Direkt zum Inhalt

Ernährung: Vermessene Zappelphillipilie

Dass ein Marathonlauf einiges an Eigenmotivation verlangt, ist nichts Neues. Dass aber schon bei den kleinsten Körperbewegungen fest einprogrammierte Lethargie-Schwellenwerte überwunden werden müssen, überrascht.
Eigentlich ist es ja ganz einfach: Auf unserer Welt, auf der von nichts nichts kommt, führt gerechterweise viel eben auch zu viel. Viel Sport etwa zu viel mehr "Idealfigur", ein ständiges Zuviel beim Essen aber eben zu einem Zuviel an Körpergewicht. Letzteres ist schlecht, weil mit allerlei gesundheitsschädlichen Folgen verbunden: Fettleibigkeit, der Extremfall, ist die zunehmend verbreitete zivilisatorische Folge aus dem schlecht ausgependelten Zuviel an Nahrung und Zuwenig an körperlicher Aktivität.

Gerechterweise? Wenn es denn nur so zuginge! Denn was eigentlich ganz einfach in logische Gleichungen zu packen ist – alles Gegessene muss ausgeschieden oder verbrannt werden oder setzt sich als Fettpölsterchen ab – geht im wirklichen Leben selten auf. Der lebende Beweis ist der in nahezu jedermanns Bekanntenkreis zu entdeckende unangenehme Zeitgenosse, der Schokolade morgens in fingerdicken Nutellaschichten zu sich nimmt, gefolgt von einem zweiten Frühstück und dem ausgiebigen Mittagessen, inklusive Nachtisch. Um dann dennoch, auch ohne den jährlich überwiesenen Fitnessclub-Mitgliedsbeitrag, jedes Frühjahr ohne Bauchansatz dem Bademoden-Sommer entspannt entgegenzublicken.

Irgendetwas fehlt offenbar in der energetischen Gleichung – und das nennt der Volksmund gerne "den Stoffwechsel". "Der Stoffwechsel" würde eben bei dem einen und anderen unterschiedlich arbeiten und den einen zum Kaum-, den anderen zum Vollverwerter aller zugeführten Nahrung machen. Klingt logisch, Menschen sind eben unterschiedlich. Was allerdings dem Volksmund als Antwort halbwegs ausreicht, macht die Ernährungswissenschaftler rasend. Wie etwa soll man allgemeingültige Diätempfehlungen geben, wenn doch alle Menschen so unangenehm verschieden sind?

Eine Formel zur wissenschaftlichen Prognose der individuellen Gewichtsentwicklung müsste her. Schwer, denn offenbar lauern hier eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten. Die einfache Bestimmung der Stoffwechselrate (auch sie bei jedem schließlich unterschiedlich) liefert keine ausreichende Erklärung: Manche hochtourig laufenden Menschen werden trotz Sport schon von einem Knäckebrot zu viel dick, manche langsam metabolisierenden Fitnessmuffel dagegen bleiben trotz gern ausgelebter gastronomischer Vorlieben eher dürr. Warum nur?

Es liegt am NEAT-Index, meint James Levine von der Mayo Klinik, und das schon seit sechs Jahren. Diese von Mensch zu Mensch verschiedene "non-exercise activity thermogenesis" wurde bislang, so der Wissenschaftler, bei jeder Berechnung "dramatisch unterschätzt". Die Schlussfolgerung zieht Levine aus einem der bislang aufwändigsten Tests, die zur Nahrungsverwertung des Menschen durchgeführt wurden.

Piloten-Sensoren nehmen jede Bewegung war | Mit einem Geschirr von Sensoren ist auch die kleinste Lageänderung des Körpers festzustellen. Versuchsteilnehmer mussten es über 24 Stunden tragen, wobei alle 0,5 Sekunden ein Datenpunkt aufgezeichnet wurde.
Beteiligt waren unter anderem zehn leicht übergewichtige und zehn normalgewichtige Freiwillige, 150 Biomediziner, ein hochmotiviertes Krankenhaus-Kochteam und zwanzig für Militärjetpiloten entwickelte High-Tech-Sensoren-Sets, die auch kleinste Körperlageänderungen detailliert aufzeichnen können. Diese Sets, integriert in eine Art Radfahrerunterhose und einem geschlechteradäquat geformten Oberteil, mussten die zehn Probanden jeder Gruppe 24 Stunden lang über zweimal zehn Tage hinweg tragen, während die Sensoren alle Bewegungen jedweden Körperteils der Teilnehmer aufzeichneten. Ansonsten waren sie angehalten, alles so zu tun wie immer – außer schwimmen zu gehen, wegen der nicht wasserdichten Sensoren.

Gleichzeitig wurde ihre Ernährung strikt überwacht: Zu allen Mahlzeiten hatten sie sich in einer Klinikkantine einzufinden. Dort aßen sie eine genau berechnete, zunächst über eine Dauer von zehn Tagen stets identische Menge an Kalorien – genau kalkuliert beim Zubereiten der Mahlzeit und mit Hilfe von Gummischabern, wo nötig, bis aufs letzte Krümelchen vom Teller gekratzt.

Nach diesen zehn Tagen wurden die schlankeren Teilnehmer mit genau tausend zusätzlichen Kalorien für zehn Tage gemästet, die übergewichtigen erhielten dafür tausend Kalorien weniger. Am Ende analysierte dann ein Computer Gewichtszunahmen und -verluste, sowie jede Körperbewegung aller Teilnehmer über die insgesamt zwanzig Versuchstage hinweg.

Ergebnis: die schlankeren Kandidaten – obwohl durchaus selbsternannte Sofa-Fans – bewegten sich alle im Durchschnitt mehr als die zu Fettleibigkeit neigenden. Dies blieb auch in der zweiten zehntägigen Testphase so, als die Fettleibigen ab-, die Schlanken dagegen zunahmen. Bewegung heißt dabei durchaus nicht Sport, sondern beinhaltet vielmehr Tätigkeiten wie mit dem Kopf wackeln, auf dem Stuhl kippeln oder allgemeinem Herumhampeln, -zappeln und -fummeln.

Genau diese kleinen Alltagsbewegungen verbrauchen offenbar einiges an Energie, schlussfolgert Levines Team: Sie müssen die eigentliche Ursache dafür sein, dass die Schlanken schlank bleiben und die leicht dick werdenden nicht. Wie sehr jeder Einzelne dazu neigt, nicht still zu sitzen, sei zudem offenbar individuell fest programmiert, sonst hätte sich mit geänderter Ernährungssituation in der zweiten Testphase daran etwas geändert, meint Levine – und eben dieser festgezurrte Faktor in der Stoffwechsel-Hardware jedes Menschen ist der NEAT-Index.

Kurz: Übergewichtige leiden unter einer NEAT-Fehleinstellung, so Levine – vielleicht ein neurologischer Defekt bei der Verarbeitung biologischer Motivations- und Umweltreize?

Wäre das also geklärt. Außer zu wenig Bewegung und zu viel ungesunder Nährstoffmengen ist als dritte Stellschraube der Übergewichtigkeit die mangelnde Zappelmotivation entscheidend. Vielleicht kann man daran ja leichter schrauben, um dem zunehmenden Problem der Fettleibigkeit in der westlichen Zivilisation beizukommen. Immerhin brauche es zum Brechen der NEAT-Fehler-Motivationsblockade ja nun erwiesenermaßen gar nicht so viel, so Levine – ein Marathon müsse es ja gar nicht sein, ein wenig ziellos herumwerkeln wäre auch schon ganz hilfreich.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen
Science 307: 584–586 (2004)

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.