und einen schwarzen Kapuzenpulli. Die iberische Orca-Familie kennt er bestens. »Sie treiben den Roten Thun ins flache Küstengewässer, wo er keine Fluchtmöglichkeit mehr hat«, erklärt er. Diese Technik ist aber auf Dauer mühsam.

Weshalb sich also plagen, wenn andere bereits die Arbeit erledigen? Die anderen, das sind marokkanische und spanische Fischer. Auch sie haben es auf die Thunfische abgesehen. Mit bis zu 200 Meter langen Leinen stellen sie den Tieren nach, wenn sie aus dem Mittelmeer zurück in den Atlantik schwimmen. Beißt ein Exemplar an, wird der zappelnde Fisch auf das Boot gezogen. »Die Orcas warten geduldig in einer Tiefe von rund 20 Metern. Hier neigt sich der Überlebenskampf der Thunfische meist schon dem Ende zu«, weiß Escobar Casado. Sie hängen kraftlos am Haken – das Festmahl ist angerichtet, und die Schwertwale stibitzen sich nach Belieben ihre wehrlosen Opfer. Übrig lassen sie nur den Kopf, denn darin befindet sich offensichtlich ein spitzer Angelhaken, inklusive Verletzungsgefahr. »Nicht selten gehen bis zu drei Viertel des Fangs verloren«, berichtet der Meeresbiologe.

José Manuel Escobar Casado | Der Meeresbiologe steht auf einem der Beoabachtungsboote der Stiftung Firmm im Hafen von Tarifa.

Ähnlich diebisch agieren Orcas in den Küstengewässern vor Alaska. Dort fängt man traditionell so genannte Kohlenfische mit kilometerlangen Leinen, an denen etwa alle zehn Meter ein Haken hängt. »Die Schwertwale tauchen ein paar hundert Meter vom Boot entfernt ab und schnappen sich die toten Fische von der Leine«, berichtet Deecke. Inzwischen seien viele Fischer auf Reusen umgestiegen. Aus den käfigartigen Netzen können die Orcas den Fang nicht mehr stehlen.

In den Küstendörfern Andalusiens erzählt man sich, dass die Schwertwale bei Fischern nicht sehr beliebt seien, schmälern sie doch die ohnehin schon geringe Ausbeute des Leinenfangs. Es soll sogar immer wieder zu gewaltsamen Aktionen gegen sie gekommen sein. Bisweilen wurde den Tieren daher schon Rache als Motiv für das Zerstören von Segelbootrudern attestiert. Unter Fachleuten glaubt das allerdings niemand. Und José Manuel Escobar Casado kann die angebliche Abneigung gegen die Schwertwale nicht bestätigen. »Die Fischer, die ich kenne, haben nichts gegen die Orcas«, erzählt er. Mitunter würden diese dem Kapitän des Whalewatching-Boots sogar Bescheid geben, sobald sie die schwarz-weißen Meeressäuger sichten. Auch die Crew besteht teilweise aus Fischern, die in der touristischen Walbeobachtung ein zweites berufliches Standbein gefunden haben.

Während ihrer Touren dokumentiert die Crew von Firmm etwaige Sichtungen von Orcas, notiert die erkannten Individuen, den Zeitpunkt und die genaue Position. Alle Informationen werden dann an Forschungsgruppen weitergereicht, die die iberische Orca-Population untersuchen. Denn weiterhin bestehen große Wissenslücken, etwa was die Bewegungsmuster anbelangt, schreiben Bruno Díaz Lopez und Séverine Methion vom spanischen Bottlenose Dolphin Research Institute (BDRI) in einer Publikation von 2024.

Zeit für Orcas, sich zu vergnügen

Für ihre Studie werteten Lopez und Methion Daten aus verschiedenen Quellen der Jahre 2020 bis 2023 aus und modellierten die Aufenthalte der iberischen Schwertwale. Die Analysen deuten darauf hin, dass die Tiere sich im Winter und Frühjahr hauptsächlich in den Küstengewässern der südlichen Iberischen Halbinsel und Nordafrikas aufhalten. Zum Ende des Sommers und im Herbst wandern sie vermehrt auch in Richtung Golf von Biskaya. Die Modellierungen zeigen eine größere Verbreitung von Schwertwalen im Nordostatlantik als bisher angenommen. Dabei hängen die Bewegungsmuster der Orcas offensichtlich von denen des Roten Thuns ab. »Es gibt eine Theorie, die besagt, dass die Ruderblätter der Segelboote eine Spur im Wasser hinterlassen, die derjenigen von Thunfischen ähnlich ist«, sagt Escobar Casado. Womöglich wird also ihr Jagdtrieb stimuliert, wenn die Tiere auf Segeljachten treffen. Belege dafür gibt es jedoch bislang nicht.

Die Walbeobachtungsboote sind indes nicht betroffen: »Nie kam es zu gefährlichen Interaktionen«, beruhigt der Meeresbiologe. Stattdessen erinnert er sich an etliche Treffen, bei denen die Schwertwale im Strudel der Schiffsschraube dem Boot folgten. »Ein Whirlpool für Orcas«, nennt er das – vielleicht könnte man dies auch als Mode bezeichnen. »Solche Trends könnten das Ergebnis einer Anpassung an eine veränderte Umwelt sein«, meint Escobar Casado, »entweder durch den Menschen oder die Natur selbst hervorgerufen«.

»Solche Trends könnten das Ergebnis einer Anpassung an eine veränderte Umwelt sein«José Manuel Escobar Casado, Meeresbiologe

Und tatsächlich hat sich in der Straße von Gibraltar etwas verändert: Dank Schutzmaßnahmen hat der Rote Thun zahlenmäßig wieder zugelegt. »Wir nehmen an, dass sich die bisherigen Wanderrouten der Schwertwale auf der Suche nach Nahrung dadurch verändert haben«, sagt Escobar Casado. So müssen sie Tiere wahrscheinlich weniger durch die Meere ziehen oder sie kommen früher zurück in die Straße von Gibraltar. »Es gibt Sichtungen von Orcas in den Wintermonaten, was vor Jahren noch undenkbar war.« Die Meeressäuger verbringen also offensichtlich mehr Zeit in der Meerenge und der Umgebung. »Jedes Tier, das ein neues Gebiet besiedelt, erkundet als Erstes seine Umgebung«, sagt der Firmm-Mitarbeiter. »Und jetzt müssen sie vielleicht nicht nur jagen, sondern haben auch Zeit, sich zu vergnügen.«

Also genießen die iberischen Schwertwale jetzt einen Whirlpool-Aufenthalt, bevor sie sich mit einer Runde »Ruderattacke« bespaßen? Unter Fachleuten sei »Spieltrieb« tatsächlich die vorherrschende Erklärung für solche Trends, so die Meeresbiologin Elke Burkhardt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven: »Die iberischen Orcas haben womöglich einfach mehr Zeit, solche Dinge auszuprobieren, weil sich die Thunfisch-Population erholt hat«, sagt sie. »Die Interaktionen mit den Segelbooten sind wahrscheinlich aufgekommen, weil die Jungtiere neugierig sind«.

Abfahrt | Das Boot der Stiftung Firmm verlässt den Hafen von Tarifa.

Burkhardt vermutet, dass es für die Orcas interessant ist, wenn sich das Ruder bewegt und dann auch das Schiff selbst. Und Volker Deecke meint: »Sie spielen mit Seetang, sie spielen mit Treibholz und manchmal mit Fischen, die sie eigentlich nicht fressen.« Sie würden also generell mit Strukturen im Wasser interagieren. »Und darum geht es. Es geht nicht darum, das Ruder abzureißen und das Schiff zu versenken.« Ein aggressives Verhalten seitens der Schwertwale kann keiner der Befragten erkennen. Dieser Standpunkt sei auch Konsens auf einem internationalen Workshop im Frühjahr 2024 in Madrid gewesen, der als Reaktion auf die Interaktionen stattgefunden hat, berichtet Deecke, der daran teilgenommen hat.

»Den Orcas ist nicht bewusst, wie gefährlich ihr Verhalten für die Menschen ist«, sagt Tamara Narganes Homfeldt. »Hauptsächlich sind Jungtiere beteiligt – und wir kennen das ja von uns Menschen: Jugendliche machen oft auch dumme Sachen, wenn sie die Zeit dafür haben.« Sie räumt allerdings ein: »Natürlich muss man immer vorsichtig sein, wenn man ein tierisches Verhalten aus einer menschlichen Perspektive betrachtet«. Doch es ist bekannt, dass Tiere – und speziell Orcas – spielerisches Verhalten zeigen.

Mehr Interaktion als Attacke

»Man sollte daher nicht von einer Attacke sprechen, sondern von einer Interaktion«, rät die Wal- und Delfinexpertin. Auch dies ist Konsens unter Fachleuten, wie etwa Naomi Rose, Expertin für Meeressäuger vom Animal Welfare Institute, stellvertretend für ihre Kolleginnen und Kollegen in einem offenen Brief darlegt. Denn: »Wenn Orcas die Boote und ihre Besatzung aktiv jagen würden, sähen die Interaktion und das Resultat ganz anders aus. Außerdem ist bislang kein Fall bekannt, bei dem Orcas in freier Wildbahn Menschen angegriffen haben.« Narganes Homfeldt plädiert für achtsame Maßnahmen wie Warnsysteme und die Sperrung gewisser Meeresabschnitte in bestimmten Zeiträumen für Segeljachten. »Das Meer gehört den Walen, nicht uns, wir dringen in ihren Lebensraum ein«, sagt sie.

Da Burkhardt selbst segelt, wird sie von anderen mit dem gleichen Hobby häufig um Rat gefragt, was bei einem Zusammentreffen mit Schwertwalen zu tun sei. »Sich vor allem ruhig verhalten«, sagt sie dann, »und, wenn es geht, zwei bis drei Kilometer entfernen«. Das empfiehlt auch der Abschlussbericht des erwähnten Workshops in Madrid. Weitere Ratschläge für den Ernstfall finden sich auf der Webseite der »GT Orca Atlantica«, einem Zusammenschluss von Experten, die die Orca-Zwischenfälle erforschen und darüber informieren. Man solle etwa die Küstenwache benachrichtigen und Fotos oder Videos von den Orcas machen, um sie später identifizieren zu können. Jegliche gewaltsame Aktion gegen die Tiere ist verboten.

Der will nur spielen | Ein Orca macht sich in der Straße von Gibraltar an dem Ruder eines Segelboots zu schaffen.

»Segler dürfen sich nicht mit allen Methoden wehren. Das ist eine kleine, gefährdete Orca-Population, die geschützt ist«, mahnt Burkhardt. In den letzten Jahrzehnten hat den Meeressäugern die Überfischung, die Verschmutzung der Ozeane sowie der zunehmende Schiffsverkehr zugesetzt – gerade den iberischen Schwertwalen. »Bei allen Maßnahmen, über die wir nachdenken, müssen wir uns daher zunächst überlegen, ob es den Tieren schadet«, sagt Deecke. Es hat sich bereits bewährt, gewisse Gebiete für kleine Schiffe zu sperren, wenn die Orcas mutmaßlich zugegen sind. »Wenn keine Boote da sind, gibt es natürlich auch keine Zwischenfälle«, sagt Burkhardt.

»Das Meer gehört den Walen, nicht uns. Wir dringen in ihren Lebensraum ein«Elke Burkhardt, Meeresbiologin

Wie stark die Meerenge von Tarifa befahren ist, bekommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Whalewatching-Tour unmittelbar mit. Riesige, voll beladene Containerschiffe kreuzen ein ums andere Mal den Weg. Ungefähr 300 Schiffe kommen jeden Tag durch die Straße von Gibraltar, das entspricht etwa einem alle fünf Minuten. Die Schwertwale zeigen sich heute nicht, dafür Grind- und Pottwale. Fischer aus Barbate, einem Hafenstädtchen rund 30  Kilometer nordwestlich von Tarifa, hätten aber erst vor ein paar Tagen Orcas gesichtet, erzählt Escobar Casado. Und tatsächlich kommt es dort vier Tage später, am 22.  Juni 2024, zu einem Zusammentreffen mit einer Segeljacht, wie einer der Betroffenen in der Facebook-Gruppe »Orca Attack Reports« berichtet: »Der Angriff dauerte 45 Minuten und bestand hauptsächlich aus einer koordinierten Attacke von vier Orcas auf unser Ruder, wobei gelegentlich auch unser Rumpf getroffen wurde. Das Boot war noch seetüchtig und wir fuhren weiter bis Gibraltar, wo das Boot heute gehoben und untersucht wird. Wir haben einen Teil unseres Ruders verloren und die Selbststeuerung wurde zerstört«.

Zum Glück ging die Interaktion wieder glimpflich aus. »Hoffen wir, dass der Trend in ein paar Jahren oder vielleicht sogar Wochen wieder verschwunden ist«, sagt Deecke. Der Lachshut kam schließlich bald wieder aus der Mode. Narganes Homfeldt sieht solche Moden und die verschiedenen Kulturen von Orca-Populationen positiv: »Es zeigt, dass die Schwertwale sehr intelligent sind, vor allem auch emotional intelligent.« Und dieses Wissen helfe ihrer Organisation dabei, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Tiere zu schaffen. »Davon profitiert dann am Ende das ganze Ökosystem und der allgemeine Meeresschutz«.

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  • Quellen

Bjørndal, T.: The Northeast Atlantic and mediterranean bluefin tuna fishery: Back from the brink. Marine Policy 157, 2023

Esteban, R.: Killer whales of the Strait of Gibraltar, an endangered subpopulation showing a disruptive behavior. Marine Mammal Science 38, 2022

Lopez, J. C., Lopez, D.: Killer whales (Orcinus orca) of patagonia, and their behavior of intentional stranding while hunting nearshore. Journal of Mammalogy 66, 1985

Lopez, B. D., Methion, S.: Killer whales habitat suitability in the Iberian Peninsula and the Gulf of Biscay: Implications for conservation. Ocean & Coastal Management 255, 2024

Whitehead, H. et al.: Culture and conservation of non-humans with reference to whales and dolphins: review and new directions. Biologocal Conservation 120, 2004

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