Genozid: Die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda
Kigali, Ruanda. Die Kirche von Ntarama ist ein rotes Backsteinhaus, etwa 45 Autominuten entfernt von Ruandas Hauptstadt Kigali. Im Inneren des Gebäudes sieht es auf den ersten Blick genauso aus wie in katholischen Kirchen überall auf der Welt: Bankreihen für die Gemeindemitglieder, ein Altar, Bleiglasfenster, ein Kreuz über dem Eingang. Doch da sind auch Spuren unvorstellbaren Grauens. An den Wänden hängen blutbefleckte Kleidungsstücke, und in gläsernen Vitrinen befinden sich mehr als 260 Schädel, viele davon gebrochen oder zertrümmert und manche von Waffen durchbohrt. Gleich daneben lehnen Holzstöcke und grob geschnitzte Keulen am Altar.
Ntarama war Schauplatz eines der zahlreichen Massaker an den ruandischen Tutsi. Der Genozid zählt zu den furchtbarsten Tragödien des späten 20. Jahrhunderts. Ab dem 7. April 1994 töteten Angehörige der Hutu-Ethnie in einem 100 Tage andauernden Albtraum systematisch etwa 800 000 Tutsi – oder mehr als eine Million, anderen Quellen und der ruandischen Regierung zufolge. Die Mörder waren Milizen oder einfache Bürger, die sich gegen ihre Nachbarn wandten. Neben den Tutsi töteten sie auch gemäßigte Hutu und Twa.
Evode Ngombwa leitet die Gedenkstätte in Ntarama, wo mehr als 5000 Tutsi ermordet wurden, darunter Babys, Kinder und Schwangere, die vor ihrer Hinrichtung oft vergewaltigt wurden. In Ruanda gibt es insgesamt sechs solche Orte, die an die Gewalt erinnern. »Die Menschen haben die Täter mit Geld bestochen, um wählen zu können, wie man sie tötete. Sie konnten sich dafür entscheiden, erschossen statt mit Macheten umgebracht zu werden«, sagt Ngombwa, während er mich durch die Kirche führt. In Massengräbern befinden sich die Überreste von etwa 6000 Menschen, und jährlich kommen weitere hinzu. Im April 2024 jährte sich der Ausbruch des Völkermords zum 30. Mal, und es begannen Gedenkfeiern in Ruanda und überall auf der Welt.
In den vergangenen Jahren haben Sozial- und Politikwissenschaftler, Psychologen, Genetiker und Neurowissenschaftler den Völkermord in Ruanda untersucht. Er gilt als einer der am besten erforschten Genozide. Es ist umstritten, ob es sich bei den derzeitigen Gewaltkonflikten in verschiedenen Teilen der Welt – darunter die Ukraine, der Sudan, die Demokratische Republik Kongo sowie Israel und Gasa – um Genozide handelt. Da sie jedoch einige dafür charakteristische Merkmale aufweisen, sind die Erkenntnisse aus Ruanda wichtig. Sie können dabei helfen, Wege zur Versöhnung aufzuzeigen.
Forschende arbeiten an einer Theorie zu den Ursachen von Genozid. Und sie bieten Orientierungshilfen für Ersthelfer und Menschen, die an der Friedenssicherung beteiligt sind oder Überlebenden zur Seite stehen. Einige Erkenntnisse haben in anderen Konflikten bereits Anwendung gefunden. Die Forschung zu Ruanda zeigt außerdem, wie sich vergleichbare Ereignisse besser untersuchen lassen.
»Genozid-Studien sind wichtig«, sagt Phil Clark von der zur University of London gehörenden School of Oriental and African Studies, kurz SOAS. Der Experte für internationale Beziehungen beschäftigt sich schon seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Ruanda. »Wenn wir verstehen, wie es zu Völkermorden kommt, und vor allem, wenn wir in verschiedenen Regionen der Welt stattfindende Fälle miteinander vergleichen, können wir im Idealfall eine Theorie aufstellen, die erklärt, wie so etwas Furchtbares möglich ist.«
Lokale Expertise ist wichtig
Die erste in Ruanda gewonnene Lehre lautet: Es ist wichtig, lokale Fachleute einzubeziehen. Mit ihrer Arbeit, ihren Sprachkenntnissen und ihrer Nähe zur traumatisierten Bevölkerung können sie entscheidend dazu beitragen, die Gründe für die Massaker zu verstehen und geeignete Instrumente für eine Versöhnung zu entwickeln. Das ist allerdings nicht immer einfach – in Ruanda hat der Genozid beinahe die gesamte akademische Gemeinschaft ausgelöscht. Doch inzwischen gibt es Initiativen, die den Stimmen Gehör verschaffen und die Arbeit lokaler Expertinnen und Experten einem breiteren Publikum zugänglich machen.
Bis 1994 hat man sich vor allem mit dem Holocaust beschäftigt, der systematischen Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs durch Nazis. »Erst in den letzten 20 Jahren hat man angefangen, andere Völkermorde zu diskutieren«, so Clark. Die Forschung zu Ruanda ging nicht sofort nach dem Genozid los. »Es hat vielleicht 10 bis 15 Jahre gedauert, bis sich erste Wissenschaftler die Frage stellten, warum sich Hunderttausende von Zivilisten an der Massengewalt beteiligten.«
»Jeder Völkermord ist anders. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten«Timothy Longman, Politikwissenschaftler von der Boston University
Den Fachleuten zufolge darf man die enge Verbindung zwischen dem Völkermord und dem Kolonialismus in Ruanda nicht vergessen. In den frühen 1900er Jahren begannen die Belgier, die ruandische Bevölkerung in Hutu, Tutsi und Twa einzuteilen. Die Unterscheidung beruhte auf pseudowissenschaftlichen Ideen wie der Phrenologie sowie willkürlichen Kriterien wie der Zahl der Rinder, die jemand besaß. In den darauf folgenden Jahrzehnten verschärften sich die Spannungen zwischen den Hutu und den Tutsi. Wiederholt kam es zu Massakern an Tutsi, die dem Genozid von 1994 den Boden bereiteten. Der juristische Begriff »Genozid« ist in der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 definiert als bestimmte Verbrechen, die darauf abzielen, eine Gruppe Menschen auszulöschen.
»Jeder Völkermord ist anders, erklärt Timothy Longman von der Boston University in Massachusetts. »Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten.« Im Jahr 1992 reiste der Politikwissenschaftler zum ersten Mal nach Ruanda, 1995 kehrte er als Forscher von Human Rights Watch dorthin zurück. Die international tätige Nichtregierungsorganisation war eine der ersten, die das Geschehene untersuchten. Longman zufolge können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler viel lernen von Ruanda, dem Holocaust und anderen Genoziden. »Das hilft, Gewalt andernorts zu verhindern«, sagt er.
Wichtige Erkenntnisse stammen von Experten für mentale Gesundheit, von denen viele unmittelbar nach der Katastrophe vor Ort waren. In den darauf folgenden drei Jahrzehnten haben sie das Trauma eines ganzen Landes und die allmähliche Heilung der Überlebenden und ihrer Kinder dokumentiert. Viele Betroffene sind anfällig für eine Retraumatisierung. Ruanda hatte nur wenige Mittel zur Verfügung, um psychiatrische Versorgungsstrukturen aufzubauen, und das Land sammelte einzigartige Erfahrungen im Umgang mit dem Erlebten.
Im Rwanda Biomedical Centre (RBC) in Kigali, der wichtigsten Gesundheitseinrichtung des Landes, erinnert sich Jean Damascène Iyamuremye an 1994. »Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen.« Damals war er 28 und Assistenzarzt. Der Genozid veranlasste ihn dazu, sich auf die menschliche Psyche zu spezialisieren. Er war eine der ersten medizinischen Fachkräfte, die Überlebende betreuten. »Wir waren wie Feuerwehrleute«, sagt Iyamuremye, der heute die psychiatrische Abteilung des RBC leitet und verantwortlich ist für die im ganzen Land vorhandenen Versorgungsangebote.
Die meisten Erstversorger kamen von außen. Nichtregierungsorganisationen boten psychotherapeutische Unterstützung und Seelsorge für Überlebende an, von denen die meisten nicht nur körperliche Gewalt erlitten hatten, sondern auch schwer traumatisiert waren. Nach dem Völkermord litten 96 Prozent der Bevölkerung an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Heute gibt es in Ruanda 16 Psychiater – für 13,5 Millionen Menschen
Es dauerte einige Zeit, bis das Land eigene Versorgungsstrukturen aufgebaut hatte. 1994 hatte Ruanda nur einen einzigen Psychiater, Naasson Munyandamutsa. Er lebte damals in der Schweiz und verlor einen Großteil seiner Familie durch die Gewalt. Munyandamutsa kehrte kurzfristig nach Ruanda zurück, um in der einzigen psychiatrischen Klinik des Landes zu arbeiten und Personal auszubilden.
Während der 2016 verstorbene Munyandamutsa Fachkräfte vor Ort schulte, gingen viele ins Ausland, um sich fortzubilden. Etwa die Hälfte von ihnen kehrte Iyamuremye zufolge jedoch nicht mehr zurück. Ruanda hat erst seit 2014 eine eigene psychiatrische Ausbildungsstätte an der Universität von Ruanda in Kigali. Heute gibt es im Land 16 Psychiater. 13 von ihnen haben ihren Abschluss vor Ort gemacht und kümmern sich seither um die rasch wachsende Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen.
Trotz evidenzbasierter Hilfen für Überlebende – etwa Beratungsgespräche, kognitive Verhaltenstherapie und Medikamente – tragen die Menschen bis heute tiefe psychische Narben. Laut der bislang umfassendsten Umfrage zur psychischen Gesundheit in Ruanda, die 2018 vom RBC durchgeführt wurde, berichteten etwa 28 Prozent der Überlebenden des Völkermords über PTBS-Symptome, verglichen mit 3,6 Prozent der Allgemeinbevölkerung. 1995, ein Jahr nach dem Genozid, waren nahezu alle Befragten betroffen.
Gedenkfeiern wecken Erinnerungen
Langfristige Unterstützung ist wichtig, da viele Überlebende retraumatisiert werden können. Nachrichten etwa über gewalttätige Konflikte in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo könnten Erinnerungen wecken, so Iyamuremye. Auch die jährlichen Gedenkfeiern von April bis Juli – in der Landessprache Kinyarwanda als »kwibuka« bezeichnet – sind herausfordernd. »Menschen brechen zusammen, sind emotional aufgewühlt, weinen.«
Dieses Jahr haben das RBC und andere Institutionen 5000 Hilfskräfte in ganz Ruanda geschult, um den Betroffenen beizustehen. Doch Iyamuremye und seine Kolleginnen und Kollegen wissen, dass die Gedenkfeiern auch therapeutisch wirken können: Sie bieten den Menschen eine Möglichkeit, über ihre seelischen Wunden zu sprechen und sich gegenseitig zu unterstützen.
»Generationsübergreifende Traumata sind Herausforderung und Realität in Ruanda«Jean Damascène Iyamuremye, Psychiater am Rwanda Biomedical Centre in Kigali
Auch Menschen, die den Völkermord nicht am eigenen Leib erfahren haben, leiden darunter. »Generationsübergreifende Traumata sind Herausforderung und Realität in Ruanda. Hier braucht es sehr mächtige Interventionen, um gegenzusteuern«, sagt Iyamuremye.
Im Militärkrankenhaus am Stadtrand von Kigali untersucht der Arzt Léon Mutesa – lange der einzige Genetiker im Land – Mütter und Säuglinge in seiner Kinderklinik. Mutesa leitet das Zentrum für Humangenetik an der Universität von Ruanda. Er war der Erste, der die Traumafolgen auf Erbgutebene erforschte. Als Student in den frühen 2000er Jahren bemerkte er, dass Kinder von Frauen, die 1994 schwanger gewesen waren, ebenfalls Anzeichen einer Traumatisierung aufwiesen. Während Gedenkveranstaltungen zeigten sie Symptome einer Depression oder PTBS, hatten Angstzustände oder halluzinierten von Dingen, die sie nie erlebt hatten.
2012 konzipierte Mutesa eine kleine Untersuchung, um herauszufinden, ob das Trauma epigenetische Spuren in Form von DNA-Methylierungen hinterlassen hatte – inspiriert von Studien mit Holocaust-Überlebenden. Zusammen mit seinem Team verglich Mutesa Blutproben von Frauen, die während des Genozids schwanger gewesen waren, und ihren Kindern mit denen einer Kontrollgruppe. Letztere hatten den Völkermord nicht erlebt. Es zeigte sich, dass im Genom von Überlebenden und ihren Nachkommen in bestimmten Bereichen ähnliche epigenetische Marker vorhanden waren.
In der Hoffnung auf eine größere Studie begann Mutesa mit Stefan Jansen zusammenzuarbeiten, einem belgischen Neurowissenschaftler, der seit 2011 an der Universität von Ruanda forscht. 2017 erhielten die beiden – gemeinsam mit US-amerikanischen Partnern – eine Förderung der National Institutes of Health und setzten ihre Forschung fort.
»Wir fanden etwa 24 differenziell methylierte Regionen bei den betroffenen Müttern, was im Vergleich zur Kontrollgruppe sehr viel ist«, sagt Clarisse Musanabaganwa, die an der Studie von Mutesa und Jansen beteiligt war und als Expertin für Epigenetik am RBC forscht. Das Team stellte fest, dass bei vielen Kindern die gleichen Regionen methyliert waren.
Die Forschungsergebnisse zeigen, wie ein Trauma an die nächste Generation übertragen werden kann. Womöglich wird das Erlebte über epigenetische Vererbung an weitere Generationen übermittelt, so die Wissenschaftler. Doch diese Idee ist umstritten. Viele sind skeptisch, ob DNA-Methylierungen tatsächlich vererbt werden. »Mir ist keine wirklich überzeugende Studie bekannt«, sagt Timothy Bestor, Molekularbiologe in Gaylordsville (Connecticut) und Professor Emeritus an der Columbia University in New York City.
Mutesa und Jansen sehen in ihrer Arbeit aber auch einen ganz praktischen Nutzen: Die Resilienz der Mütter nahm zu, wenn sie mit ihnen darüber sprachen, dass ihr Trauma sich auf ihre Kinder auswirken könnte. Waren beispielsweise die schulischen Leistungen der Kinder schlecht, erkannten die Eltern im Genozid eine mögliche Ursache. »Sie konnten nun verstehen, was mit ihren Kindern los ist«, so Mutesa. Die Forscher konnten die Kinder anschließend mit einer Psychotherapie unterstützen.
Forschung verhindert Leugnung
Biologische Studien haben Jansen zufolge eine noch viel weiter reichende Bedeutung: Beweise helfen, eine Leugnung von Genozid zu verhindern. »Wir wollen das belegen und für die Geschichtsbücher festhalten: Es ist passiert.« Jansen und sein Team haben die Methoden ausgefeilt, mit denen sich die psychische Gesundheit einer Gruppe von Menschen untersuchen lässt. Ihre Studien haben Impulse für die Erforschung anderer Konflikte gegeben, etwa im Irak.
Der Großteil der Forschung über den Völkermord in Ruanda fand in den Sozial- und Geisteswissenschaften statt, wo man sich etwa mit Versöhnung, Friedenskonsolidierung, Gerechtigkeit oder der Rolle ethnischer Zuordnungen in Post-Konflikt-Gesellschaften beschäftigte. Das benachbarte Burundi beispielsweise, das ethnische Gewalt in einem etwa zehn Jahre andauernden Bürgerkrieg ab 1993 erlebte, entschied sich für eine Anerkennung der Ethnien, während die ruandische Regierung die formellen Unterscheidungen nach dem Genozid abschaffte. Eine globale Studie zur Entwicklung von Ländern, die sich nach dem Krieg entweder für den einen oder anderen Weg entschieden hatten, ergab: Wenn die ethnischen Gruppen anerkannt wurden, schnitten die Länder in Sachen Frieden, Demokratie und Wirtschaft besser ab.
Fast alle Studien haben westliche Wissenschaftler durchgeführt. Das ändert sich jedoch allmählich. Im vergangenen Jahrzehnt, als in der akademischen Welt die Diskussion über eine »Dekolonialisierung« der Forschung entflammte, begann der Londoner Politologe Clark mit dem britischen Aegis Trust zusammenzuarbeiten, der die Gedenkstätte »Kigali Genocide Memorial« betreibt. Clark und sein Team durchforsteten zwölf relevante Zeitschriften und stellten fest, dass nur 3,3 Prozent der zwischen 1994 und 2019 verfassten Studien zum Genozid in Ruanda von Fachleuten aus dem Land stammten.
»Es gibt kulturelle Nuancen, die von den Menschen erzählt werden müssen, die die Erfahrungen gemacht haben«Sandra Shenge, Programmdirektorin beim Aegis Trust
2014 initiierte der Aegis Trust mit finanzieller Unterstützung von schwedischen und britischen Organisationen für Entwicklungszusammenarbeit das Programm Research, Policy and Higher Education (RPHE). Das Ziel: ruandische Wissenschaftler dazu einzuladen, Forschungsvorhaben einzureichen.
»Es gibt kulturelle Nuancen, die von den Menschen erzählt werden müssen, die die Erfahrungen gemacht haben«, sagt Sandra Shenge, die für das RPHE-Programm verantwortlich war und heute Programmdirektorin beim Aegis Trust an der Gedenkstätte Kigali ist. Die Zuschüsse waren bescheiden – nur jeweils 2500 Pfund (rund 2900 Euro). Aber die Resonanz war überwältigend: Nach der ersten Ausschreibung gingen mehr als 500 Anträge ein. Die Idee hinter dem Programm war, dass ruandische Forschende ihre Geschichten teilen und externe Wissenschaftler sie bei den Methoden, der Veröffentlichung und der Verbreitung von Ergebnissen unterstützen. Alle Studien sind im so genannten »Genocide Research Hub« enthalten.
»Das Programm war das Beste, was ruandischen Forschern passieren konnte«, sagt Munyurangabo Benda, Religionsphilosoph an der Queen's Foundation, einem ökumenischen College im britischen Birmingham. »Es ist der einzige Ort, an dem die ruandische Forschung begonnen hat, Einfluss auf die Politik zu nehmen.« Wie seine eigene von der RPHE geförderte Forschung:
Benda untersuchte ein Versöhnungsprogramm der Regierung mit Blick auf die von Hutu-Kindern empfundene Schuld. Inspiriert hatte ihn die Geschichte seines Neffen in Dänemark, dessen Vater ein Hutu war. Eines Tages beschäftigte sich die Schulklasse seines Neffen mit dem Völkermord in Ruanda, und die Klassenkameraden fragten ihn: »Gehörte deine Familie zu den Mördern oder zu den Überlebenden?« Die Forschung trägt Benda zufolge zur Entwicklung von Programmen bei, die die ruandische Regierung für Schüler verschiedener Altersgruppen anbietet.Aus dem RPHE-Programm lassen sich auch Lehren für eine inklusive akademische Gemeinschaft ziehen. Clark zufolge sind »das Problem die Herausgeber und Gutachter«, die Arbeiten aus Ruanda und anderen Ländern oft ablehnen, weil sie eine vorgefasste Meinung über deren Qualität haben.
Das Erbe bewahren
Eine weitere Autorin, die ihre Forschung mit Hilfe des RPHE-Programms veröffentlichen konnte, ist die Soziologin Assumpta Mugiraneza. Von ihrem Büro auf einem Hügel mit Blick über Kigali aus leitet Mugiraneza das IRIBA Zentrum für Multimediales Erbe. »Iriba« bedeutet »Quelle« in der Sprache Kinyarwanda. Im Zentrum sammelt sie audiovisuelle Dokumentationen des Völkermords und vom Leben vor 1994.
Mugiraneza begann mit ihrer Arbeit, um das zu verschwinden drohende Erbe Ruandas zu bewahren. Die Kolonialisten löschten die mündlich überlieferten Traditionen aus, als sie das Lesen und Schreiben einführten. Daher wird die Geschichte Ruandas ohne dieses reiche Erbe geschrieben. »Lasst uns zu dem zurückkehren, was wir gemeinsam haben: Ton und Bild.« Das Zentrum soll »den Prozess der Wiederaneignung von Vergangenheit unterstützen«. Um über Völkermord nachzudenken, »müssen wir es wagen, dort nach Menschlichkeit zu suchen, wo Menschlichkeit verweigert wurde«.
Die Forschung von IRIBA ist außergewöhnlich, sagt Zoe Norridge, die am King's College London afrikanische Literatur und Kultur erforscht. »Von ruandischen Wissenschaftlern kann eine solche Arbeit in einer Tiefe geleistet werden kann, die Außenstehende meiner Meinung nach nie wirklich erreichen.«
»Forschung bedeutet, mit Überlebenden zu sprechen, die unvorstellbares Grauen erlebt haben, und in der Lage zu sein, zuzuhören und mitzufühlen«David Simon, Politikwissenschaftler
Fachleute sind sich einig, dass die Untersuchung von Gräueltaten schwierig ist. »Es bedeutet, mit Überlebenden zu sprechen, die unvorstellbares Grauen erlebt haben, und in der Lage zu sein, zuzuhören und mitzufühlen«, sagt David Simon, der die Genozid-Studien an der Yale University in New Haven (Connecticut) leitet.
Indem Wissenschaftler in diesen Studien Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Genoziden aufzeigen, entwickeln sie ein umfassenderes Verständnis des Geschehenen. Dazu gehören die Ereignisse in Ruanda und der Holocaust, der Völkermord von 1915 an den Armeniern und der von 1904 an den Herero und Nama auf dem Gebiet des heutigen Namibia.
Alle haben gemeinsame Elemente. Als Erstes findet eine »Rassifizierung« von Mitgliedern der Gesellschaft statt, und es wird ein »minderwertiger« Bevölkerungsanteil definiert, der eliminiert werden soll. Hinzu kommen die Planung von systematischen Massakern und eine Ideologie, die in der ganzen Gesellschaft verbreitet wird. Die letzte Komponente ist die Beteiligung des Staats und seiner Organe an den Morden, etwa religiöse Einrichtungen und Schulen, sagt Vincent Duclert, Frankreichs führender Experte zum Völkermord von 1994. Dem Historiker zufolge haben Studien in Ruanda diese Theorie untermauert.
Eine weitere Lehre aus Ruanda: Man muss nach verschiedenen Perspektiven suchen – von Tätern und von Opfern, von Menschen innerhalb und außerhalb der betroffenen Region. »1994 und den Jahren unmittelbar danach gab es eine sehr einfache Erklärung. Demnach war der Genozid auf eine uralte Feindschaft zwischen Ethnien zurückzuführen«, sagt Elisabeth King von der New York University. Die Wissenschaft liefert eine differenziertere Sichtweise.
Scott Straus, Politikwissenschaftler an der University of California in Berkeley, beschäftigt sich ebenfalls mit den Ursachen von Genozid. Er geht außerdem der Frage nach, warum manche Konflikte nicht in einem Völkermord münden – obwohl alle Voraussetzungen erfüllt sind. Zwei Beispiele dafür sind die Kämpfe in Mali in den 1990er Jahren und die in der Elfenbeinküste Anfang 2010.
Einige Wissenschaftler meinen, Genozide zu verhindern sei eine politische Angelegenheit, für die die betroffenen Länder und internationalen Institutionen zuständig seien. Aggée Shyaka Mugabe, Direktor am Zentrum für Konfliktmanagement an der Universität von Ruanda, ist eher pessimistisch. Er beschäftigt sich mit Übergangsjustiz und Friedenskonsolidierung. »Was wir publizieren, beeinflusst zwar politische Maßnahmen«, sagt er. Doch das ließe sich nicht in etwas übersetzen, was die Allgemeinbevölkerung verstehen könne.
Manchmal werden Bedenken geäußert, es könne für ruandische Forschende schwierig sein, den Völkermord unabhängig zu untersuchen. Womöglich übe die Regierung Druck aus, um eine bestimmte Darstellung politisch sensibler Themen zu erreichen. Mugabe hält davon nichts: »Einige meiner Arbeiten enthalten kritische Ansätze«, sagt er. »Es gibt keine Behörde, die bestimmt, was ich zu schreiben habe und was nicht.«
Den Überlebenden eine Stimme geben
Gerichtliche Untersuchungen haben sich vor allem auf die Täter konzentriert, und teils wird kritisiert, die Stimmen der Überlebenden hätten zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Jean Pierre Sagahutu ist einer dieser Überlebenden. »Ich kann Ihnen nicht alles erzählen, was 1994 passiert ist, weil es zu schwer ist«, sagt er. »Ich erinnere mich an alles, als wäre es gestern gewesen. Es ist, als würde ich es jetzt vor mir sehen.«
Sagahutu überlebte, weil er sich für mehr als zwei Monate in einer Klärgrube versteckte. Sein Vater und seine Mutter wurden in dieser Zeit getötet. Sagahutu ist gelernter Buchhalter. Nach dem Genozid begann er als Taxifahrer zu arbeiten und betreute Menschen, die das Land bereisten. Häufig interviewten die Besucher die »Génocidaires«, die Mörder der Tutsi. »Manchmal schmerzten meine Ohren, aber es half mir dabei, wirklich zu verstehen, was die Menschen getan hatten. Und am Ende wurde es zur Therapie«.
2019 traf er Vincent Duclert, den der französische Präsident Emmanuel Macron damit beauftragt hatte, die Rolle Frankreichs während des Genozids zu untersuchen. Die französische Regierung hatte die Hutu-Regierung vor dem Völkermord unterstützt. 2021 legte Duclert seinen 1000 Seiten umfassenden Bericht vor. Darin kommt er zu dem Schluss, dass die französischen Behörden schon 1990 Anzeichen für einen drohenden Völkermord sahen, aber nichts unternommen hätten, um ihn zu verhindern.
Sagahutu kann Duclerts Bericht zwar Positives abgewinnen, ist aber der Meinung, Wissenschaftler hätten noch mehr Arbeit zu erledigen: »Ich wünsche mir, dass die Forschenden zu lernen versuchen, dass sie tief graben und die wahren Gründe des Genozids offenbaren«, sagt er. »Denn der Völkermord war kein Zufall, sondern etwas, das von langer Hand geplant war.«
Eines der wichtigsten Hilfsmittel für Wissenschaftler sind die aufgezeichneten Aussagen von Überlebenden, sagt Yolande Mukagasana. Sie hat den ersten ausführlichen Bericht über den Völkermord verfasst. 1997 wurde er in Französisch veröffentlicht. Die heute 69-Jährige ist Schriftstellerin und Aktivistin geblieben und entschlossen, die Erinnerung an den Völkermord an den Tutsi zu bewahren.
Mukagasana hat für ihre Arbeit mit Überlebenden anderer Genozide und Massenmorde gesprochen. Sie sieht Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen, unabhängig davon, wo auf der Welt sie sich ereignet haben. »Die Ideologie des Hasses ist die gleiche«, sagt sie, und überall würden Überlebende »das gleiche Leid« erfahren.
1994 war Mukagasana Krankenschwester und eine erfolgreiche Tutsi-Frau, die eine eigene Gesundheitsstation leitete. Als das Morden begann, trennten sich Mukagasana und ihr Mann in der Hoffnung, dass ihre drei Kinder bei ihm sicherer wären. Während der darauf folgenden drei Monate, in denen Mukagasana von Hutu beschützt wurde, begann sie, ihre Erlebnisse auf Abfall wie Zigarettenschachteln zu schreiben.
Mukagasanas Mann und die Kinder wurden getötet. Sie selbst fand Schutz im Hôtel des Mille Collines, das als »Hotel Ruanda« 2004 in die Filmgeschichte eingegangen ist. Eines der ersten Dinge, um die sie bat, waren Stift und Papier, um das Geschehene zu protokollieren.
Mugiraneza vom Zentrum IRIBA hält es für wichtig, die Ereignisse von 1994 festzuhalten. Aber ihr ist auch daran gelegen, das Leben davor zu dokumentieren. »Die Hochzeiten. Die Liebeslieder. Die Gebäude, die Sprichwörter, die Geschichten – alles, was wundervoll ist, aber trivial erscheint.« Es gehe darum, »Raum zu schaffen, um nachzudenken und dem Leben einen Sinn zu geben – und so Vernichtung und Tod besser zu verstehen«.
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