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»Verrückte Molekularbiologie«: Bizarre Bakterien schreiben neue Gene

Ein bakterielles Enzym stellt die Biologie auf den Kopf, indem es RNA in DNA umwandelt, die neue Gene bildet. Das daraus resultierende Protein nutzen die Bakterien offenbar zur Abwehr von Viren.
DNA-Stränge
Das Molekül des Lebens: die DNA.

Genetische Informationen bewegen sich normalerweise in einer Einbahnstraße: In DNA niedergeschriebene Gene dienen als Vorlage für die Herstellung von RNA-Molekülen, die dann wiederum in Proteine übersetzt werden. Diese saubere Lehrbuchgeschichte wurde 1970 etwas komplizierter, als Wissenschaftler entdeckten, dass einige Viren über Enzyme verfügen, die als reverse Transkriptasen bezeichnet werden und RNA in DNA umschreiben – also den umgekehrten Weg des üblichen Verkehrsflusses nehmen.

Jetzt sind Wissenschaftler auf ein noch seltsameres Enzym gestoßen: Eine bakterielle Version der reversen Transkriptase liest RNA als Vorlage, um völlig neue, in DNA geschriebene Gene herzustellen. Diese Gene werden dann wieder in RNA umgeschrieben, die in Schutzproteine übersetzt wird, wenn ein Bakterium von einem Virus infiziert wird. Virale reverse Transkriptasen stellen im Gegensatz dazu keine neuen Gene her; sie übertragen lediglich Informationen von RNA auf DNA.

»Das ist verrückte Molekularbiologie«, sagt die Bioinformatikerin Aude Bernheim vom Institut Pasteur in Paris, die nicht an der Arbeit beteiligt war. »Ich hätte nie gedacht, dass diese Art von Mechanismus existiert.«

Eine nicht enden wollende DNA-Sequenz

Bakterien haben diverse Abwehrmechanismen entwickelt, um sich gegen Viren und andere Eindringlinge zu verteidigen. Dazu zählt zum Beispiel die Genschere CRISPR, die DNA an einer bestimmten Sequenz schneidet. Eines der rätselhafteren Abwehrsysteme enthält das DNA-Gen für eine reverse Transkriptase und ein kurzes Stück geheimnisvoller RNA ohne klare Funktion: Die Sequenz scheint für kein Protein zu codieren.

Um herauszufinden, wie dieses Abwehrsystem funktioniert, suchte ein Team unter der Leitung des Molekularbiologen Stephen Tang und des Biochemikers Samuel Sternberg, beide von der Columbia University in New York City, nach den DNA-Molekülen, die von einer reversen Transkriptase des Bakteriums Klebsiella pneumoniae gebildet werden. Die Gruppe stieß dabei auf sehr lange DNA-Sequenzen, die aus zahlreichen identischen, sich wiederholenden Segmenten bestanden. Jedes Segment passte zu einem Stück der geheimnisvollen RNA.

Lange RNA-Stränge können haarnadelartige Formen bilden, die zwei entfernte Abschnitte nahe aneinanderbringen. Die Forscher fanden heraus, dass die reverse Transkriptase von K. pneumoniae wiederholt »Runden« um die RNA-Sequenz drehte, die wie ein Schnürsenkel um sich selbst geschlungen war, und dabei dasselbe RNA-Molekül viele Male in die DNA schrieb. So entstand eine sich wiederholende DNA-Sequenz.

Die sich wiederholenden Abschnitte bildeten eine proteincodierende Sequenz, die als offener Leserahmen bezeichnet wird. Die Forscher nannten diese Sequenz »neo«, was für »never-ending open reading frame« (auf Deutsch: nicht endender offener Leserahmen) steht, weil ihr eine Sequenz fehlt, die das Ende eines Proteins signalisiert, und sie daher theoretisch keine Grenze hat. Eine Virusinfektion löst offenbar die Produktion des Neoproteins aus, was dazu führt, dass sich die Zellen nicht mehr teilen. Ihre Ergebnisse veröffentlichte die Gruppe am 8. Mai auf dem Preprint-Server bioRxiv. Sie sind noch nicht von Fachkollegen geprüft worden.

Selbstzerstörungsmechanismus mit unklarer Chemie

Wie Neo das Wachstum infizierter Zellen stoppt, ist bislang noch unklar. Eine vorhergesagte 3-D-Struktur eines Teils von Neo – die Länge des Proteins variiert wahrscheinlich, je nachdem, wie viel von seiner RNA übersetzt wird – legt nahe, dass es eine Reihe von Helices bildet. Bricht man diese Form auf, nimmt die toxischen Wirkungen von Neo ab. Wie genau eine Virusinfektion die Bildung des Neoproteins in Gang setzt, sei ebenfalls ein Rätsel, erklärt Bernheim.

Die Erkenntnis, dass die reverse Transkriptase – die bisher nur für das Kopieren von genetischem Material bekannt war – auch zur Bildung völlig neuer Proteine beitragen kann, erstaunt ebenfalls andere Forscher. »Das sieht aus wie die Biologie außerirdischer Organismen«, schrieb etwa Israel Fernandez, Chemiker an der Universität Complutense in Madrid, auf X.

Selbst Studienautor Sternberg zeigt sich von der Entdeckung erstaunt: »Sie sollte die Art und Weise, wie wir das Genom betrachten, verändern.«

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