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Das gute Leben: »Verzicht macht frei«

Wer auf etwas verzichtet, gewinnt mehr Kontrolle über sein Leben. Davon ist der Mainzer Ethiker Ruben Zimmermann überzeugt. Zu verzichten sei vor allem eines, wie er im Interview hervorhebt: befreiend.
Eine Person steht auf einem felsigen Berggipfel und blickt in die Ferne. Der Himmel ist klar, und die Sonne geht über den Bergen auf, während Wolken die Täler darunter füllen. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Abenteuer und Freiheit.
Wer den Sonnenaufgang in den Bergen erleben will, muss erst einmal auf Schlaf verzichten.

Als Ruben Zimmermann einem Kollegen verriet, dass er an einer Ethik des Verzichts schreibe, bekam er zur Antwort, ein solches Buch würde garantiert keiner lesen wollen. Jetzt liegt es vor, und die erste Auflage war im Nu vergriffen. Anlass genug zu fragen, warum Verzichten sich lohnt, was Menschen dabei hilft – und worin die »soziotherapeutische Funktion« des Verzichts liegen soll.

Herr Zimmermann, verzichten tut gut, sagen Sie. Was macht es mit uns, wenn wir verzichten?

Verzicht ist ein freiwilliger Akt und kein Verbot, wie viele irrtümlich meinen. Es geht weder um Gesetze noch um moralische Appelle. Wenn ich auf etwas verzichte, setzt das voraus, dass ich eine Möglichkeit oder ein Recht habe – es jedoch nicht in Anspruch nehme. Und dieses bewusste Nicht-in-Anspruch-Nehmen verschafft Freiheit. Kurzum: Verzicht macht frei.

Wo und wann erleben wir diese Freiheit?

In den unterschiedlichsten Lebensbereichen, zum Beispiel beim Konsum. Durch Werbung und Erwartungsdruck unseres Umfelds wird uns oft ein bestimmtes Konsumverhalten nahegelegt. Wer sich dem Druck nicht beugt, erfährt etwas Überraschendes: Selbstwirksamkeit. Der Begriff und das Konzept stammen von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura, im Englischen sprach er von »self-efficacy«. Menschen, die nur fremdbestimmt und den Erwartungen anderer folgend handeln, fühlen sich oft wie eingezwängt, teils sogar richtiggehend hilflos. Sich dem zu widersetzen, führt genau zu dieser Erfahrung von Freiheit und zu neuer Souveränität.

Ruben Zimmermann | Der Ethiker ist seit 2009 Professor für Evangelische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Frühjahr 2025 erschien sein Buch »Warum weniger gut sein kann. Eine Ethik des Verzichts«.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, wir Menschen seien »Verzichtswesen«. Wenn Verzichten in unserer Natur liegt – warum fällt es uns dann oft so schwer?

Tatsächlich sind Menschen zum Verzicht in der Lage. Die einen verzichten auf Essen, um eine gute Figur zu behalten. Andere verzichten auf Ausschlafen, um in aller Frühe auf einen Berg zu wandern und dort den Sonnenaufgang zu erleben. Solche Erfahrungen kennt jeder, der schon einmal für sich selbst auf etwas verzichtet hat. Schwieriger wird es, wenn der Ertrag nicht so nah und klar vor Augen ist. Je weiter weg das Ziel liegt, desto schwerer fällt es uns zu verzichten. Verzicht tut ja oft genug auch weh, deshalb brauchen wir den Blick auf das Ziel, um diesen Schmerz zu überwinden.

Was ist mit so etwas wie dem Zölibat, also dem Verzicht auf Sexualität? Worin besteht hier das Ziel?

Das Zölibat ist eine extreme Form des Verzichts auf Ehe und meist auch auf Sexualität. Zwar geht es auch hier um eine freiwillige Entscheidung – niemand wird ja gezwungen, katholischer Priester zu werden oder in einen religiösen Orden einzutreten. Aber es ist eine grundlegende, dauerhafte Entscheidung. Ich möchte den Verzicht eher als flexibel und zeitlich befristet beschreiben. Bezogen auf Lust und Sexualität heißt das: Es kann gut und richtig sein, von Zeit zu Zeit auf Sex zu verzichten, gerade um die Lust zu erhalten. Ein ständiges Ausleben oder Steigern von Lust kann sogar zur Sucht werden, wie schon Sigmund Freud wusste. Der Lustverzicht hingegen dient paradoxerweise dem Lusterhalt. Und auch beim Essen kann Verzicht dem Genusserhalt dienen, während es am All-you-can-eat-Buffet irgendwann kaum noch schmeckt. Sexualität und Essen sind aber grundsätzlich etwas Gutes, das unterscheidet den Verzicht von manchen Zweigen der asketischen Tradition.

Das ist ein wichtiger Punkt. Bedeutet Verzicht also immer, auf etwas Positives zu verzichten?

Genau. Auf etwas Negatives oder auf Fehlverhalten verzichtet man nicht. Man verzichtet auf etwas Gutes, zum Beispiel auf ein Erbe, das einem gesetzlich eigentlich zusteht.

Wer würde das machen?

Auf mein Pflichtteil beim Erbe könnte ich zum Beispiel verzichten, um die Beziehung zu meinem verwitweten Elternteil nicht zu gefährden. Uns zustehende Rechte sind grundsätzlich etwas Gutes, genauso wie die Möglichkeit, etwas zu essen oder eine Technik wie ein Handy oder Auto zu nutzen. Wenn wir auf etwas verzichten, dann tun wir das freiwillig mit Blick auf ein höheres Gut. Dabei bleiben wir flexibel: In anderen Situationen oder zu späteren Zeitpunkten nehmen wir das Gute vielleicht doch wieder in Anspruch.

Was kann alles Gegenstand von Verzicht sein?

Die konkreten Verzichtsgegenstände können auf vier Ebenen liegen. Erstens materielle Güter wie Speisen, Genussmittel oder auch Eigentum. Zweitens immaterielle Güter wie Rechte, die uns zustehen, sozialer oder beruflicher Status. Man verzichtet beispielsweise auf ein Amt; das ist ja sogar eine feste Redewendung. Oder man verzichtet in einem Konfliktgespräch darauf, eine bestimmte Überzeugung zu äußern oder ein bestimmtes Argument anzuführen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Drittens gibt es elementare menschliche Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Grundrechte: Der russische Regimekritiker Alexej Nawalny verzichtete auf seine Freiheit im Exil, um als Oppositioneller in seine Heimat zurückzukehren. Im Bereich des Klimaaktivismus gibt es Antinatalisten, die auf Nachkommen verzichten – als Zeichen dafür, dass wir uns womöglich auf eine Zukunft ohne Lebensperspektive zubewegen. Die vierte Ebene betrifft die existenziellen Grundbedürfnisse. Jemand verzichtet etwa, wie schon erwähnt, auf Schlaf oder eine Zeit lang auf Nahrung, zum Beispiel im Rahmen religiöser Fastentraditionen.

Manche können problemlos auf schnelles Fahren auf der Autobahn verzichten, andere wollen das auf gar keinen Fall aufgeben. Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die manche Menschen eher dazu bereit machen zu verzichten als andere?

Sicher, das geht wahrscheinlich bis hin zu genetischer Veranlagung. Meine Töchter beispielsweise haben ein sehr ausgeprägtes Essbedürfnis. Wenn es nichts zu essen gibt, bekommen sie äußerst schlechte Laune. Ich selbst kenne das nicht. Entsprechend fällt es mir leichter, auf Essen zu verzichten als ihnen. Allerdings verzichten sie wie ich auf Fleisch – aus tierethischen Gründen. Wenn es ein wichtiges Ziel gibt, dann ist grundsätzlich jeder Mensch in der Lage, zu verzichten, wenn auch an unterschiedlichen Stellen, mit unterschiedlichen Mühen. Jede und jeder kann den Verzicht dann auch bewusst in eine Sozialgemeinschaft einbringen.

Was meinen Sie damit?

Beispiel Klimaschutz: Die einen können vielleicht eher darauf verzichten, Fleisch zu essen, andere dafür eher auf bestimmte Formen der Mobilität, zum Beispiel auf einen privaten Pkw. Ich möchte gar nicht darüber urteilen, was davon höherwertig ist. Wenn wir jedoch erkennen und gegenseitig anerkennen, dass Verzicht ein hilfreiches Element des Miteinanders darstellt, kann jede Form des Verzichts im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel einen Beitrag leisten.

»Man kann sehr gute Gründe für Verzicht kennen und trotzdem nicht entsprechend handeln«

Woher rührt meine Motivation, wenn ich auf etwas verzichte? Ist es Einsicht, also Vernunft, oder spielen auch Emotionen wie Trauer oder Liebe eine Rolle?

Beides. Man kann sehr gute Gründe für Verzicht kennen und trotzdem nicht entsprechend handeln. Man weiß es zwar, doch man tut es einfach nicht. Insofern muss zur Vernunft auch noch Emotion oder Empathie mit anderen hinzukommen. Eltern verzichten für ihre Kinder. Das beginnt schon bei der werdenden Mutter, die in der Schwangerschaft auf Alkohol und Nikotin verzichtet, um ihrem Baby nicht zu schaden. Oder: Liebende verzichten auf eigene Freiheiten, weil es der Partnerschaft dient. Diese engen Sozialbeziehungen sind so etwas wie Keimzellen des Verzichts – und in einer ganzheitlichen Beziehung handelt man immer in einer Mischung aus Gefühl, Empathie und Vernunft.

Was ist mit Mitleid als Motivation?

Mitleid ist eine sehr starke Motivation und spielt schon lange eine wichtige Rolle in der Ethik. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas sagte, die Bedürftigkeit des anderen sei der Beginn der Ethik. Wir werden angerührt und so zum Handeln motiviert. Oder denken Sie an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Ein Mensch, der von Räubern überfallen wurde, braucht akute Hilfe. Und der Samariter, eigentlich kein Freund der Juden, hilft. Und warum? Weil es ihn im Innersten bewegt, wie es wörtlich im Neuen Testament heißt.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gibt es aber auch die zwei anderen Männer, die zuvor einen großen Bogen um den Verletzten machen und ihn halb tot liegen lassen.

Das ist eine spannende Beobachtung. Parabeln sind Beispielerzählungen, keine Moralpredigten. Sie wollen zum Nachdenken und Nachempfinden einladen und machen dies, indem sie eine Identifikation mit allen beteiligten Figuren ermöglichen. Wir wollen uns natürlich immer schnell auf die Seite des Samariters schlagen. Aber letztlich ist es so, dass wir alle oft genug vorbeilaufen oder – auf unser Thema bezogen – im echten Leben eben nicht verzichten, obwohl es uns vielleicht sogar geboten erscheint. Das ist die Ambivalenz unseres Menschseins.

Verzichten habe auch eine soziotherapeutische Funktion, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was genau ist damit gemeint?

Ich stelle eine Ethik des Verzichts vor. Für den Einzelnen bräuchte man so etwas nicht. Ethik kommt immer erst ins Spiel, wenn es um Gemeinschaft geht, wenn man die Regeln des Zusammenlebens aushandeln und begründen muss. Wieso ist das eine Handeln besser als das andere? Da steckt immer eine Wertung drin. Das Soziotherapeutische ist das Heilen von gesellschaftlichen Konflikten. Und genau hier kann der Verzicht wirksam werden.

Hat der Verzicht auch deshalb etwas mit Verzeihen zu tun?

Durchaus. Beides hängt schon begriffsgeschichtlich zusammen. Unser Begriff »Verzicht« stammt aus dem späten Mittelalter. Eine seiner Grundbedeutungen ist, dass man ein Recht nicht in Anspruch nimmt, etwa das Recht auf Schadensersatz oder Vergeltung. Wer darauf verzichtet, hat die Souveränität, dem Schuldner ohne Gegenleistung zu verzeihen. Und so zu verzeihen kann Menschen frei machen, frei von Schuldzuschreibungen und Rachegelüsten etwa. Somit dient der Verzicht dem Entschärfen von zwischenmenschlichen Konflikten.

»Verzichtsethik richtet sich an die Habenden und Privilegierten«

Gilt das auch im größeren – gesellschaftlichen – Maßstab?

Ich denke ja. Betrachten Sie beispielsweise die starke Ungleichverteilung von Besitz – in Deutschland, aber auch auf der ganzen Welt. Oft nimmt die Ethik die Marginalisierten und Entrechteten in den Blick. Wir meinen dann, diesen helfen zu müssen, indem wir sie auf das Niveau bringen, auf dem wir Menschen in Mitteleuropa, die wir es gut haben, heute stehen. Das würde aber die Belastungsgrenzen der Sozialsysteme und selbstverständlich auch die des Planeten sprengen. Es ist schlichtweg nicht möglich, dass alle Menschen ein durch und durch so privilegiertes Leben führen wie viele von uns. Wir müssen uns irgendwo in der Mitte treffen. Verzichtsethik richtet sich daher bewusst an die Habenden und Privilegierten. Wenn sie – und hier rechne ich mich auch selbst ein – also wenn wir lernen zu verzichten, werden dadurch wieder mehr Güter für die heute Unterprivilegierten freigesetzt. Das führt zu mehr Gerechtigkeit.

Haben Sie noch ein anderes Beispiel?

Denken wir an die Medizinethik. Wir wissen, dass ein Großteil der Ressourcen des Gesundheitssystems für die letzten Lebensjahre aufgewendet wird, was durch altersbedingte Gebrechen bedingt ist. Hier stellt sich die Frage der Generationengerechtigkeit: Warum wird beispielsweise so viel weniger in Bildung oder in die Gesundheitsvorsorge bei Kindern investiert, während wir für die letzten drei Lebensjahre ein Drittel und mehr der Ressourcen im Gesundheitssystem verbrauchen?

Sollen kranke Senioren jetzt auf Behandlung verzichten?

Tatsächlich kann der Verzicht auf Maximaltherapien am Lebensende ein Lernfeld für ältere Menschen sein. Ich kenne viele, die ganz bewusst und schon lange im Vorhinein festlegen, dass sie nicht alles in Anspruch nehmen wollen, was man medizinisch noch versuchen könnte, wenn zum Beispiel eine Krebserkrankung nicht mehr heilbar ist. Dann muss nicht nochmal operiert, nochmal bestrahlt werden, zumal all das ja auch nicht unbedingt zu einer besseren Lebensqualität führt. Oft ist die Therapie als solche mit viel weiterem Leid verbunden.

Steht hinter dem Verzicht auf Maximaltherapie, zum Beispiel in Patientenverfügungen, nicht gerade das Motiv, das eigene Leiden nicht noch weiter zu strecken? Im Vergleich zur Angst vor noch mehr Leid erscheint es doch sehr abstrakt, Ressourcen zu schonen, die dann – wenn es gut läuft – in die Gesundheitsvorsorge von Kindern umgeleitet werden.

Verzicht auf Maximalversorgung ist in den meisten Fällen sicherlich zunächst einmal eine individuelle Entscheidung. Man möchte nicht endlos leiden. Das kann durchaus im Vordergrund stehen. Es wäre aber ein wichtiger Nebeneffekt, wenn mit einer solchen Haltung auch die Kinder, Enkel oder gar gesellschaftliche Ressourcen in den Blick geraten. Auch hier steckt Freiheit drin: Die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Lebens kann die Idee hervorbringen, dass es nicht notwendig ist, diese Begrenztheit immer weiter zu dehnen, wenn sich das Leben seinem Ende zuneigt. Es gilt am Ende ohnehin, versöhnt auch auf die Brechungen und Defizite seines Lebens zu blicken, statt dem Irrglauben hinterherzuhängen, diese in den letzten Wochen oder Monaten noch ausgleichen zu können. Das kann eine Befreiung sein. Schon die alten Philosophen, etwa die Stoiker, sahen im Verzicht auf Lebensverlängerung um jeden Preis die höchste Form der Freiheit.

Was ist mit Verhaltensänderungen gegen die Klimakrise? Ich würde mutmaßen, dass vielen Menschen vom Verstand her klar ist, dass ein Verzicht zum Beispiel auf Flugreisen oder auf schwere Verbrennerautos grundsätzlich sinnvoll wäre. Aber konkret stellt sich dem Einzelnen doch die Frage, was der eigene Verzicht denn überhaupt bringt im großen weltweiten Maßstab … 

Da es beim Verzicht um eine Lebenshaltung geht, steht zunächst nicht die Effizienz meines kleinen Verzichts, in Zahlen gemessen, im Vordergrund. Vielmehr geht es um eine Transformation der Lebenseinstellung, die dann ausstrahlen kann und wird. Denn es kann nicht so weitergehen: Dieses Jahr war der 3. Mai der Welterschöpfungstag für Deutschland. Das heißt, bis zu diesem Datum hatten wir die nachwachsenden – oder auf schonende Weise gewinnbaren – Ressourcen für das gesamte Jahr 2025 bereits verbraucht. Oder anders formuliert: Alles, was wir in Deutschland ab dem 4. Mai bis zum 31. Dezember noch verbrauchen, geht auf Kosten künftiger Generationen. Sie müssen irgendwann mit unseren Altlasten leben, denn wir quetschen die Erde aus wie eine Zitrone. Der Nahhorizont des Verzichts sind hier unsere eigenen Kinder oder die unserer Freunde. Was für ein Leben werden sie in 20, 30 Jahren noch haben können? Und dieser Blick führt uns wieder aus der Individualbetrachtung heraus.

Aber inwiefern macht dieser Blick frei, wenn Verzicht doch Freiheit bedeutet, wie Sie sagen?

Mit Blick auf den Klimawandel könnte ich beispielsweise überlegen, ob ich nicht auch ohne Fernreisen gut Urlaub machen kann, Deutschland ist schließlich auch schön. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Worauf kommt es eigentlich an beim Urlaubmachen? Genau wie bei der Frage nach der Maximalversorgung am Lebensende müssen wir auch hier Werte und Normen abwägen. Die Tourismusbranche suggeriert uns gern, dass bestimmte Erfahrungen in weiter Ferne geradezu unverzichtbar seien. Das erzeugt Druck. Wenn ich dann aber in Malaysia oder auf Kuba bin, merke ich vielleicht, wie feucht da das Klima ist oder wie beschwerlich die lange Hin- und Rückreise. Fragen wir uns also: Worauf kommt es an, um im Urlaub glücklich zu sein? Die Frage nach dem Glück ist ja eine der Kernfragen der Ethik seit Aristoteles.

»Ein gutes Leben ist ein glückliches Leben, und darauf sollten wir auf keinen Fall verzichten«

Und wie lautet Ihre Antwort?

Zunächst einmal: Ein gutes Leben ist ein glückliches Leben, und darauf sollten wir auf keinen Fall verzichten. Doch welchen Handlungsradius, welche Möglichkeiten muss ich dafür in Anspruch nehmen? Und hier machen Menschen die Erfahrung: Ja, verzichten tut gut. Es kann tatsächlich in paradox anmutender Weise so sein, dass ich mich durch eine Verkleinerung meines Urlaubsradius oder meines Aktivismus am Urlaubsort besser erhole und mehr Glückserfahrungen mache als in weiter Ferne.

Noch einmal zum Thema Freiheit: Ist eine Verzichtsethik nicht wieder ein Einfallstor für moralische Pflichten? Wir sollen gefälligst auf Flugreisen und medizinische Maximalversorgung und vieles andere mehr verzichten. Entsteht dadurch nicht neuer Druck, der uns wieder unfrei macht?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich möchte die Verzichtsethik bewusst von einer Pflichtenethik abgrenzen. Bei Pflichtenethik denken wir vor allem an Immanuel Kant und seinen kategorischen Imperativ: Jede Handlung solle zu einem allgemeinen Gesetz werden können, dann ist sie gut. Das heißt aber, dass es immer ums Prinzipielle, immer um alles geht. Alles ist ganz hoch gehängt, nichts ist flexibel. Dass etwas, das wir tun, in einer Situation richtig sein kann und in einer anderen nicht, hat hier keinen Platz. Pflichtenethik besagt zum Beispiel: Ich muss immer und überall die Wahrheit sagen. Es kann jedoch manchmal gut sein, eine Unwahrheit auszusprechen, etwa um einen Menschen zu schützen. Im Gegensatz dazu ist Verzichtsethik nicht prinzipiell, sondern lebensnah, ist eine praktische Ethik. Sie ist von Flexibilität geprägt, man kann auch von Zeit zu Zeit verzichten, entscheidend ist die Ausrichtung auf ein Ziel oder einen höheren Wert. Es handelt sich somit um eine auf die Konsequenzen ausgerichtete Tugendethik, geleitet von der Flexibilität und Freiheit des Einzelnen.

Kann man Verzichten lernen?

Ja, man kann sich im Verzicht üben. Das ist nicht umsonst eine feste Redewendung. »Übung« deutet darauf hin, dass es nicht um eine einmalige Entscheidung geht, sondern um einen Prozess, um einen längeren Weg. Schauen wir auf das Beispiel Fleischkonsum: Ich bin schon lange Vegetarier und habe noch eine Zeit erlebt, in der Vegetarismus sehr prinzipiell diskutiert wurde, nach dem Motto »hopp oder top«. In meiner Verzichtsethik plädiere ich nun für den Modus, Flexitarier zu sein. Flexitarier verzichten möglichst auf Fleisch, aber nicht grundsätzlich, sondern gestatten sich Ausnahmen. Damit ist die Latte nicht zu hoch gelegt. Man kann mal anfangen zu verzichten und das steckt andere an und hat am Ende dann eine größere Breitenwirkung als die ideologischen Grabenkämpfe. So zeigen es die Statistiken: Indem heute gerade jüngere Menschen immer wieder auf Fleisch verzichten, ist die positive Wirkung für das Klima größer, als durch die seit Jahrzehnten konstante kleine Anzahl von Leuten, die sich immer fleischlos ernähren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass radikale moralische Appelle oft wirkungslos verpuffen oder in unergiebigen Konfliktgesprächen enden. Verzichtsethik setzt auf kleine Schritte und das Lernen durch Vorbilder, die zum Nachdenken und Nachahmen einladen.

Was hilft Menschen, die gern verzichten würden, es aber nicht schaffen?

Auf den Einzelnen bezogen: gelassen bleiben. Wenn ich mir vornehme, auf etwas zu verzichten, und dann doch nicht konsequent bin, ist deswegen nicht alles falsch und vergebens gewesen. Schon ein kleiner oder zeitlich begrenzter Verzicht kann sinnvoll und wertvoll gewesen sein. Was auch guttut, ist, sich über die kleinen Verzichtsmomente zu freuen, die immer – und immer wieder neu – möglich sind.

»Verzicht kann Gemeinschaft stiften, und Gemeinschaft tut Menschen gut«

Und auf andere bezogen?

Verzicht kann Gemeinschaft stiften, und Gemeinschaft tut Menschen gut, sie motiviert zum Dranbleiben. Man kann zum Beispiel als Familie vereinbaren, für eine gewisse Zeit oder für bestimmte Fahrten auf das Auto zu verzichten und stattdessen Carsharing zu nutzen. Und dann kann man sich darüber austauschen – auch über die Mühen des Verzichts – und sich gegenseitig bestärken. Oder man kann sich gegenseitig trösten, wenn in der Folge des Verzichts etwas nicht so klappt, wie erhofft. Das hilft sehr dabei, sich in der Kulturtechnik des Verzichts weiterzuentwickeln und mit den eigenen, vielleicht ja auch übertriebenen Ansprüchen gut umzugehen.

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