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Verschmutzte Themse: Londons Canal grande

Das Leben ist zurück in der Themse, doch immer noch laufen viel zu viel Wasser und Dreck ungefiltert in den Fluss. Ein gigantischer Tunnel im Untergrund soll es nun richten.
Die Themse bei London

Regen gehört zu London wie »chips« zu »fish«. An rund 200 Tagen im Jahr fällt hier Wasser vom Himmel. Und fast ebenso oft macht sich eine Fehlkonstruktion bemerkbar, die man weniger mit den Augen als vielmehr mit der Nase suchen muss: Ein mittelstarker Regenguss genügt, um die Kanalisation der Millionenstadt über ihre Kapazitätsgrenzen zu bringen. Dann schwappt eine unappetitliche Brühe aus Abwasser, Fäkalien und Regen ungefiltert in Londons große Wasserader, die Themse.

Im Schnitt rund 50-mal pro Jahr ist das der Fall. Die Mengen an Schlamm, Mikroorganismen und nährstoffhaltigen Fäkalien, die dann in den Fluss gelangen, senken den Gehalt an gelösten Sauerstoff im Wasser stark ab, das Leben in der Themse droht buchstäblich zu ersticken.

Wenn das passiert, kommen Neil Dunlop und seine vier Kollegen zum Einsatz. Sie nennen sich »Bubbler Controllers«, denn sie entscheiden über den Einsatz zweier so genannter Oxygenator-Schiffe, auch Bubbler genannt. »Die beiden Schiffe ›Bubbler‹ und ›Vitality‹ können jeweils bis zu 30 Tonnen Sauerstoff pro Tag in die Themse injizieren«, erklärt Dunlop, der für den Wasserwerkskonzern Thames Water arbeitet. Er und seine Kollegen überwachen an fünf Kontrollstationen den Sauerstoffgehalt des Flusses. Wenn dessen Sättigung auf unter 20 Prozent fällt, legen sie ab.

Dass London seine Abwasserentsorgung nicht in den Griff bekommt, hat wie so vieles in der Stadt historische Wurzeln. Das Problem reicht gut 160 Jahre in die Vergangenheit zurück, in die Zeit von Queen Victoria. Damals bauten die Ingenieure der Stadt eine Kanalisation, in der das Regenwasser durch dieselben Kanäle fließt wie das Industrie- und Haushaltsabwasser. Solche »Mischsysteme« sind vielerorts verbreitet, man spart sich eine zusätzliche Röhre im Boden.

Aber die viktorianischen Wasserbauer legten das System für weniger als fünf Millionen Menschen aus, sagt Veronica Edmonds-Brown, die als Expertin für Gewässerökologie an der University of Hertfordshire forscht. Inzwischen produzieren mehr als neun Millionen Einwohner so viel Abwasser, dass in den Röhren kaum noch Platz bleibt. Will man vermeiden, dass der Rückstau die Toiletten und Duschen hochsteigt, muss man das System direkt in die Themse entlasten.

Die »Vitality« auf der Themse | Wo der Sauerstoffgehalt im Wasser kritische Werte unterschreitet, kommen Oxygenator-Schiffe zum Einsatz. Sie pumpen Sauerstoff ins Wasser.

Den größten Teil ihrer knapp 350 Kilometer Länge schlängelt sich die Themse als beschauliches Flüsschen durch die englische Landschaft. Erst kurz vor der westlichen Stadtgrenze weitet sie sich auf. Ab hier, auf den letzten 89 Kilometern vor der Mündung, macht sich auch der Tidenhub der Nordsee bemerkbar. Das Kommen und Gehen der Gezeiten kann zusätzlich verhindern, dass die Verschmutzung rasch abläuft.

Zu dem Fluss vor ihrer Haustür haben die Londoner schon seit dem Mittelalter ein mitunter kompliziertes Verhältnis. »In vergangenen Jahrhunderten war die Londoner Themse kaum mehr als eine Kloake. Es wurden so viel Müll, Fäkalien und Schadstoffe hineingekippt, dass Nebenarme wie die Fleet zu offenen Abwasserkanälen verkamen und schließlich in Tunnel geleitet wurden«, sagt die Wasserexpertin Edmonds-Brown. »In den 1950er Jahren lag die Sauerstoffsättigung des Themsewassers im Zentrum von London bei gerade einmal fünf Prozent. Darin konnten nur noch wirbellose Wasserlebewesen wie Mücken oder Fliegenlarven existieren.«

Ein Toter erwacht

Doch seit dem Tiefpunkt in den 1950er Jahren haben die Bubbler und weitere Maßnahmen der Themse neues Leben eingehaucht. Ende 2021 bewies dann die Zoological Society of London (ZSL) mit einem detaillierten Gesundheitsreport, dass die Themse wieder lebendig ist.

»Es ist schon ermutigend. In London leben Millionen von Menschen, und trotzdem laichen Fische wieder praktisch im Zentrum der Stadt. Seehunde und Kegelrobben schwimmen die Stadt hinauf und hinunter und kommen in Westlondon sogar oft ans Ufer«, sagt ZSL-Forscher Joe Pecorelli, einer der Autoren des Reports.

Robben in der Themse | Jüngere Zählungen schätzen die Bestände an Seehunden auf rund 900 und Kegelrobben auf rund 3200 Tiere. Die meisten leben im Mündungsgebiet des Flusses, besuchen aber immer wieder auch den Innenstadtbereich Londons.

Die ZSL untersuchte das Gewässer mit Blick auf Umwelt, Pflanzen, Tierleben und seinem öffentlichen Nutzwert und wagte sich, wo das möglich war, an eine Prognose. Die Trends zeigen nach oben zum Beispiel beim Sauerstoffgehalt, bei den Vogelbeständen, die nun 92 Arten umfassen, und bei den Meeressäugern: Mit etwas Glück kann man in der Themse sogar Delfine und Mink- und Schweinswale beobachten, Letztere freilich eher im Mündungsdelta. Langfristig sollen sich auch die Fischbestände mit ihren gegenwärtig 115 Arten stabilisieren, unter anderem dank verbesserter Habitate.

Pecorelli und sein ZSL-Team geben sich optimistisch: »Die Koexistenz von Mensch und Tier ist selbst in einem so geschäftigen Wirtschaftszentrum wie London sehr wohl möglich«, lautet das Hauptfazit des Berichts. Erfolgsstorys sind die Wiederkehr von Aalen, Seepferdchen und außerhalb des Londoner Zentrums sogar von Haien. Damit der Europäische Aal wandern kann, wurden zahlreiche Hindernisse beseitigt und Ausweichrouten um Wehre oder Schleusen gebaut. »Hunderte Freiwillige helfen uns mit der Beobachtung«, sagt Pecorelli.

Europas größte Kläranlage

Der ZSL-Report ist die erste große Bestandsaufnahme der Themse seit über 60 Jahren. Zuletzt kamen Forscher im Jahr 1957 zu einem wesentlich anderen Schluss. Die Studienergebnisse des Londoner Natural History Museum war seinerzeit so alarmierend, dass sie allgemein als biologische Todeserklärung für den Fluss verstanden wurde.

»Nach dem Report von 1957 beschloss das Parlament den Bau der größten Kläranlage Europas«, berichtet Pecorelli. Dazu wurde eine bereits im Osten der Stadt existierende Kläranlage in Beckton massiv erweitert. Nachdem diese in Betrieb gegangen war, kehrten 115 bis 120 Fischarten in die Londoner Themse zurück.

Seit 1976 konnte schließlich das komplette Abwasser der Stadt geklärt werden, bevor es in die Themse geleitet wurde. Doch die großen Kläranlagen flussabwärts können nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn das Abwasser bei ihnen ankommt. Und dazu braucht es jenes System, das unter dramatischen Umständen im 19. Jahrhundert begonnen wurde.

Ein Kanalsystem befreite Stadt und Nasen

Es war das Jahr des »Great Stink«. Übel riechende Schwaden legten sich über die Stadt und penetrierten jeden Winkel in den Häusern am Ufer. Auch in den Houses of Parliament, wo die Abgeordneten hinter in Chlorkalk getränkten Vorhängen saßen, stank es zum Gotterbarmen. Seit Jahrzehnten missbrauchten die Londoner ihren Fluss als Latrine. Aber erst der sehr heiße Sommer 1858 brachte die Krise auf ihren Höhepunkt. Bei außergewöhnlich niedrigem Wasserpegel ergoss sich der Ausfluss der Abwasserrinnen auf das frei liegende Ufer und faulte in der Sonne. Die vom Gestank geplagten Abgeordneten peitschten in nur 18 Tagen ein Gesetz durch, das Sir Joseph Bazelgette mit dem Bau jenes Kanalsystems betraute, das bis heute die Grundlage der Abwasserentsorgung Londons bildet.

In Teilen museal | Das Kanalnetz Londons stammt größtenteils noch aus dem viktorianischen Zeitalter. Trotz ständiger Modernisierungen hat es mit dem Wachstum der Stadt nicht Schritt gehalten.

Was ein Wunderwerk modernen Tiefbaus war, ist heute zur Erblast geworden. 2012 kam die Drohung aus Brüssel: Mit ihrem teils musealen Kanalnetz würden die Londoner gegen EU-Richtlinien zur Behandlung kommunaler Abwässer verstoßen. Millionenschwere Strafen wurden angekündigt. Der Plan für ein neues Megaprojekt entstand: der Thames Tideway Tunnel.

Die 25 Kilometer lange Tunnelröhre soll die Abwassermassen, die bei Regen in die Themse gelaufen wären, in Bahnen lenken. 2016 wurde mit dem Bau begonnen. Inzwischen hätten die EU-Richtlinien wegen des Brexits zwar keine Gültigkeit mehr, erläutert Pecorelli, doch der Konzern Thames Water hatte bereits Milliarden investiert. Und so ging der Bau weiter.

Ein Fluss unter dem Fluss

Für den Bau des Haupt- und mehrerer Nebentunnel sind 4,3 Milliarden britische Pfund veranschlagt (4,8 Milliarden Euro). Im Herbst 2023 könnten erste Abwässer durch Teilabschnitte fließen, der Vollbetrieb ist für 2025 geplant.

Mit 7,20 Meter Durchmesser hätten in der Hauptröhre beinahe zwei Doppeldeckerbusse übereinander Platz. Sie beginnt im Westen bei den Acton Storm Tanks, einem Regenrückhaltebecken samt Pumpstation, und führt unter der Themse zur Abbey-Mills-Pumpstation im Osten. Über einen weiteren Tunnel unter dem Fluss Lee gelangt das Abwasser dann von der Pumpstation zur Beckton-Kläranlage.

Verbindungskanäle führen dem Haupttunnel das Wasser zu. Sie docken an den Stellen an, an denen sonst der Regenabwassermix in die Themse läuft. »Insgesamt wird der Tunnel 34 Mischwasserüberflüsse abfangen, deren Abwässer zuvor in der Themse landeten«, erläutert die Städteplanerin Liz Wood-Griffiths, die die Planungsabteilung des Thames Tideway Tunnel leitet. Rund 40 Millionen Tonnen Abwasser werden dies jährlich sein, schätzt die Expertin.

Platz für 40 Millionen Tonnen Abwasser | Die Dimensionen des großen Kanals unter der Themse sind so großzügig geplant, dass sie auch in der Zukunft in der Lage sein sollen, die Abwasserentsorgung zu stemmen.

Für den neuen Megaabfluss gräbt die Stadt tief ins durchlöcherte Erdreich der Metropole. Bei seinem Ausgangspunkt im Westen Londons liegt der Tunnel 35 Meter unter der Themse und fällt danach auf 61 Meter Tiefe ab. Dadurch fließt das Abwasser von allein zur Pumpstation Abbey Mills. »Sobald der Tunnel in Betrieb ist, wird er die Krankheitserreger im Fluss reduzieren und außerdem auch Abfall und Plastik von der Themse fernhalten«, sagt Liz Wood-Griffiths.

Klärwerkmangel am Oberlauf

»Der Tunnel allein wird aber nicht reichen«, warnt die Gewässerökologin Veronica Edmonds-Brown. Sauberes Wasser gebe es nur, wenn die Kläranlagen auch die Kapazität hätten, mit den zu erwartenden Wassermengen umzugehen. Und genau dort sieht die Forscherin weiterhin Defizite. »Im Moment gelangt immer wieder ungereinigtes Abwasser aus den Kläranlagen in die Themse und ihre Zuflüsse«, sagt Edmonds-Brown.

Wie dramatisch die Lage auch außerhalb Londons ist, zeigt eine Anfang Januar von Thames Water online gestellte interaktive Karte. Das Gebiet, in dem das Unternehmen tätig ist, reicht fast bis an die walisische Grenze. Leuchtend rote Buttons verraten in Echtzeit, wo dort gerade ungeklärtes Abwasser in einen Fluss oder Bach läuft. An regenreichen Tagen ist die Karte regelrecht rot gepflastert. In Witney bei Oxford beispielsweise waren die Überläufe vom 20. Dezember 2022 an ununterbrochen geöffnet – bis zum 17. Januar dieses Jahres. In einem Statement an den britischen »Guardian« kündigt Thames Water zwar an, die Kapazität an »vielen Standorten deutlich zu erhöhen«, unter anderem auch in Witney.

Doch der Sanierungsstau ist massiv. Umweltschützer warnen seit Jahren davor, dass private Wasserversorger wie Thames Water die Instandhaltung ihrer Netze vernachlässigt hätten. Es gehe ihnen eben mehr um Profit als um Sicherheit, sagt auch die Gewässerökologin Edmonds-Brown. Wie groß der Mangel an Klärwerken ist, bezifferte Anfang 2022 die Oxford Rivers Improvement Campaign (ORIC): Von 90 Anlagen am Oberlauf der Themse besäßen 46 nicht die nötige Kapazität.

»Wenn das so weitergeht, könnte sich die Gesundheit der Themse wieder verschlechtern«, sagt Edmonds-Brown – trotz Megaröhre unter der Hauptstadt. Sicher ist: Bis die beiden Bubbler-Schiffe für immer am Kai festmachen können, werden wohl noch viele Luftblasen die Themse herunterschwimmen.

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