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Vogelgrippe: Die verheerende Rolle der Massentierhaltung

Die Vogelgrippe wütet ungebremst unter Zucht- und Wildvögeln. Besonders stark betroffen sind Kraniche. Sie sterben zu Tausenden an einem Virus, das in der Massentierhaltung entstanden und durch diese am Leben erhalten wird. 
Eine Person in Schutzkleidung und Atemmaske hebt einen toten Vogel von einem Haufen toter Vögel. Die Szene spielt im Freien, mit Bäumen im Hintergrund. Die Person führt eine Handlung im Zusammenhang mit der Entsorgung oder Untersuchung der Vögel durch.
Wie bedrohlich die laufende Infektionswelle für die Kraniche Europas wird, können Experten noch nicht absehen. Bislang ist nach vorsichtigen Schätzungen europaweit eine hohe vierstellige Zahl betroffen.

Rot, wohin man sieht: Ein Blick auf die Landkarte des europäischen Vogelgrippe-Warnsystems zeigt den Ernst der Lage. Zwischen Ende August und Mitte Oktober registrierten Behörden Ausbrüche in zehn EU-Ländern. Noch nie in den vergangenen zehn Jahren hat es so früh in der Saison in so vielen Ländern massenhaft Infektionen mit der tödlichen Vogelgrippe-Variante H5N1 gegeben. Der Rekord markiert wohl nur den Anfang einer ungewöhnlich starken Vogelgrippe-Welle in ganz Europa. Denn seit der Monatsmitte hat die Ausbreitung des Virus weiter an Fahrt gewonnen. Mittlerweile sind fast 20 Länder betroffen – Tendenz steigend. Allein in Deutschland wurden inzwischen deutlich mehr als eine halbe Million Hühner, Enten, Gänse und Puten aus der Geflügelhaltung getötet, um die Tierseuche einzudämmen.

Wie viele Opfer unter den Wildvögeln zu beklagen sind, kann niemand zählen. Betroffen von der neuen Welle sind vor allem Kraniche. Die Zugvögel halten sich in diesen Wochen zu Hunderttausenden bei uns auf, um auf ihrem Weg aus den skandinavischen und osteuropäischen Brutgebieten in das spanische Winterquartier eine Pause einzulegen. Doch statt Kraft zu tanken, kämpfen sie an Teichen, Seen und in Feuchtgebieten um ihr Leben.

Helfern bietet sich vielerorts ein erschütternder Anblick. Lethargische Vögel stehen neben Artgenossen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Im flachen Wasser liegend, verdrehen andere Kraniche ihre langen Hälse im Todeskampf zu bizarren Formen: Die in vielen Kulturen der Erde als Vögel des Glücks verehrten Tiere teilen in diesen Wochen überall in Deutschland das Schicksal von Millionen anderer Wildvögel, die schon in den vergangenen Jahren Opfer der besonders aggressiven Variante der Aviären Influenza geworden sind.

Das Virus reist per Geflügeltransport oder Zugvogel

Erstmals tauchte der Erreger der Linie H5N1 vor fast 30 Jahren in einer Geflügelzucht in Südchina auf, in der viele Enten in halbwilder Freilandhaltung auf engem Raum gehalten wurden. Von dort aus trat der Erreger seinen Siegeszug um die Erde an. Große Ausbrüche der Krankheit mit Massensterben unter Wildvogelarten und in Geflügelzuchten pflastern seitdem seinen Weg. Hunderte Millionen Vögel und zehntausende Säugetiere sind dem Virus schon zum Opfer gefallen.

Ein Weg der Verbreitung ist der Vogelzug. Doch die Ursache liegt woanders. Experten sehen im weltumspannenden Netz aus legalem Geflügelhandel und illegalem Wildtierschmuggel noch wichtigere Ausbreitungspfade der Seuche. »Milliarden von Vögeln werden so jedes Jahr rund um den Globus bewegt – eine menschengemachte Vogelwanderung«, sagt die renommierte britische Vogelgrippe-Forscherin Diana Bell. Illegale Geflügelimporte wurden in vielen Ländern, auch in Europa, von Behörden als Ursache von Vogelgrippeausbrüchen identifiziert. »Die Epidemie wird ständig durch Ausbrüche auf Farmen und beim Transport angeheizt«, ist sich Bell sicher.

»Das Virus scheint in der Lage zu sein, so gut wie jede Vogelpopulation zu infizieren, auf die es trifft«Ian Brown, Virologe

Auch Deutschland erreichte das Virus wohl über verschiedene Wege. Mit dem Wattenmeer und der Ostseeküste liegen hier zwei zentrale Drehscheiben des Vogelzugs. Tötete die Infektion in den Anfangsjahren fast ausschließlich Wasservögel wie Schwäne, Gänse und Enten, weitet sich das Spektrum der befallenen Tiere seit einigen Jahren durch Mutationen beständig aus. In Deutschland starben inzwischen auch viele Wanderfalken, Seeadler, Bussarde und zuletzt Lachmöwen und seltene Seeschwalben in großer Zahl. »Das Virus scheint in der Lage zu sein, so gut wie jede Vogelpopulation zu infizieren, auf die es trifft«, glaubt auch Ian Brown, Chefwissenschaftler der britischen Tiergesundheitsbehörde.

Die Vogelgrippe kennt keine Jahreszeit mehr

Auch mit einer weiteren Anpassung überraschte der Erreger die Wissenschaftler: Wütete die Vogelgrippe in den ersten Jahren – ganz wie die Grippe bei Menschen – ausschließlich in den kalten Wintermonaten und verschwand zwischen einzelnen Massenausbrüchen jahrelang von der Bildfläche, hat sich der Erreger mittlerweile dauerhaft festgesetzt und schlägt das ganze Jahr über zu. Die Folge ist, dass die Vogelgrippe jetzt zusätzlich in der besonders sensiblen Brutzeit ausbricht und dabei auch den Nachwuchs tötet. Wie katastrophal solche Ausbrüche sind, zeigte sich vor zwei Jahren in Deutschland und den Niederlanden: Tausende Paare der vom Aussterben bedrohten Brandseeschwalben wurden Opfer der Pandemie im Tierreich.

Täter-Opfer-Umkehr zulasten der Wildvögel

Die Tatsache, dass jetzt vor allem Kraniche sterben, führen Experten darauf zurück, dass die in vorherigen Wellen besonders stark betroffenen Wasservögel wie Enten und Gänse eine gewisse Herdenimmunität aufgebaut haben. Auch unter ihnen zirkulieren die Viren und es sterben noch Tiere. Aber durch vergangene Ausbrüche haben viele auch Antikörper gegen das Virus. »Immer, wenn eine Infektion überstanden wird, bleibt eine gewisse Immunität zurück«, sagt der Tiermediziner Oliver Krone vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin. Es sei gut möglich, dass Wasservögel resistenter würden.

»Wenn man so will, wird diese hochpathogene Variante vom Menschen in der Geflügelzucht künstlich am Leben gehalten«Oliver Krone, Tierarzt

Kraniche sind also nicht die Überbringer der tödlichen Seuche, sondern ihre ersten Opfer, wenn sie bei uns ankommen. Die Vögel infizieren sich zunächst selbst an den gemischten Schlafplätzen von Wasservögeln oder auch an Hausgeflügel. Von dort aus nehmen sie es aber mit auf den weiteren Zug und stecken Artgenossen an.

Die wahre Schuldige ist die Massentierhaltung

Hochpathogene Varianten der Vogelgrippe sind für die betroffenen Vögel unter natürlichen Bedingungen tödlich. Die Vögel sind zu geschwächt, um nach Nahrung zu suchen, und sterben. Mit dem Tod des Wirts ist auch das Virus am Ende. »In der Geflügelhaltung müssen die betroffenen Tiere draußen nicht überleben, sondern die werden gefüttert«, sagt Krone. Auch kranke Tiere würden am Leben erhalten – dadurch habe das Virus die Möglichkeit, auch in schwachen Wirten zu überleben und dann andere Tiere zu infizieren. »Wenn man so will, wird diese hochpathogene Variante vom Menschen in der Geflügelzucht künstlich am Leben gehalten.«

Dass es derzeit an vielen Orten zu parallelen Ausbrüchen unter Geflügel und Wildvögeln kommt, führen Experten wie Krone auf mangelnde Hygiene bei der Geflügelhaltung zurück. Dadurch werde das Virus von Menschen in die Bestände hineingetragen – und von dort auch wieder hinaus. »Ein Kranich fliegt wohl nicht von selbst in einen geschlossenen Hühnerstall«, sagt Krone. »Aber ein Kranich kann sich infizieren, wenn Kot oder totes Geflügel in die Umwelt gerät.«

»Es ist einfach bequemer, Wildvögel verantwortlich zu machen, als sich mit einer milliardenschweren Industrie wie der Geflügelwirtschaft anzulegen«Diana Bell, Zoologin

Kraniche brauchen Jahre, um sich zu erholen

Dass Zugvögel auch in seriösen Medien stets als Erstes bei der Frage nach den Urhebern der Infektion genannt werden, führt Bell auf eine einfache Tatsache zurück. »Es ist einfach bequemer, Wildvögel verantwortlich zu machen, als sich mit einer milliardenschweren Industrie wie der Geflügelwirtschaft anzulegen.«

Wie bedrohlich die laufende Infektionswelle für das Überleben der Kraniche Europas wird, können Experten noch nicht absehen. Bislang ist nach vorsichtigen Schätzungen europaweit eine hohe vierstellige Zahl betroffen. »Es wird wahrscheinlich viele Jahre dauern, bis sich die Kraniche von diesem katastrophalen Ereignis wieder erholen«, sagt der Leiter des Kranichschutzes in Deutschland, Günter Nowald. Hoffnung setzt der Vogelschützer in das europäische Renaturierungsgesetz. Es verpflichtet alle Staaten, in den nächsten Jahren Lebensräume auf großer Fläche ökologisch aufzuwerten. »Es waren die vielen Renaturierungsprojekte an Seen und Mooren, die den Kranichen vor Jahrzehnten zu einem Comeback verholfen haben«, sagt Nowald. »Jetzt ist mehr Natur wieder der Schlüssel, um die Vögel zu retten.«

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