Streit um Kläranlagen: Wer bezahlt für sauberes Wasser?

Viele Flüsse in Deutschland wirken sauber. Sie stinken nicht wie noch im 20. Jahrhundert und führen keine Schaumkronen mehr mit sich. Doch laut Umweltbundesamt befindet sich kein einziger deutscher Fluss in einem »guten chemischen Zustand«. Nach wie vor gelangen – unsichtbar und ohne Gestank – jedes Jahr tausende Tonnen problematischer Substanzen ins Wasser.
Zum einen wandern aus der Landwirtschaft in großem Stil Rückstände von Pestiziden und Düngemitteln in Flüsse und Seen. Das ist aber nicht die einzige Quelle für Verschmutzungen. Kläranlagen sind mit den bisher üblichen Reinigungstechniken nicht mehr in der Lage, problematische Chemikalien aus Haushalten und Fabriken effektiv abzufangen – darunter auch Rückstände von Kosmetika und Medikamenten. Im Abwasser entsteht dadurch ein Mix aus Flammschutzmitteln, so genannten Ewigkeitschemikalien wie Trifluoressigsäure, Desinfektionsmitteln, Schmerzmitteln, Antibiotika, Antidepressiva, hormonartigen Wirkstoffen und Kosmetikrückständen. Er kann Wasserbewohner krank machen, ihre Fruchtbarkeit hemmen oder ihrem Nachwuchs schaden. Nur neun Prozent der deutschen Gewässer gelten als ökologisch intakt, also rundum lebensfreundlich für Pflanzen und Tiere.
»Viele der im Abwasser vorhandenen Substanzen lassen sich in Flüssen wie Donau, Elbe und Rhein, aber besonders auch kleineren Gewässern nachweisen, wo sie schädliche Auswirkungen auf verschiedene Organismen haben können«, sagt Saskia Finckh vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig.
Die Chemikerin hat in einer groß angelegten Studie Fließgewässer auf hunderte Chemikalien untersucht, die für Wasserorganismen gefährlich sind. Dabei hat sie allein 175 pharmazeutische Wirkstoffe gefunden, dazu Tenside, Kunststoff- und Gummizusätze sowie fluorierte Kohlenwasserstoffe. In manchen Flussabschnitten und in Abwässern von Kläranlagen spürte Finckh 200 problematische Chemikalien auf einen Schlag auf. »Niemand weiß, wie diese Stoffe im Cocktail miteinander wechselwirken«, warnt die Wissenschaftlerin. Andere Forscher gehen von tausenden potenziell schädlichen Stoffen aus, die ins Wasser gelangen, und warnen vor einer zunehmenden »Chemisierung« der Flüsse.
Themenwoche »Ressource Wasser«
Kaum ein Gut betrachten wir hier zu Lande als so selbstverständlich wie sauberes Wasser. In der Themenwoche »Ressource Wasser« schaut »Spektrum.de« unter die Oberfläche, um drängende Fragen zu beantworten: Wie steht es um unser Grundwasser? Wie können wir dazu beitragen, die Reserven zu schützen? Wie sauber ist unser Trinkwasser? Und wer stellt sicher, dass wir ausreichend versorgt sind, wenn eine Katastrophe droht?
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Ein europäisches Forschungsteam kam zu dem dramatischen Ergebnis, dass die ökologischen Schäden durch Mikroschadstoffe europaweit einem Szenario entsprechen, in dem man die Fäkalien von 160 Millionen Menschen ungeklärt in die Flüsse leiten würde.
Dabei gibt es längst technische Lösungen: Mit der so genannten vierten Reinigungsstufe können Kläranlagen dank Aktivkohle, Ozon und Membranen gefährliche Chemikalien herausfiltern. Bisher verfügen aber nur 80 der 9000 kommunalen Kläranlagen in Deutschland über diese neuesten Methoden. Während Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Berlin bereits mit dem Einbau einiger Anlagen vorangegangen sind, herrschte im Rest der Republik lange weitgehend Stillstand. Die vierte Reinigungsstufe galt bisher als Kür, ihre Kosten konnten nicht einfach auf den Wasserpreis geschlagen werden. Deshalb beschränkt sich der größte Teil der Kläranlagen weiterhin auf die Klärstufen eins bis drei: Diese entfernen zunächst grobe Teile mechanisch, setzen anschließend Mikroorganismen zur Reinigung ein und trennen in der dritten Stufe mit chemischen Verfahren spezielle Substanzen wie beispielsweise Phosphate ab.
Alle Kläranlagen müssen bis 2045 nachrüsten
Doch mit dem 1. Januar 2025 hat sich die Lage drastisch geändert. Seither gilt: Kommunen in der EU müssen ab 2027 alle Vorkehrungen treffen, damit zwischen 2033 und 2045 schrittweise die vierte Reinigungsstufe kommt. Bis zum Jahr 2045 soll die chemische Belastung des Wassers deutlich gesunken sein. Laut der »Kommunalen Abwasserrichtlinie« (KARL) muss jede Kläranlage nachrüsten, die Abwässer von mehr 150 000 Menschen sammelt. Dazu kommen kleinere Anlagen in Gebieten, in denen Mikroschadstoffe ein Risiko etwa für das Trinkwasser darstellen. Mindestens 600 deutsche Kläranlagen fallen unter diese Nachrüstungspflicht, schätzen Experten aus der Wasserwirtschaft.
Bezahlen sollen dafür größtenteils die Pharma- und die Kosmetikindustrie: Sie sollen 80 Prozent der Kosten für die Umrüstung tragen. Hier soll nämlich das Verursacherprinzip greifen, und die EU-Kommission hat die beiden Branchen auf Grundlage von Studien als Hauptquellen von Mikroschadstoffen ausgemacht.
Mehr Bürokratie
Ab 2027 müssen in jedem EU-Land Institutionen entstehen, die Hersteller je nach deren Anteil an der Wasserverschmutzung zur Kasse bitten und die Gelder dann der Wasserwirtschaft verfügbar machen, damit diese die Kläranlagen modernisieren kann. Die Wirtschaft soll zusätzlich zu den Bau- auch die Betriebskosten übernehmen. Das fällt vor allem deshalb ins Gewicht, weil der Energiebedarf von Kläranlagen durch die vierte Reinigungsstufe um etwa ein Drittel steigt.
Die sehen das anders. Verbände und Firmen der Pharma- und der Kosmetikindustrie säen in Brüssel und Berlin Zweifel an den Studien, die den neuen Regeln zu Grunde liegen. Sie setzen sich dafür ein, im Zuge des von der EU-Kommission versprochenen Bürokratieabbaus von Auflagen und Zahlpflichten befreit zu werden, und zogen im März 2025 vor Gericht. Neue bürokratische Strukturen seien mit dem jüngst vorgestellten »Kompass für Wettbewerbsfähigkeit« der EU-Kommission unvereinbar, argumentieren die Wirtschaftsverbände.
In Brüssel trifft das auf offene Ohren: Erst Anfang Juli hat die Kommission der Chemieindustrie versprochen, Vorschriften etwa zur Kennzeichnung problematischer Stoffe zu vereinfachen. Zuvor war bereits das Ziel gekippt worden, den Einsatz von Pestiziden zu halbieren. Es ist noch offen, wie sich die EU-Kommission beim Abwasser positioniert.
Vor allem Generika-Hersteller sehen sich bedroht
Die Kosten, die eine Firma für die vierte Klärstufe aufbringen muss, richtet sich danach, welche Mengen sie von einem Wirkstoff produziert und wie giftig dieser für die Umwelt ist. Deshalb sehen sich vor allem die Hersteller und Verkäufer so genannter Generika bedroht. Das sind massenhaft nachgefragte Medikamente, die zahlreiche Firmen nach Ablauf des Patentschutzes produzieren. Für das Diabetesmittel Metformin etwa könnten sich die Produktionskosten um das Viereinhalbfache erhöhen, warnt der Geschäftsführer des Verbands »progenerika«, Josip Mestrovic, und droht: »Wenn das wirklich so kommt und sich nichts ändert, werden wir Metformin vom Markt nehmen müssen.« Der Wirkstoff kann laut dem Umweltbundesamt in Gewässern eine hormonähnliche Wirkung entfalten. Bei Versuchsfischen förderte er eine Geschlechtsumwandlung von Männchen in Weibchen und lähmte Larven.
»Die Europäische Kommission sollte jetzt die Umsetzung der Richtlinie stoppen und einen Neustart wagen«, sagt Jörg Wieczorek, Vorstandsvorsitzender des Branchenverbands Pharma Deutschland. Der VKE-Kosmetikverband, dem Unternehmen wie Chanel und L'Oréal angehören, lehnt die Ziele der Abwasserrichtlinie nicht grundsätzlich ab, will aber das Prinzip der Herstellerverantwortung kippen oder zumindest den Anteil der Branche bei einem Prozent der Kosten kappen. Die Wirtschaftsverbände fordern eine Lösung, bei der alle Wasserverbraucher die Kosten der vierten Klärstufe tragen. Sie verweisen dabei auf die Schweiz: Dort bezahlen alle Einwohner für die chemische Reinigung.
In der Sache ist vor allem strittig, welchen Anteil speziell Rückstände aus Medikamenten und Kosmetika an der Giftfracht im Wasser wirklich haben und mit welchen Kosten für die Nachrüstung der Kläranlagen bis 2045 zu rechnen ist.
Die EU-Kommission hat sich auf eine Auswertung wissenschaftlicher Studien gestützt, der zufolge die Arzneimittelbranche für 66 Prozent und die Kosmetikbranche für 26 Prozent der Giftfracht verantwortlich ist. Nach dieser Analyse gelangen jährlich allein 3500 Tonnen des Wirkstoffs Ibuprofen ins Abwasser und 47 Tonnen des Schmerzmittels Diclofenac. Laut Umweltbundesamt kann Letzteres die Nieren von Fischen schädigen. Wird die vierte Klärstufe flächendeckend eingebaut wie von der EU angedacht, ließe sich die Giftwirkung von Mikroschadstoffen laut einer weiteren Studie deutlich senken: Die Fracht entspräche dann nicht mehr dem ungeklärten Abwasser von 160 Millionen Menschen, sondern dem von 95 Millionen Menschen, hieß es in einer weiteren Studie.
Wie teuer wird der Umbau wirklich?
Die Interessenverbände der Pharma- und Kosmetikbranche kritisieren, die Datengrundlage der EU-Kommission sei unzureichend und unterschätze den Eintrag von Mikroschadstoffen aus der Chemieindustrie, aus Lebensmitteln wie Süßstoffen, aus Desinfektionsmitteln der Haushalte oder von Kunststoffresten etwa aus Reifenabrieb. Auch das Umweltbundesamt spricht sich dafür aus, nicht nur zwei Branchen zur Kasse zu bitten, sondern alle Verursacher von Mikroschadstoffen. Dieser Ansatz würde eher akzeptiert, »da keine relevanten Stoffhersteller ausgeschlossen werden und die finanzielle Belastung der einzelnen Sektoren geringer ist, da sie auf eine größere Gruppe von Herstellern verteilt wird«. Die EU-Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass weitere Branchen ergänzt werden können. Doch das wollen Pharma- und Kosmetikbranche nicht abwarten.
Schon in kleinen Mengen schädlich
Als Mikroschadstoffe bezeichnet man menschengemachte Stoffe, die in die Gewässer gelangen und dort in niedrigen Konzentrationen vorliegen – oft nur im Bereich einiger Mikrogramm pro Liter. Man bezeichnet sie auch als Spurenstoffe. Bereits geringe Mengen können Wasserorganismen schädigen und beim Gewinnen von Trinkwasser Schwierigkeiten bereiten. Zu den Mikroschadstoffen zählen etwa Rückstände von Kosmetika und Medikamenten, aber auch von Haushaltschemikalien, Pflanzenschutzmitteln oder Industriechemikalien.
Die Schätzungen darüber, was Bau und Betrieb der vierten Klärstufe kosten würden, gehen weit auseinander. Während der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), dem Kläranlagenbetreiber angehören, für Deutschland mit knapp neun Milliarden Euro bis 2046 rechnet, malen Pharma- und Kosmetikunternehmen drohende Belastungen von 40 und mehr Milliarden Euro an die Wand.
Erik Gawel hält die Behauptungen der Branchenverbände und ihre Warnung, Medikamente könnten ausfallen, für maßlos übertrieben. Er leitet die Abteilung Ökonomie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und ist Direktor des Instituts für Infrastruktur und Ressourcenmanagement an der Universität Leipzig. »Wir kommen in unseren Berechnungen auf einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag pro Jahr – das können Branchen mit riesigen Umsätzen und Gewinnmargen locker tragen«, sagt Gawel. Pro Kubikmeter Abwasser sei lediglich mit einem »kleinen zweistelligen Centbetrag« zu rechnen.
Theoretisch könne man dies auch wie in der Schweiz auf alle Wasserverbraucher umlegen, fügt der Ökonom hinzu. »Doch das wäre ungerecht, und dann würde auch der Anreiz für Hersteller entfallen, über ihre Rezepturen nachzudenken und weniger schädliche Wirkstoffe zu entwickeln.« Auch das Argument, dass einseitig die pharmazeutischen Hersteller in Europa und Deutschland belastet würden und damit im internationalen Wettbewerb im Nachteil seien, geht laut Gawel ins Leere: »Mitzahlen muss jeder, der Medikamente in Umlauf bringt, das trifft also auch Firmen aus Asien, deren Produkte bei uns importiert werden.«
Zuzahlungen aus der Wirtschaft sind längst eingepreist
Einzelne Wasserbetriebe sind schon mit gutem Beispiel vorangegangen. So ist in Dortmund-Deusen seit April 2025 eine vierte Klärstufe in Betrieb, die laut der Emschergenossenschaft, der Bauherrin der Anlage, die größte Tuchfiltration der Welt enthält. Bei den Abwasserwerten gebe es bereits eine »klar positive Tendenz«, teilte eine Unternehmenssprecherin mit: »Wir sehen der Entwicklung der Gewässergüte und des ökologischen Zustands optimistisch entgegen.« Allein diese Anlage hat jedoch mehr als 40 Millionen Euro gekostet. Für weitere, etwa in Bottrop, würde mit Kosten von 185 Millionen Euro gerechnet. Es sei nur angemessen und gerecht, wenn Pharma- und Kosmetikhersteller sich daran beteiligen müssten, sagt die Unternehmenssprecherin.
Die Berliner Wasserbetriebe, die sich um das Abwasser von mehr als vier Millionen Menschen kümmern, bauen seit 2021 im Klärwerk Schönerlinde im Norden der Stadt laut Firmensprecher Stephan Natz die erste großtechnische Ozonierungsanlage Deutschlands. Die aggressive Sauerstoffverbindung Ozon soll schwer abbaubare Spurenstoffe, etwa bestimmte Arzneimittel, »zwangsoxidieren«. Das sei schon deshalb nötig, weil die Kläranlage ihre Abwässer teils in den Tegeler See einleitet, an dessen Ufern die Brunnen für das zweitgrößte Wasserwerk der Stadt liegen.
In Berlin sind insgesamt 1,3 Milliarden Euro eingeplant, um bei der chemischen Reinigung mit der dritten und vierten Klärstufe aufzurüsten und ein vollständig neues Klärwerk zu bauen. Für Investitionen, die ab 2025 neu geplant werden, bauen die Berliner Wasserbetriebe dabei auf Zuzahlungen aus der Wirtschaft.
Vertreter von Städten, Gemeinden und kommunalen Wasserunternehmen setzen nun in Brüssel und Berlin alle ihnen verfügbaren Hebel in Bewegung, um die EU-Abwasserrichtlinie gegen den Angriff der Pharma- und Kosmetiklobby zu verteidigen. Sie können sich darauf berufen, dass die Herstellerverantwortung zu den Eckpfeilern der Nationalen Wasserstrategie zählt. »Wenn Bundesregierung und EU-Kommission jetzt auf den letzten Metern vor der Umsetzung zurückweichen, wäre das ein schlimmer Rückschritt für den Umweltschutz«, sagt Bernd Düsterdiek vom Deutschen Städte- und Gemeindebund.
Die EU-Kommission setzte noch 2024 die Schäden, die durch Mikroschadstoffe für menschliche Gesundheit und die Umwelt entstehen, mit 52 bis 84 Milliarden Euro jährlich an. Umweltökonom Gawel warnt davor, die Investitionen in die vierte Klärstufe zu verzögern: »Je länger wir zuwarten, desto härter wird uns die Chemisierung unseres Lebens später einholen, wenn die Mikroschadstoffe sukzessive auch ins Grundwasser und ins Trinkwasser gelangen«, sagt er.
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