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Ökologie: Völkerwanderung im Namen des Naturschutzes

Sie sollen Tiere und Pflanzen für die Nachwelt erhalten - und das möglichst im Einklang mit den Interessen der Menschen vor Ort. Oft wurden Naturschutzgebiete aber gegen den Willen eben dieser Menschen eingerichtet, klagen Kritiker. Und doch zieht es auch viele genau an die Grenzen dieser Parks - in der Hoffnung auf etwas Wohlstand.
Elefanten und Hirten in Kenia
Naturschutzgebiete bedecken heute etwa ein Achtel der Landfläche unseres Planeten: rund 19 Millionen Quadratkilometer. Vor allem in den so genannten Entwicklungsländern schossen Nationalparks und Tierreservate in den vergangenen drei Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden – ihre Zahl verfünffachte sich dort. Oft war dies jedoch mit der Vertreibung der lokalen Bevölkerungen und Ureinwohnern aus ihren angestammten Gebieten verbunden, klagen Kritiker wie Survival International – eine Organisation, die sich dem Schutz indigener Völker widmet. Auf der anderen Seite ziehen die Reservate aber offensichtlich auch Einheimische an, wie nun eine Studie von Justin Brashares von der Berkeley University und seinen Kollegen zeigt.

Park-Mensch-Konflikt in Uganda | Die Grenze des geschützten Bwindi Impenetrable Forest in Uganda ist klar erkennbar – außerhalb des Parks steht kaum mehr ein Baum. Trotz Landmangels können seine Anwohner dennoch vom Ökosystem mit seinen Gorillas und Schimpansen profitieren: Es lockt Touristen an und bewahrt die Wasserversorgung.
Die Forscher verglichen die Bevölkerungsentwicklung im Umfeld von 306 ländlichen Naturschutzgebieten in 45 Ländern Afrikas und Lateinamerikas mit jener des gesamten Staates und werteten dazu vor allem Bevölkerungsstatistiken der Vereinten Nationen von 1960 bis 2000 aus. "Viele sehen die Explosion der Schutzgebiet als einen negativen Einfluss auf das Leben der einheimischen, lokalen Gemeinschaften an – durch den Verlust an Landrechten, an Zugang zu den natürlichen Ressourcen und der Vertreibung von den traditionellen Gebieten. Wenn diese Schutzgebiete schädlich für den Lebensunterhalt der Einheimischen sind, sollten wir keine oder negative Wachstumsraten der Bevölkerung an ihren Grenzen sehen", schreiben die Autoren. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Entlang der Schutzgebietsgrenzen und in den Pufferzonen wächst die Bevölkerung im Schnitt doppelt so schnell wie in benachbarten ländlichen Gebieten.

Neue Infrastruktur lockt an

Die Faktoren für diese "Völkerwanderung" hin zu den Natur- und Nationalparks unterschieden sich von Park zu Park, so Brashares. Doch oft spielten die Millionen von Hilfsgeldern der Naturschutzorganisationen und Regierungen eine wichtige Rolle. Die lokale Bevölkerung profitiere von neu geschaffenen Infrastrukturen wie Straßen, Schulen und Krankenhäusern im Rahmen der Parkinvestitionen. Wenig verwunderlich daher, dass das Bevölkerungswachstum nahe der Schutzgebiete, die die meisten Arbeitsplätze anboten, am höchsten war, folgern die Wissenschaftler.

Bevölkerungswachstum | Wachstum der Bevölkerung in ländlichen Regionen in Afrika und Lateinamerika – in vielen Ländern war es im Umfeld von Schutzgebieten höher als im Schnitt.
"Diese Studie hebt hervor, dass Naturschutzaktivitäten einen positiven Einfluss auf die lokalen Gemeinschaften haben können und haben", resümiert Co-Autor George Wittemyer denn auch. Die Ergebnisse widersprächen der Auffassung, dass die Errichtung eines Naturparks mit hohen Kosten und wenigen Vorteilen für die verdrängte Bevölkerungen verbunden ist.

Doch diese Interpretation der beiden Berkeley-Forscher von abstrakten, aus der Ferne zusammengefassten Zahlen steht womöglich auf tönernen Füßen. Für eine wissenschaftliche Bewertung des – nicht zu bestreitenden – Anstiegs des Bevölkerungswachstums in den Randgebieten und Pufferzonen der Schutzgebiete bedürfe es vor Ort fundierter soziologischer, ökologischer und ethnologischer Vergleichsstudien über die Situation vor der Gründung der Naturschutzgebiete und danach. Nur so lässt sich feststellen, welche Bevölkerungsgruppe tatsächlich wachsen oder abwandern und warum. Das gleiche gilt für die veränderten Lebensumstände und Lebensweisen der Bevölkerung in den Schutzgebietsregionen, bevor Reservate eingerichtet wurden vor der Gründung der Reservate und hinterher.

Die Geschäftemacher kommen

Naturpark Ilha Grande, Rio de Janeiro | In Brasilien wurden viele Indianer von ihrem angestammten Land vertrieben – teils um dort Zuckerrohr anzubauen, teils aber auch, um Naturschutzgebiete einzurichten.
2001 zum Beispiel berichtete die Sozialwissenschaftlerin Ana Isla von der Brock University im kanadischen St. Catharines über den Vulkannationalpark von Arenal in Costa Rica: Der Nationalpark-Ökotourismus lockt demnach Geschäftsleute aus den Städten an, um in Urlaubsressorts zu investieren. Die um ihre natürlichen Ressourcen gebrachte, ursprüngliche Bevölkerung wandere dagegen in die Slums der Städte ab oder werde vor Ort an den Rand gedrängt, so Isla. Die Boden- und Nahrungsmittelpreise rund um den Nationalpark stiegen, und Familien ohne Tourismus-Job könnten sich die Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten.

Ähnliches trifft auch auf Brasilien zu – einem Land mit 596 Naturschutzgebieten, die im Jahr 2007 eine Fläche von insgesamt 99,7 Millionen Hektar und damit ein Zehntel des Landes bedeckten. Die meisten dieser Naturreservate stehen in jahrelangem Konflikt mit lokalen Bevölkerungsgruppen wie den so genannten Caboclos und Ribeirinhos, die als Kleinbauern, Sammler von Kautschuk oder Nüssen und Fischer meist schonend die Natur nutzen, oder den indigene Völker. Sie alle zählen zu den Verlierern des in Brasilien unter der Militärregierung 1970 begonnenen "Naturparkbooms", und dies gilt nicht nur für Amazonien.

Vertriebene Indianer

Gerade in der Region des Atlantischen Regenwalds in Süd- und Südostbrasilien verloren durch die Gründung von Nationalparks und Naturreservaten viele Indianer der Guarani-Mbyá-Gemeinschaften den Zugang zu ihren natürlichen Ressourcen. Den rund 66 Naturreservaten mit einer Fläche von insgesamt 2,5 Millionen Hektar in dieser Region stehen heute lediglich 16 anerkannte Guarani-Indianerreservate mit nur rund 20 000 Hektar gegenüber – weniger als ein Hektar pro Guarani-Indianer.

Nationalpark Aparados da Serra | Der Nationalpark Aparados da Serra zählt zu den schönsten Gebieten Brasiliens und lockt zahlreiche Touristen wie Geschäftsleute an.
Justin Brashares und George Wittemyer kritisieren zwar in ihrer Studie die unsoziale und ungerechte Gründung von Jagdschutzgebieten und Tierreservaten während der Kolonialzeit, doch schreiben sie, dass die lokale Bevölkerung heute die Naturparks als Chance ansähe. Dieser Sichtweise stehen jedoch zahlreiche Erfahrungen und Aussagen von Einheimischen aus der Zeit danach gegenüber. Selbst heute noch werden immer wieder Mensch und Natur gegeneinander ausgespielt: Erst im vergangenen Februar berichtete Chris Lang, Tropenwaldexperte und Mitarbeiter des World Rainforest Movement, dass die Naturschutzbehörde Kenias mit militärischer Hilfe über 4000 Einheimische der Benet- und Ndorobo-Gemeinschaften aus dem Mount Elgon-Nationalpark vertrieben hat. Nun tobt dort ein versteckter Krieg zwischen den Parkflüchtlingen und rund um den Park Angesiedelten.

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  • Quellen
Brashares, J. et al.: Accelerated Human Population Growth at Protected Area Edges. In: Science 312, S. 123–126, 2008.

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