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News: Verwandte Wahrnehmung

Gene steuern die Entwicklung des Gehirns. Doch wie weit reicht ihr Arm? Bisher ließ sich ihr Einfluss nur an vergleichsweise groben Faktoren, wie dem Volumen des Gehirns oder seiner Teile festmachen. Jetzt zeigt sich, dass verwandte Individuen sogar über ähnliche neuronale Aktivitätsmuster verfügen.
Äußere Reize werden in den neuronalen Schaltkreisen des Gehirns durch Aktivitätsmuster repräsentiert und verarbeitet. Während wir zum Beispiel diesen Text lesen, werden Hunderte Millionen von Nervenzellen in komplexen räumlichen Mustern in unserer Großhirnrinde aktiviert, um diese visuellen Informationen zu analysieren. Diese Muster sind in den Gehirnen verschiedener Individuen sehr unterschiedlich: Die Aktivitätsmuster setzen sich in der Sehrinde aus lokalen Domänen aktivierter Nervenzellen – aus so genannten funktionellen Kolumnen – zusammen. Diese sind einige hundert Mikrometer groß und enthalten Nervenzellen, die visuelle Informationen aus einem kleinen Bereich des Gesichtsfeldes analysieren. Die gesamte visuelle Information wird dann durch das Ensemble aller Aktivitätsdomänen in der Sehrinde dargestellt.

Die räumliche Anordnung dieser Domänen in der Sehrinde unterscheidet sich stark von Gehirn zu Gehirn. Bisher nahm man an, dass diese Unterschiede hauptsächlich auf individuell unterschiedlichen visuellen Vorerfahrungen beruhen. Mit Hilfe einer neuen quantitativen Methode hat jetzt eine Gruppe von Physikern vom Max-Planck-Institut für Strömungsforschung in Göttingen und dem Kavli Institute for Theoretical Physics in Santa Barbara sowie von Neurowissenschaftlern des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg diese neuronalen Aktivitätsmuster miteinander vergleichen. Dabei konnten sie Anzeichen für einen überraschend starken Einfluss genetischer Informationen auf die räumliche Organisation solcher Aktivitätsmuster nachweisen.

Um herauszufinden, ob die individuellen Unterschiede in der Architektur der Großhirnrinde auf Erfahrungsunterschieden oder auf genetischen Faktoren beruhen, hatten die Forscher individuelle Unterschiede in dem bislang am gründlichsten untersuchten Teil des Gehirns, der primären Sehrinde, also der ersten Stufe visueller Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde, analysiert. Um die Anordnung der Aktivitätsdomänen in diesem Hirnareal zwischen verschiedenen Tieren objektiv miteinander vergleichen zu können, entwickelten die Forscher dazu eine neue Musteranalysemethode. Diese erlaubt es, die komplexe räumliche Anordnung der Aktivitätsdomänen durch wenige quantitative Parameter zu charakterisieren: Dazu gehören der durchschnittliche Abstand zwischen benachbarten Domänen, ihre typische Form sowie die Gleichförmigkeit der Domänen-Abstände und -Formen innerhalb des Areals.

Während diese Parameter von Gehirn zu Gehirn oft große Unterschiede aufweisen, waren die Parameterwerte bei Geschwistertieren aus dem gleichen Wurf auffallend ähnlich. Der durchschnittliche Abstand benachbarter Domänen unterschied sich beispielsweise bei solchen Geschwistern oft nur um weniger als 80 Mikrometer, während in Hirnen nichtverwandter Tiere Werte zwischen 1000 und 1400 Mikrometer gemessen wurden. Ebenso traten bei Geschwistern häufig Aktivitätsdomänen mit ähnlicher Form und ähnlicher Gleichförmigkeit der Domänen-Abstände innerhalb eines Areals auf. Mit diesen Messergebnissen wurde erstmals deutlich, dass ein beträchtlicher Anteil der interindividuellen Unterschiede im Layout neuronaler Schaltkreise durch genetische Faktoren bestimmt ist.

Verglichen mit bisherigen Untersuchungen des Einflusses genetischer Faktoren auf den Aufbau des Gehirns stellen diese Beobachtungen für die Forscher eine große Überraschung dar. "Bisher wurde ein deutlicher genetischer Einfluss nur für grobe Eigenschaften, wie zum Beispiel das Gesamtvolumen der grauen Substanz oder das Volumen ausgewählter Gehirnbereiche, nachgewiesen", meint Fred Wolf vom Max-Planck-Institut für Strömungsforschung, "hingegen konnte man bisher für spezifischere Eigenschaften des Gehirnaufbaus, wie zum Beispiel das Muster der Windungen der Großhirnrinde, keinen signifikanten genetischen Einfluss nachweisen. Dies legte die Annahme eines von groben zu feinen Strukturen abnehmenden Einflusses genetischer Information nahe. Unsere neuen Ergebnisse belegen, dass genetische Informationen auch die Hirnstrukturen im Millimeterbereich beeinflussen. Damit muss die bisherige Hypothese verworfen werden."

Doch wie kann nun die genetisch geprägte Architektur der Sehrinde die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit eines Individuums beeinflussen? Die Forscher weisen darauf hin, dass zum Beispiel die genetische Bestimmung des Abstandes zwischen den Aktivitätsdomänen wahrscheinlich die Informationsverarbeitungskapazität der Sehrinde mitbestimmt: So unterscheidet sich die Gesamtzahl der Aktivitätsdomänen in der Sehrinde von Hirn zu Hirn. Sie ist größer, wenn die Domänen geringere Abstände zueinander aufweisen. Jede Domäne wiederum analysiert visuelle Informationen aus einem kleinen Bereich des gesamten Gesichtsfeldes. Hat ein Individuum also eine größere Anzahl an Domänen, kann es daher die visuelle Information für eine größere Zahl eng angeordneter Bereiche des Gesichtsfeldes unabhängig voneinander analysieren, was wiederum die Kapazität seines visuellen Systems zur Analyse komplexer Bilder erhöhen sollte.

"Sollte die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit tatsächlich von der Anzahl der Aktivitätsdomänen in der Sehrinde abhängen," meint Wolf, "dann sollte es zwischen mehreren Individuen eine größere Spannbreite genetisch bestimmter Unterschiede in ihrer visuellen Wahrnehmungsfähigkeit geben." Um diese Vorhersage zu überprüfen, werden die Forscher in weiteren Projekten versuchen, das Ausmaß dieser individueller Unterschiede und ihre genetische Kontrolle systematisch zu charakterisieren.

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