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Telemedizin: Warum die Digitalisierung im Wartezimmer sitzt

Telemedizin könnte die Versorgung von Patienten erleichtern und das Gesundheitssystem entlasten. Doch während viele Länder digitale Krankschreibungen und Diagnosen längst etabliert haben, kämpft die Digitalmedizin in Deutschland mit alten Strukturen und neuen Hürden.
Ein Arzt in einem weißen Kittel geht durch einen Flur in einer medizinischen Einrichtung. Er hält ein Klemmbrett in der Hand. Im Hintergrund sitzen mehrere Personen auf Stühlen entlang der Wand und warten. Einige von ihnen schauen auf ihre Mobiltelefone. Die Szene vermittelt den Eindruck eines Wartezimmers in einer Klinik oder einem Krankenhaus.
Wartezimmer sind überfüllt, es fehlt an medizinischen Fachkräften, die Bevölkerung wird immer älter. Der Bedarf wäre da und Telemedizin könnte ein Baustein sein, das deutsche Gesundheitssystem zu entlasten.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und fühlen sich elend. Ihre Stirn glüht, sie zittern, die Knie geben auf dem Weg zum Badezimmer fast nach. 38,7 Grad Celsius zeigt das Fieberthermometer. Grippe? Covid? Sie rufen bei der Arbeit an und melden sich krank, doch sie brauchen ein Attest. Nun rächt sich, dass Sie sich nach dem Umzug keinen Hausarzt gesucht haben. Die ersten drei Praxen nehmen keine neuen Patienten an. Die vierte zeigt sich gnädig: »Kommen Sie vorbei, aber ohne Termin werden Sie warten müssen«. Sie schleppen sich in die Arztpraxis, füllen diverse Formulare aus, sitzen eine Stunde lang fiebrig und schniefend im Wartezimmer und weichen den vorwurfsvollen Blicke der anderen Patienten aus. Die Untersuchung samt ärztlichem Rat (»Ruhen Sie sich aus!«) dauert keine fünf Minuten, hat Sie aber den halben Tag und viel Kraft gekostet. Und womöglich haben Sie dabei zahlreiche weitere Menschen angesteckt.

Geht das nicht auch anders? Schon seit dem 1. Oktober 2019 sind Videosprechstunden Kassenleistung. Im beschriebenen Fall hätte es auch so laufen können: Sie vereinbaren bequem von zu Hause eine Videosprechstunde. Nach kurzem Gespräch erhalten Sie eine Krankschreibung von einem Arzt aus Berlin, Bayern oder Bremen – und können sich wieder ins Bett legen.

Doch ganz so einfach ist es nicht mehr. Seit dem 01. März 2025 gelten neue Regeln der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die eine scharfe Kontroverse ausgelöst haben. Dass jemand aus Berlin von einer Ärztin aus Bayern per Video behandelt wird, soll künftig die Ausnahme sein.

Die neuen Regeln zur Videosprechstunde zeigen exemplarisch das Dilemma der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Während Patienten lange auf Termine warten, die Wartezimmer überquellen und es an medizinischen Fachkräften mangelt, kommt die Digitalisierung nur schleppend voran und ist geprägt von Diskussionen, aber auch technischen Hürden.

Baustelle Telemedizin

»Bei der Digitalisierung bildet das deutsche Gesundheitswesen das Schlusslicht in Europa«, so das Fazit einer Vergleichsstudie der Boston Consulting Group von 2023. Deutschland landet mit 30 Punkten auf dem vorletzten Platz des Digital Health Index, nur Polen schneidet etwas schlechter ab. An der Spitze stehen Estland und Dänemark mit 82 und 73 Punkten.

Immerhin gibt es Fortschritte: Seit Januar 2024 ist das E-Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland Pflicht. Auch Krankschreibungen erfolgen routinemäßig elektronisch über die eAU. Ärzte schicken ihre Quartalsabrechnung digital an die zuständige Kassenärztlichen Vereinigung. Gesetzlich Versicherte weisen sich beim Arzt oder Zahnarzt mit ihrer elektronischen Gesundheitskarte aus, neuerdings auch wahlweise durch eine GesundheitsID. Und nach einem holprigen Start und einem begrenzten Probebetrieb ist die elektronische Patientenakte (ePA) seit Ende April 2025 für alle gesetzlich Versicherten automatisch verfügbar, sofern sie nicht widersprochen haben. Ab Oktober 2025 müssen Ärztinnen und Ärzte die digitale Akte aktiv nutzen – etwa für Befunde, Medikationspläne oder Arztbriefe.

Vom Notfalleinsatz bis zur Fallbesprechung

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens hält auch dort langsam Einzug, wo jede Minute zählt: in der Notfallversorgung. Nordrhein-Westfalen baut seit einigen Jahren ein flächendeckendes Telenotarztsystem auf, das Teams in den Rettungswagen live mit erfahrenen Notärzten in der Leitstelle verbindet. Per Kamera, Headset und Vitaldaten in Echtzeit unterstützen diese aus der Ferne die Einsatzkräfte vor Ort. Sie werten etwa EKG-Daten aus oder besprechen erste Maßnahmen.

Die Telenotärzte sollen vor allem eins: Zeit überbrücken, bis ein Notarzt beim Patienten eintrifft. In weniger schlimmen Fällen können sie die Rettungssanitäter vor Ort anleiten oder feststellen, ob ein Notarzt überhaupt ausrücken muss. Das wird angesichts des Fachkräftemangels immer wichtiger. Wird ein Arzt zu einem Einsatz gerufen, bei dem er nicht zwingend gebraucht wird, fehlt er womöglich dort, wo es wirklich um Leben und Tod geht.

In Aachen ist das Telenotarztsystem bereits seit elf Jahren erprobt. Eine retrospektive Studie der Universität Aachen bescheinigte dem Modell im Januar 2024 eine erfolgreiche Entwicklung: Zwischen 2015 bis 2021 wurde in mehr als 23 000 Fällen (10,1 Prozent der Einsätze) ein Telenotarzt zu Rate gezogen, während gleichzeitig die Notarztfahrten zurückgingen. 2021 waren bereits 58 Rettungswagen an das System angeschlossen, und die Leitstelle bewältigte bis zu sechs Telenotarzt-Konsultationen gleichzeitig. Die Erfahrungen sind also überwiegend positiv.

In Münster wurde ein Telenotarztsystem im Juni 2024 eingeführt. Allerdings nicht ohne Startschwierigkeiten: Eine sichere und schnelle Verbindung war wegen Funklöchern nicht überall möglich. Mitte Juni 2025 zog die Feuerwehr Münster eine positive Bilanz: 70 Rettungswagen in den Kreisen Borken, Coesfeld, Warendorf, Steinfurt und Recklinghausen sowie in der Stadt Münster seien inzwischen angeschlossen. Bis Ende 2025 sollen es 150 sein. In anderen Bundesländern wie Niedersachsen und Bayern gibt es zumindest Pilotprojekte dieser Art, aber bislang noch keinen flächendeckenden Betrieb.

Ähnlich sieht es in anderen Bereichen der fachärztlichen Versorgung aus. So werden radiologische Bilder oder histologische Präparate immer häufiger durch Fachärzte beurteilt, die nicht vor Ort sind. Auch tauschen sich Mediziner bei komplexen Fällen zunehmend in Videokonferenzen aus, um fachübergreifend zu beraten oder externe Expertise einzuholen. Eine Umfrage einer Arbeitsgruppe der Universität Aachen Anfang 2024 ergab jedoch: Zwar nutzen etwa zwei Drittel der deutschen Universitäten telemedizinische Fallbesprechungen in der Intensivmedizin, doch nur in weniger als zehn Fällen pro Woche. Auch erfolgt die Vorstellung der Patientenfälle nicht standardisiert. Die Mehrheit der befragten Ärzte gab zudem an, die Patientendaten erst mündlich während des Gesprächs zu erfahren. Das Fazit der Studienautoren: »Die aktuell geringe Anzahl an Telekonsilen entspricht nicht dem mutmaßlichen Bedarf, und die Gestaltung der Leistung ist sehr heterogen.«

Missbrauch bei Videosprechstunden?

Während Telemedizin bei Notfällen und unter Fachärzten noch ausbaufähig ist, sind Videosprechstunden zwischen Arzt und Patient bereits etablierter. Besonders während der Pandemie, also 2020 und 2021, nutzten Erkrankte diese Möglichkeit der Fernsprechstunde, insbesondere bei Psychotherapeuten. Dann flaute das Interesse etwas ab. 2024 nahm die Zahl wieder deutlich zu: Von insgesamt 579 Millionen Behandlungsfällen entfielen rund 2,7 Millionen auf Videosprechstunden – etwa 25 Prozent mehr als noch 2023, wie der Trendreport des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland zeigt. Rund die Hälfte der Videosprechstunden führten Hausärzte durch, ein Drittel Psychotherapeuten. Dennoch bleibt der Anteil an der Gesamtversorgung gering, trotz Engpässen bei Arztterminen und der Covid-19-Pandemie.

Manche Krankenkassen wie etwa die Barmer oder die Techniker Krankenkasse (TK) erleichtern den Zugang zu solchen Angeboten und integrieren Videosprechstunden inzwischen direkt in ihre Apps. Die Barmer arbeitet dafür mit der SHL Telemedizin GmbH zusammen, einer Tochter der israelischen SHL Telemedicine Ltd., die TK nutzt das Angebot der TeleClinic GmbH, die zur DocMorris AG gehört.

Diese Verflechtung mit einem Versandapotheken-Konzern sorgt allerdings für Kritik bei Apothekerkammern und Ärzten: DocMorris verweise zur Verschreibung von Arzneimitteln auf TeleClinic – die Tochterfirma wiederum werbe damit, verschriebene Medikamente über den niederländischen Versender zu ordern. Die Verzahnung führte schon zu mehreren gerichtlichen Auseinandersetzungen. So untersagte etwa das Landgericht München I, dass DocMorris weiterhin von seinen Webseiten aus Patienten an die TeleClinic verweisen darf. Der Vorgang verstoße gegen das Apothekengesetz, das die Trennung von Verordnung und Abgabe regelt. Generell ist rechtlich noch nicht abschließend geklärt, was Anbieter telemedizinischer Leistungen dürfen und was nicht. Ende April 2025 entschied das Sozialgericht München, dass TeleClinic Patienten nicht zur Registrierung verpflichten darf. Nutzer müssen die behandelnden Ärzte selbst auswählen können, automatische Zuweisungen sind unzulässig. Außerdem darf TeleClinic Gesundheitsdaten aus Onlinefragebögen nur dann an Ärzte weitergeben, wenn der Patient zu Beginn der Sprechstunde ausdrücklich zustimmt. Beide Urteile sind bisher nicht rechtskräftig.

Auch bei Arbeitnehmerverbänden gibt es Bedenken gegenüber Videosprechstunden: Lädt das System zum Missbrauch ein? Ist es nicht viel zu leicht, eine Krankheit vorzuspielen? Und wie zuverlässig kann ein Arzt eine Infektion diagnostizieren, ohne den Patienten abzuhören oder ihm in den Rachen zu schauen? Auf Anfrage betonen die Krankenkassen, dass die Ärzte angehalten seien, die Indikation für Krankschreibungen oder Medikamente genau zu prüfen. Aber natürlich lässt sich ein Missbrauch nicht ganz ausschließen.

Tatsächlich ist die Zahl der Krankschreibungen in den vergangenen Jahren stark gestiegen. 2024 meldeten sich Beschäftigte in Deutschland im Schnitt an 14,8 Arbeitstagen krank, meist für wenige Tage. Eine mögliche Ursache ist die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), da sie Krankheitsfälle genauer erfasst. Ein Zusammenhang mit der verstärkten Nutzung von Telemedizin lässt sich aus den Zahlen aber nicht ableiten.

Ärztekammern warnen allerdings zunehmend vor unseriösen Anbietern, die gegen Bezahlung Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen, ohne dass überhaupt eine Anamnese stattfindet. Bei sogenannten Online-AUs können Nutzer teilweise ohne ärztliches Gespräch eine Bescheinigung erhalten. Sie tragen einfach selbst Symptome, Diagnose und Dauer der Arbeitsunfähigkeit ein und erhalten einige Minuten später ein Dokument, das aussieht wie ein klassischer gelber Schein. Diese Angebote können sogar gefährlich sein, etwa wenn tatsächlich eine Krankheit vorliegt, die deshalb unbehandelt bleibt. Zudem erfüllen sie nicht die Anforderungen der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie, wonach eine (mittelbar) persönliche ärztliche Untersuchung notwendig ist. Daher drohen Beschäftigten zudem arbeitsrechtliche Konsequenzen, wenn der Arbeitgeber die AU beanstandet.

Auch verschreibungspflichtige Medikamente wie Viagra oder medizinisches Cannabis sind über Onlineplattformen erstaunlich leicht erhältlich. Auf manchen Plattformen müssen Interessierte lediglich einen Fragebogen ausfüllen, eine ärztliche Konsultation findet oft nicht oder nur in symbolischer Form statt. Die Rezepte werden in vielen Fällen direkt an Partnerapotheken übermittelt und ausgeliefert. Die Bundesapothekerkammer warnt in einer Resolution ausdrücklich vor dieser Entwicklung: »Die Versorgung der Menschen mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln wie Medizinalcannabis darf nicht den kommerziellen Interessen von digitalen Handelsplattformen unterworfen werden«, sagt BAK-Präsident Armin Hoffmann. Die ärztliche Entscheidung einer Arzneimitteltherapie mutiere zu einem reinen Bestellvorgang durch den Nutzer oder die Nutzerin. Dies unterlaufe den Sinn der Verschreibungspflicht. Anbieter wie die Bloomwell Group widersprechen: Sie warnen vor einer Rekriminalisierung durch übermäßige Regulierung. Die Zahl der Verordnungen sei seit der Entkriminalisierung von Cannabis im März 2024 um über 1100 Prozent gestiegen. Eine Umfrage unter mehr als 2500 ihrer Nutzer zeigt: Würde der telemedizinische Zugang zu medizinischem Cannabis erneut eingeschränkt, würden 41 Prozent der Befragten wieder auf den illegalen Markt ausweichen.

Ob diese Zahl belastbar ist oder nicht: Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung von Mitte Juli 2025 sieht vor, dass medizinisches Cannabis künftig nur noch nach einem persönlichen Arztbesuch verschrieben werden darf. Zudem sollen E-Rezepte nicht mehr im Versandhandel eingelöst werden können.

Strukturelle Hürden

Dass die Telemedizin in Deutschland lange nur zögerlich vorankam, liegt auch an strukturellen Schwächen im Gesundheitssystem. Zwar ist die Fernbehandlung in Deutschland bereits seit 2018 erlaubt, doch jede der 17 Ärztekammern musste diese Regelung erst in ihre Berufsordnung übernehmen. Und das dauerte. Die Landesärztekammer Brandenburg hat ihre Zustimmung tatsächlich erst im März 2024 als letzte Kammer in Deutschland erteilt.

Technisch bestehen ebenfalls noch Hürden. So fehlt etwa bislang noch eine Verknüpfung mit der ePA. Ärzte können im Videogespräch nicht auf die dort abgelegten individuellen medizinischen Informationen des Patienten zurückgreifen. Das wäre die Aufgabe der Praxisverwaltungssysteme (PVS), doch viele haben bisher noch keine Videosprechstunden-Software integriert. Und das kann außerdem noch dauern.

»Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt bleibt der Goldstandard«Kassenärztliche Bundesvereinigung

Denn der Markt ist stark zersplittert: Mehr als 150 PVS-Systeme von unterschiedlichen Anbietern hat die KBV bisher zertifiziert, aber eine Videosprechstunden-Software wird dafür nicht gefordert. Praxen, die eine Videosprechstunde anbieten wollen, müssen das oft außerhalb ihres PVS realisieren. Entsprechend schleppend verbreitet sich dieses Angebot.

Die TeleClinic wirbt auf ihrer Webseite damit, dass sie mehr als 4000 Ärzte unter Vertrag hat. Das hört sich eindrucksvoll an, doch diese Zahl relativiert sich angesichts von rund 190 000 niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten in Deutschland. Bis März 2024 durften Ärzte zudem maximal 30 Prozent ihrer Behandlungen als Videosprechstunden erbringen. Die Begrenzung wurde durch den Bewertungsausschuss der KBV inzwischen geändert: Bei bekannten Patienten – also solchen mit persönlichem Kontakt in einem der letzten drei Quartale – liegt die Obergrenze nun bei 50 Prozent aller Konsultationen. Für unbekannte Patienten bleibt sie bei 30 Prozent.

Auf Anfrage erklärte die KBV: »Videosprechstunden können das Versorgungsangebot einer Praxis ergänzen. Man darf aber nicht übersehen: Viele Erkrankungen können nicht per Videosprechstunde behandelt werden. Das fängt schon beim Abhören mit dem Stethoskop an. Der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt bleibt der Goldstandard.«

»Telemedizin wird so kompliziert gemacht, dass es keiner mehr macht«Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung e.V.

Neue Regeln: Ersteinschätzung und Wohnortnähe

Die am 1. März 2025 mit dem GKV-Spitzenverband geschlossene Vereinbarung engt das Angebot mittlerweile zusätzlich ein. Vermittlungsportale müssen vor der Videosprechstunde ein »Ersteinschätzungsverfahren« vornehmen, etwa in Form eines Fragebogens, den der Patient vorab ausfüllt. Der Vermittler der Videosprechstunde beurteilt dann, ob diese angemessen ist. Hinzu kommt, dass vorrangig Kontakte zwischen Ärzten und Patienten in räumlicher Nähe vermittelt werden sollen. »Räumliche Nähe« bedeutet, dass die Praxis für den Patienten innerhalb von 30 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein soll.

Der Telearzt soll außerdem bei Bedarf zeitnah einen persönlichen Anschlusstermin in seiner Praxis anbieten können, was über größere Entfernung natürlich schwierig sein kann. Laut KBV und GKV soll die neue Vereinbarung dafür sorgen, dass Patientinnen und Patienten besser versorgt werden – mit wohnortnahen Ärzten und einer strukturierter Anschlussversorgung. »Mit der Vereinbarung setzen wir zum einen gesetzliche Vorgaben um«, sagt Sibylle Steiner, Mitglied des Vorstands der KBV. »Zum anderen stärken wir die Qualität der Videosprechstunde.«

Doch manche sehen damit auch einen Widerspruch zu dem, was viele Menschen sich wünschen: schnelle, ortsunabhängige, unkomplizierte Hilfe. Die Anbieter von Teledienstleistungen sind von der Regelung ebenfalls nicht begeistert. Der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. erklärte, dass das Ersteinschätzungsverfahren, also die strukturierte Anamnese, durch den behandelnden Telearzt erfolgen sollte. Zudem seien gerade Patienten mit seltenen oder chronischen Erkrankungen oft auf Spezialisten aus anderen Regionen angewiesen.

Telemedizin »wird so kompliziert gemacht, dass es keiner mehr macht«, erklärt Anne Sophie Geier, die Geschäftsführerin des Spitzenverbands. »Der Bedarf ist da. Praxen sind überlastet. Vereinfachte Regelungen würden die Akzeptanz deutlich erhöhen.«

»Telemedizin ist ein wichtiges Zukunftsthema. Deutschland muss aufpassen, dass es nicht den Anschluss verliert«Johannes Ruppert, Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V.

Bei dem Streit geht es zudem ums Geld: Wird ein Patient über eine Videosprechstunde mit einem Kassenarzt verbunden, darf dieser eine so genannte Versichertenpauschale abrechnen. Sie wird einmal pro Behandlungsfall angesetzt, auch wenn mehrere Arztkontakte dazugehören, bis die Krankheit auskuriert ist. Fordert ein Patient per App eine Videosprechstunde an, würde jeder Kontakt wahrscheinlich von einem anderen Videoarzt abgewickelt, der jeweils erneut die Pauschale abrechnet. Doch alle Kassenärzte teilen sich einen festen Gesamtbetrag pro Quartal, den sie jeweils mit den Kassen aushandeln. Die wenigen Ärzte, die Videosprechstunden anbieten, könnten sich also überproportional aus diesem Topf bedienen.

Die aktuelle Vereinbarung schränkt dies deutlich ein. Das erklärt, warum es ein Ersteinschätzungsverfahren geben soll, das dem Arztkontakt ausdrücklich vorgeschaltet ist. Stellt sich dabei heraus, dass ein persönlicher Kontakt nötig ist, wird kein Videoarzt eingeschaltet und es fällt dafür keine Versichertenpauschale an. Sobald ein Großteil der Ärzte Videosprechstunden anbietet, gleicht sich das natürlich aus.

Doch davon ist Deutschland noch weit entfernt. Johannes Ruppert vom Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V. fasst zusammen: »Telemedizin ist ein wichtiges Zukunftsthema. Deutschland muss aufpassen, dass es nicht den Anschluss verliert.«

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  • Quellen
Schröder, H. et al., Scientific Reports 10.1038/s41598–023–50924–5, 2024
Dohmen, S. et al., Anästhesiologie und Intensivmedizin 10.19224/ai2024.479, 2024

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