80 Jahre juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen: Warum die meisten Täter davonkamen

Boris Burghardt hat sich so intensiv wie nur wenige mit der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen beschäftigt. Dabei unterscheidet er vier Phasen. In der ersten wurden als Antwort auf die Nazigräuel die Grundlagen des Völkerstrafrechts geschaffen – dessen Zukunft dem Strafrechtler von der Uni Marburg Sorge bereitet.
Herr Burghardt, wie verlief die juristische Aufarbeitung der NS-Kriegsverbrechen?
In vier Phasen. Mit Kriegsende in Europa begannen die alliierten Siegermächte England, Frankreich, USA und Sowjetunion, die Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. In allen vier Besatzungszonen kam es zu einer kurzen, intensiven Strafverfolgung von NS-Verbrechern. Im Zentrum standen die Nürnberger Prozesse, in denen zum ersten Mal spezielle Straftatbestände angewendet wurden, um das schwere, historisch einmalige Unrecht sichtbar zu machen. Aber auch andernorts – etwa in Frankreich oder Italien – wurden Täter vor Gericht gestellt. Je nach Land geschah dies in unterschiedlichem Umfang, mit unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen.
Wann endete diese erste Phase?
In Deutschland im Jahr 1949 mit Gründung von Bundesrepublik und DDR. Damit ging die Strafverfolgungskompetenz von den Siegermächten auf die zwei Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs über.
Was geschah dann?
Die zweite Phase erstreckte sich von 1949 bis 1958. In der Bundesrepublik war sie durch ein zögerliches und immer weiter sinkendes Interesse an Strafverfolgung geprägt. Sofern sie überhaupt stattfand, dann unsystematisch und selektiv. Niemand sammelte zum Beispiel Wissensbestände über Orte und Strukturen von NS-Verbrechen oder über Personen, die an deren Planung und Organisation beteiligt waren. Die Verfahren waren politisch und gesellschaftlich nicht gewollt, ihre Zahl ging immer weiter zurück.
Das änderte sich erst in der dritten Phase …
Das ist richtig. Sie war vor allem durch organisatorisches Umdenken gekennzeichnet. Ende 1958 wurde die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet. Das führte zwar nicht automatisch zu einer Zentralisierung der Strafverfolgung, doch immerhin wurden erstmals nach 1949 wieder größere Verbrechenskomplexe aufgearbeitet. Ich denke vor allem an das Massentötungsgeschehen im besetzten Polen und auf dem Gebiet der UdSSR.
Die Strafverfolgung nahm also Fahrt auf?
Einerseits ja, es passierte wieder deutlich mehr. Andererseits haben sich Rechtsfiguren und Rechtsgrundsätze etabliert, die bestehende Schwächen nur noch weiter festklopften. Das Ganze blieb defizitär. Es fand zwar Strafverfolgung statt, aber die Ergebnisse erschienen bereits vielen Zeitgenossen als unvollkommen. Oft traf es auch nicht die Richtigen. So genannte Schreibtischtäter etwa kamen – wenn sie überhaupt belangt wurden – meistens viel zu glimpflich davon. In der Bundesrepublik konzentrierte sich die Rechtsprechung auf Exzesstäter.
Was versteht man darunter?
Personen, die nicht nur befehlsgemäß töteten, sondern dabei noch durch besondere Brutalität und Gewaltexzesse auffielen. Wer hingegen nur opportunistisch seinen Befehlen gehorcht hatte, kam günstig weg – selbst dann, wenn die Befehle Unmenschliches beinhalteten. Der Fachbegriff hierfür lautet »Gehilfenrechtsprechung«.
Worauf bezieht sich der Begriff?
Gehilfenrechtsprechung besagt: Wer lediglich Befehle befolgte und sich dabei im Rahmen seiner Befehle bewegte – wem also nicht nachgewiesen werden konnte, dass er selbst die Motive dahinter teilte, etwa das Ziel, die europäischen Juden zu vernichten –, den behandelte die Strafverfolgung lediglich wie einen Gehilfen. Und Gehilfen werden nach deutschem Recht milder bestraft. Auf Mord folgt dann eben nicht mehr lebenslange Freiheitsstrafe, sondern ein Strafmaß von nur drei bis 15 Jahren. Und die Richter wählten regelmäßig das untere Ende.
»Manche Täter bekamen nur drei bis fünf Jahre, obwohl sie an der Tötung von Tausenden oder sogar Hunderttausenden von Menschen beteiligt waren«
Also drei Jahre für Mord?
Ja. Manche Täter bekamen nur drei bis fünf Jahre, obwohl sie an der Tötung von Tausenden oder sogar Hunderttausenden von Menschen beteiligt waren. Das gestand man in dieser dritten Phase sogar Personen zu, die innerhalb der Befehlshierarchie noch selbst Befehle gegeben haben. Oder den Führern von Einsatzgruppen, die Massenmorde durchführten.
Was änderte sich in der vierten und letzten Phase?
Ich spreche von der Spätverfolgung, die mit der Wiedervereinigung einsetzte. In der Folge wurden bestimmte Formen von NS-Unrecht und die angewandten Rechtsgrundlagen nochmals neu bewertet. Dabei ging es vor allem um die Massentötungen in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern. Darüber hinaus rückte auch die Untätigkeit der Justiz in der frühen Bundesrepublik ins Blickfeld.
Würden Sie die frühe juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen als eine Geschichte des Misserfolgs bezeichnen?
Als historisch forschender Wissenschaftler bin ich sehr vorsichtig, von Misserfolgs- oder Erfolgsgeschichten zu sprechen. Dafür ist die Mikroperspektive dann meist doch zu vielfältig und kleinteilig. Und schon im Zuge der 68er-Bewegung gab es ja Kritik an der Tätigkeit oder vielmehr Untätigkeit der Justiz; das ist keine Errungenschaft unserer Zeit. Die Rechtsprechung vollzieht sich nie unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext.
»Die Rechtsprechung vollzieht sich nie unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext«
Was heißt das?
So wie es im Kontext der 1960er und 1970er Jahre gepasst hat, bestimmte Lösungen für bestimmte Rechtsfragen zu finden, passte es in die späten 2000er Jahre, wesentliche Fragen noch einmal neu zu stellen und eben auch neu zu beantworten. Dabei geht es auch um gesellschaftliche Bewusstwerdungsprozesse.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Denken Sie an die Wehrmachtsausstellung Mitte der 1990er Jahre. Darin wurden erstmals einer breiten Öffentlichkeit Erkenntnisse vor Augen geführt, die in der Geschichtswissenschaft schon lange bestanden. Die wichtigste: dass die Wehrmacht in großem Umfang in die Verbrechen der Nazis einbezogen war, vor allem an und hinter der Ostfront. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung war das bis dahin noch nicht angekommen, es gab noch kein kritisches Bewusstsein dafür, dass auch die eigenen Väter und Verwandten als Soldaten Unrecht verübt hatten.
Ich habe die Ausstellung damals in Köln gesehen. Sie wurde auch kritisch kommentiert: Normale Soldaten würden pauschal in die Nähe von überzeugten Mördern gerückt. Wie hat sich der öffentliche Diskurs seither entwickelt?
Ich würde vermuten, dass Umfragen heute ein gesellschaftliches Grundverständnis an den Tag legen würden, dass die Wehrmacht eindeutig nicht unbeteiligt an den NS-Verbrechen war. Oder dass jemand, der in Auschwitz tätig war, auch Mitschuld an den dortigen Gräueltaten trug. In den 1950er und 1960er Jahren hätte die Mehrheit der Deutschen beides nicht so gesehen. Und auch in der Justiz war das damals noch alles andere als mehrheitsfähig.
Woran machen Sie das fest?
Das hat sich ganz konkret in rechtliche Konstruktionen übersetzt: Jemand konnte Monate, vielleicht sogar Jahre in einem Vernichtungslager wie Auschwitz oder Sobibór tätig gewesen sein, ohne sich in den Augen der damaligen Justiz in strafrechtlich relevanter Weise der Tötung mitschuldig gemacht zu haben. Genau diese Auffassung hat sich in Phase vier geändert.
Können Sie den Wandel des strafrechtlichen Umgangs mit dem Massenvernichtungsgeschehen in Lagern wie Auschwitz noch genauer nachzeichnen?
Nach 1958 kamen erstmals systematische Ermittlungen der deutschen Justiz in Gang, aber es kam zu relativ wenigen Verurteilungen. Das Grundverständnis lautete: Wir müssen jemandem, der nachweislich in Auschwitz tätig war – zum Beispiel bei der Lagergestapo oder bei den Wachmannschaften –, im Einzelnen nachweisen, was er dort getan hat. War er tatsächlich an diesem und jenem Tag an Selektionen beteiligt, und in welcher Form? War er konkret an Erschießungen beteiligt? Solche Nachweise sind aber sehr schwer zu führen, es muss sich ja niemand selbst belasten. Und die ehemaligen Angehörigen der Wachmannschaften haben sich gegenseitig gedeckt. Man hat die Anforderungen an den einzelnen Tatnachweis in Phase drei so hoch gesetzt, dass Täter im Grunde nur durch die Aussagen von Opfern überführt werden konnten. Und das gestaltete sich extrem schwierig.
Weil es nur wenige Überlebende gab?
Das ist das eine. Das andere ist: Wer überlebt hatte, war im Lager mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen, als Personen zu identifizieren, die ihm in Uniform gegenüberstanden. Aus der Perspektive der Opfer betrachtet, waren es überzogene, ja unmenschliche Anforderungen, die von der Justiz gestellt wurden und die auch die Verfahren geprägt haben, etwa was die Vernehmung von Opferzeugen in Hauptverhandlungen betraf.
Und selbst wenn jemand wiedererkannt wurde, konnte er sich noch darauf berufen, lediglich seine Befehle befolgt zu haben?
So ist es. Man ging davon aus: Wer sich nur entsprechend seinen Befehlen verhielt, dem kann nicht unterstellt werden, aus niedrigen Beweggründen gehandelt zu haben. Opportunismus schützte die Täter: Wer sein berufliches Fortkommen nicht gefährden wollte oder sich in ein KZ überstellen ließ, um der Front zu entgehen, dem wurden keine niedrigen Beweggründe zur Last gelegt. Zudem wurde manchen Personen strafbefreiend zugestanden, sie hätten die Befehle aus Angst um ihr Leben befolgt. Dabei ist historisch seit vielen Jahrzehnten klar, dass es eine solche Bestrafung nicht gegeben hat, wenn man sich geweigert hat, am Massenmorden mitzuwirken. Schließlich hat die Justiz bei manchen Tätigkeiten schlicht gesagt: Das ist zu wenig, das gehörte zwar irgendwie zum Morden dazu, aber ist zu »geringfügig«. Das betraf zum Beispiel die Leute, die Alte und Kranke mit LKWs zu den Gaskammern transportiert haben. Die Anforderungen an einen Schuldnachweis waren extrem hoch.
War das in Ihren Augen Unrecht?
Versetzen Sie sich in die Situation: An einem Ort wie Auschwitz war jedem Beteiligten klar, was geschah: die massenhafte Tötung von Menschen. Das wussten alle. Und trotzdem konnte jemand zweieinhalb Jahre dort gearbeitet haben – wenn man ihm später nicht konkret nachweisen konnte, dass er an einem bestimmten Tag dieses oder jenes getan hatte, dann mündete sein Prozess in einen Freispruch.
»An einem Ort wie Auschwitz war jedem Beteiligten klar, was geschah: die massenhafte Tötung von Menschen«
Aber das änderte sich in der letzten Phase?
Ja. Für eine Verurteilung reicht nun grundsätzlich aus, dass eine Person in einem Lager wie Auschwitz oder Sobibór eine bestimmte Funktion ausgeübt hat. Hier schließt sich der Kreis zur ersten Phase.
Inwiefern?
Bereits die Alliierten hatten die Vernichtungslager als ein insgesamt verbrecherisches Unternehmen zum Töten von Menschen aufgefasst. Für sie war jeder, der in irgendeiner Weise dabei war, Teil des Tötungsbetriebs und damit strafbar – wenn auch in Abstufungen. In den so genannten Lagerprozessen, die die Alliierten durchführten, gab es deshalb neben Todesurteilen auch geringere Freiheitsstrafen bis hin zu Freisprüchen. Es wurde also nicht alles über einen Kamm geschoren. Aber der Grundsatz war genau der, zu dem die deutsche Justiz erst nach 2010 gefunden hat: Keiner hätte da mitmachen dürfen. Wenn man da mitgemacht hat, war das strafrechtlich relevant. Man war nicht nur moralisch schuldig.
Hätte man diese Rechtspraxis nach 1949 angewandt – wäre das von der Justiz überhaupt zu bewältigen gewesen?
Die ehrliche Antwort lautet wohl: nein. Es hätte zu große Teile der Bevölkerung getroffen.
»Die meisten starben, ohne dass man ihnen den Prozess machte«
Wie viele Deutsche waren unmittelbar am Völkermord beteiligt?
Historiker gehen von rund einer Viertelmillion aus. Das Lagerpersonal von Auschwitz zwischen 1940 und 1945 umfasste dabei etwa 8000 Personen. Von ihnen wurden im Laufe der Jahrzehnte nur wenige hundert verurteilt; die meisten starben, ohne dass man ihnen den Prozess machte.
Fällt es leichter, Personen vor Gericht zu bringen, die als über 90-Jährige inzwischen kaum noch Berührungspunkte mit der eigenen Lebenswirklichkeit haben? Die meisten Großeltern oder Urgroßeltern, die dieser Generationen entstammen, waren ja in den 2010er Jahren bereits tot …
Es ist heute leichter, ein eindeutiges rechtliches und natürlich auch moralisches Urteil über diese Personen zu fällen und zu sagen, dass all dies strafrechtlich relevante Beteiligung am Massenmord war. Diese Eindeutigkeit kann man wahrscheinlich nur gewinnen, wenn das Geschehene schon sehr weit von der eigenen Lebensrealität entfernt ist. Solange dieser Personenkreis noch aus der eigenen Elterngeneration stammte, ist uns das nicht gelungen.
Was die beiden mittleren Phasen zwischen 1949 und Wiedervereinigung angeht, haben wir bis hierher stark auf die Bundesrepublik geschaut. Wie ist man in der DDR mit den NS-Verbrechen umgegangen?
Nach 1949 war die Strafverfolgung hier viel intensiver als im Westen. Allerdings waren die Verfahren rechtsstaatlich betrachtet hochproblematisch. Es handelte sich um summarische Verfahren, in denen der einzelne Angeklagte kaum Rechte hatte und die Strafen meist sehr hoch ausfielen. Diese Phase endete in der DDR etwas früher als in der Bundesrepublik, ab dann lautete die offizielle Position: Anders als der Systemgegner haben wir in der DDR alles getan, was zu tun war.
Und in Phase drei?
Als die bundesdeutsche Justiz nach 1958 wieder aktiver in der Strafverfolgung wurde, zog man sich in der DDR auf den Standpunkt zurück, man habe ja schon alles erledigt. Bis zur Wiedervereinigung gab es in der DDR kaum noch mehr als zwei Dutzend neue Prozesse. Die meisten davon waren von der Stasi durchchoreografierte Schauprozesse. Man versuchte etwa, die Verstrickung von Industrie und Kapital in die NS-Tötungsmaschinerie ins Licht zu setzen.
Kommen wir noch einmal auf die Frühphase und die Nürnberger Prozesse zurück. Wie schätzen Sie deren Bedeutung heute ein?
Im Kern ging es um den Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die politische, militärische und industrielle Führungsspitze des NS-Staates – soweit sie noch am Leben war. Auf der Richterbank saßen Vertreter der vier Alliierten. Diese hatten sich schon während des Krieges auf eine gemeinsame Rechtsgrundlage für das Verfahren verständigt. Die Verbrechenstatbestände, die den ranghohen Angeklagten um Hermann Göring zur Last gelegt wurden, waren zu diesem Zeitpunkt aber noch kaum ausbuchstabiert und allenfalls in Ansätzen im Völkerrecht angelegt. Das macht die Nürnberger Prozesse so bedeutsam für die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts.
Um welche neuen Straftatbestände handelte es sich konkret?
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden – also Planung und Durchführung eines Angriffskrieges unter Verletzung internationaler Verträge – sowie Kriegsverbrechen, insbesondere solche gegen Zivilisten und Gefangene. Und dann war da noch dieser neue Rechtsbegriff, der in Nürnberg zwar noch kein eigener Straftatbestand war, der aber in der Folge sehr schnell sehr wichtig wurde: Völkermord.
Welche Verfahren gehören außer dem Hauptprozess noch zu den Nürnberger Prozessen?
Militärgerichte der Amerikaner, zu deren Besatzungszone Nürnberg ja gehörte, verurteilten in zwölf Nachfolgeprozessen bis 1949 noch die weiteren Funktionseliten aus Ministerien, der Ärzteschaft, aus Justiz und Militär. Insgesamt mussten sich noch einmal knapp 200 Personen verantworten. Alle diese Strafprozesse zusammengenommen bilden den Kern der Rechtsmaterie, die wir heute als Völkerstrafrecht bezeichnen. Darauf stützt sich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der 2002 seine Arbeit aufnahm. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse sind ebenso wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, ein ungemein wichtiges Erbe für unser regelbasiertes Völkerrechtssystem – das aktuell unterzugehen droht.
Was meinen Sie damit?
Das klassische Völkerrecht koordinierte das Handeln zwischen Staaten. Seit 1945 aber stehen Staaten im Dienst von Menschen und Menschengruppen. Und wenn sie sich als unfähig erweisen, die Rechte von Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen zu schützen, oder wenn sie diese Rechte vielleicht sogar aktiv gefährden, verletzen und zerstören, dann gibt es eine internationale Gemeinschaft, die sich darum kümmern kann. Das setzt freilich Regeln voraus, die Staaten eben auch binden. Und es setzt internationale Institutionen voraus, die in der Lage sind, die Einhaltung dieser Regeln durchzusetzen: gegen einzelne Personen, aber ebenso gegen die Staaten selbst.
Also internationale Gerichtshöfe oder Strafgerichte?
Ja. Auch das ist ein Grundgedanke, der in Nürnberg bereits klar formuliert wurde. Der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson sagte damals, dass hier zwar Vertreter des nationalsozialistischen Deutschlands vor Gericht stünden, aber die Regeln, auf die man die Bewertung stütze, seien universell. Also kein Sonderrecht gegen Deutsche, auch wenn mancher hier zu Lande von Siegerjustiz sprach.
Es gab ja auch Kriegsverbrechen auf alliierter Seite – die aber nicht strafrechtlich aufgearbeitet wurden.
Das stimmt. Trotzdem hatten die Regeln universellen Anspruch. Und diese Regeln drohen heute durch machtpolitische Interessen ins Hintertreffen zu geraten. Natürlich hatten Hegemonialmächte wie die USA oder die UdSSR und später Russland diesen universellen Anspruch des Völkerrechts nie so ganz für sich akzeptiert. Die Regeln vielleicht schon, aber die Regeldurchsetzung durch Institutionen nicht. Jetzt erleben wir allerdings, wie dieser universelle Anspruch zunehmend überhaupt in Frage gestellt wird. Dafür brauchen wir nicht in die USA zu blicken.
Woran denken Sie?
Ich finde es zum Beispiel bedenklich, wenn der neue Bundeskanzler in eklatantem Widerspruch zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik sagt, man könne den israelischen Ministerpräsidenten nach Deutschland einladen – obwohl ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanjahu vorliegt und die Bundesrepublik als Mitgliedstaat dazu verpflichtet ist, diesen auch zu vollstrecken. Im Grunde bedeutet die Aussage: In unangenehmen Fällen sind wir nicht verpflichtet. Solche Besorgnis erregenden Aussagen häufen sich derzeit – und das leider auch von Akteuren, die bislang sehr stark auf ein regelbasiertes Völkerrecht gesetzt haben. Da spitzt sich etwas zu.
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