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Theoretische Physik: Viele Alltagswelten für eine Quantenwelt

Da wird die "klassische" Viele-Welten-Theorie auf den Kopf gestellt: Hinter den mysteriösen Quantenphänomenen auf mikroskopischer Ebene stecken Kollisionen von Welten mit klassischer Physik. Diese neue Interpretation bringen jetzt drei Physiker aufs Tapet.
Die Kugel des Anstoßes

Die Quantenwelt erscheint uns durch und durch bizarr: Objekte können sich beispielsweise gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten aufhalten, oder sie können sowohl die Eigenschaften einer Welle als auch die eines Teilchens zeigen. Wie sich ein solch rätselhaftes Verhalten erklären lässt, ist seit jeher umstritten. Nun liefern theoretische Physiker einen gänzlich neuen Ansatz: Gehen die unerklärlichen Eigenschaften der Quantenwelt darauf zurück, dass mehrere parallele Alltagswelten miteinander wechselwirken?

Ihre Theorie unterscheide sich grundlegend von früheren Interpretationen der Quantenmechanik, berichtet Howard Wiseman von der Griffith University im australischen Brisbane. Zusammen mit seinen Kollegen hat der theoretische Quantenphysiker das neue Konzept nun in der Fachzeitschrift "Physical Review X" vorgestellt.

Aus klassischen Welten wird die Quantenwelt

Um das Verhalten der Quantenwelt zu beschreiben, haben sich Theoretiker schon unterschiedlichster mathematischer Konstrukte bedient. Beispielsweise basiert eine ältere Interpretation ebenfalls auf vielen parallel existierenden Welten, doch laut dieser "Viele-Welten-Interpretation", die der US-Theoretiker Hugh Everett III. in den 1950er Jahren entwickelte, handelt es sich dabei um parallele Quantenwelten. Aus ihnen soll laut der Theorie schließlich unsere Alltagswelt hervorgehen. Die Welten dieser Theorie verzweigen sich unabhängig voneinander und beeinflussen sich gegenseitig nicht.

Wiseman und sein Team hingegen lassen ihre Welten unablässig aufeinanderprallen, weshalb sie ihren Ansatz auch die "Viele-wechselwirkende-Welten-Interpretation" nennen. Das entscheidende Merkmal: Für sich genommen gehorcht jede Welt den klassischen newtonschen Gesetzen. Betrachtet man diese Welten jedoch zusammen, beeinflussen sich ihre Bewegungen gegenseitig und rufen so Phänomene hervor, die Physiker üblicherweise der Quantenwelt zuschreiben.

Die Probe aufs Rechenexempel

Mit Hilfe mathematischer Mittel untersuchten die Autoren, wie diese Wechselwirkung zu Quantenphänomenen führen kann. Ein bekanntes Beispiel für quantenmechanisches Verhalten ist der Tunneleffekt: Ein Teilchen kann eine Energiebarriere "durchtunneln", obwohl diese in einer klassischen Welt unüberwindbar wäre. Wie lässt sich das erklären? Gemäß Wisemans Theorie folgendermaßen: Wenn sich zwei klassische Welten einer Energiebarriere aus entgegengesetzten Richtungen nähern, wird eine von ihnen an Fahrt aufnehmen, während die andere zurückprallt. Infolgedessen kann die beschleunigte Welt durch die scheinbar unüberwindbare Barriere dringen – genau wie es beim Tunneleffekt der Fall ist.

Auch andere Quantenphänomene ließen sich dem Team zufolge mit vielen sich gegenseitig beeinflussenden Welten erklären. Die Physiker haben beispielsweise berechnet, dass 41 miteinander wechselwirkende Welten das Phänomen der Quanteninterferenz verursachen können, das sich unter anderem im berühmten Doppelspaltexperiment beobachten lässt. Dieser historische Versuch demonstriert auf eindrucksvolle Weise den Welle-Teilchen-Dualismus: Licht wie auch Teilchen besitzen sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften.

Auf das Team wartet allerdings noch viel Arbeit. "Wir haben noch längst nicht alle Fragen beantwortet, die eine solche neue Interpretation mit sich bringt", gesteht Wiseman. Eine Herausforderung bleibt neben anderen die quantenmechanische Verschränkung: Hierbei sind Eigenschaften von Teilchen auf rätselhafte Weise miteinander verknüpft, egal wie weit die Partikel voneinander entfernt sind. Dieses Quantenphänomen konnten Wiseman und seine Kollegen bisher noch nicht im Rahmen ihrer Theorie erklären.

Viele Forscher für viele Welten

Wiseman hofft, künftig mehr Wissenschaftler für seine Theorie gewinnen zu können, um gemeinsam mit ihnen die dringenden Fragen anzugehen. Etwa, welche Arten von Kräften zwischen den Welten nötig sind, damit es zu einer gegenseitigen Beeinflussung kommt, und ob es spezieller Anfangsbedingungen bedarf, damit diese Welten überhaupt miteinander wechselwirken. "Mich motiviert die Suche nach einem schlüssigen Realitätskonzept, das Quantenphänomene in einer natürlichen Weise wiedergibt", sagt der Physiker.

Charles Sebens von der University of Michigan in Ann Arbor ist begeistert von der neuen Herangehensweise. Der Philosoph und Physiker hat unabhängig davon eine ähnliche Theorie entwickelt, der er den widersprüchlichen Namen "Newtonsche Quantenmechanik" gab. Sebens und die Gruppe um Wiseman verfolgen zwar unterschiedliche Ansätze, dahinter steht aber dieselbe Grundidee. "Sie liefern sehr schöne Analysen bestimmter Phänomene wie der Grundzustandsenergie und des Quantentunnelns – ich beschäftige mich eingehend mit Wahrscheinlichkeit und Symmetrie", erläutert Sebens. "Sie präsentieren diese spannende neue Idee wirklich gut, finde ich." Sebens beschreibt seinen Ansatz in einem Artikel, der in der Zeitschrift "Philosophy of Science" veröffentlicht werden soll.

Wege zu finden, wie sich ihre Idee überprüfen lässt, wird der nächste Schritt für das Team sein. Möglicherweise weichen die Vorhersagen des neuen Ansatzes minimal von denen der Quantentheorie ab, sagt Wiseman. "Wie diese Abweichungen aussehen, haben wir zwar noch nicht herausgefunden, aber ich denke, sie werden sich sehr von der Art von Abweichungen unterscheiden, nach denen man derzeit sucht."

Dieser Text erschien unter dem Titel "A quantum world arising from many ordinary ones" in "Nature".

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