Inseln im Sangha-Fluss: Expedition in ein flüchtiges Paradies

Der Sangha River fließt so träge wie trübe durch die halbe Republik Kongo, quert ein gewaltiges Sumpfgebiet, um dann in den riesigen Kongo selbst zu münden. An seinen beiden Ufern erstreckt sich dichter, grüner Regenwald. Die kahlen Sandbänke und -inseln dagegen, die der Strom während der Trockenzeit aufblitzen lässt, wirken wie Wüsten. Doch wenn der Ornithologe Jens Hering vom Boot aus durch den Feldstecher schaut, sieht er statt Ödnis ein wimmelndes Vogelleben.
Es ist Januar 2025, und Hering, der im Hauptberuf im Naturschutz in Sachsen tätig ist, nutzt seinen Jahresurlaub für eine private Expedition in eine Gegend, deren Flora und Fauna mit wissenschaftlichen Methoden noch kaum untersucht wurde. Daran etwas zu ändern, ist Herings Ziel. Als Beirat der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft und Vorstand des Vereins Sächsischer Ornithologen hat es ihm insbesondere die Vogelwelt am Sangha River angetan.
Es ist nicht seine erste private Forschungsreise. Seit Jahrzehnten unternehmen Jens Hering und seine Frau Heidi solche Fahrten, oft in Begleitung von anderen Fachleuten. Als »Birder«, als Vogelbeobachter auf Fotojagd, will man sich nicht verstanden wissen, auch wenn es natürlich wichtig sei, fehlende und besonders seltene Arten mit der Kamera zu dokumentieren. Hering und seinen Mitstreitern geht es vor allem um Wissenschaft, im Mittelpunkt stehen Brut- und Verhaltensbiologie. Das Vermessen von Bruthöhlen, das Aufnehmen von Vogelstimmen, die Analyse von Vogelkot und dergleichen mehr bestimmt auch diesmal die Reise der Gruppe. Wie schon bei früheren Gelegenheiten ist auch der Ornithologe Martin Winter Teil des Teams. Der Rostocker ist im Hauptberuf in der Ökosystemforschung beschäftigt und ebenfalls auf Urlaub. Eine Crew aus Zentralafrika begleitet die Deutschen.
»Das Kongobecken und der afrikanische Regenwald haben mich schon als Kind fasziniert«, erzählt Hering. Aus dem Wunsch, den Regenwald zu sehen und zu erleben, seien schließlich wissenschaftlich handfestere Ziele geworden. Als Ornithologe interessiere er sich für alles, was Federn hat, besonders aber habe es ihm die Singvogelgattung der Rohrsänger angetan. Diesmal aber ging es um ganz andere Arten.
Abseits der Nationalparks gibt es kaum Forschung
Die Expedition startete in den Weihnachtstagen 2024. Erste Station am Sangha-Fluss war die Sangha Lodge. Sie befindet sich wenige Kilometer nördlich der Ortschaft Bayanga ganz im Südwesten der Zentralafrikanischen Republik, die sich dort wie ein schmales Dreieck Richtung Süden zwischen die Nachbarländer Kamerun und Republik Kongo schiebt. Dieses Dreiländereck liegt weit abseits größerer Orte und Verkehrswege, darum hat sich dort der Regenwald des Kongobeckens vergleichsweise gut erhalten. Seit den 1990er Jahren ist die Naturschutzorganisation WWF in der Gegend aktiv, sie unterstützt zum Beispiel das Management großer Schutzgebiete und Nationalparks. Der WWF war auch eine der Triebfedern hinter dem im Jahr 2000 gegründeten Trinationalen Komplex aus Schutzgebieten am Sangha-Fluss, das seit 2012 UNESCO-Weltnaturerbeist.
Die Gegend ist einer der Hotspots für Touristen, die den vom Aussterben bedrohten Westlichen Flachlandgorillas und Waldelefanten begegnen wollen. »Über die Natur dort ist aber viel weniger bekannt als zum Beispiel über den Amazonasregenwald in Südamerika«, sagt die Zentralafrikaspezialistin Julia Barske, die Programmleiterin Kongobecken des deutschen WWF. Und das, obwohl dort seit den 1990er Jahren Teams aus aller Welt forschen. Bei seiner Literaturrecherche vor Abreise fand Hering kaum eine Studie zur Vogelwelt.
Der Eindruck eines vergessenen Paradieses bestätigt sich, als Jens Hering und sein Team in der Sangha Lodge ankommen. Gemächlich fließt der große Fluss an der Lodge vorbei, nur manchmal tauchen Einbäume mit Einheimischen auf, meist handelt es sich um Fischer. Vereinzelt versuchen auch Flößer, gefällte Urwaldriesen aus dem Regenwald auf den Wellen des Sangha zum Kongo und von dort weiter zu Abnehmern für Tropenholz zu bringen.
Wie artenreich der Fluss ist, hat sich nicht einmal bis zum Besitzer der Sangha Lodge herumgesprochen, obwohl der Südafrikaner durchaus als erfahrener Vogelkundler gilt: »Was wollt ihr denn dort?«, fragte er die Angereisten. »Über eine Woche lang auf dem Fluss. Das ist doch langweilig.«
Das Boot wird zum mobilen Hauptquartier
Von wegen, ahnte Hering schon in seiner sächsischen Heimat. Doch er stand vor einem Problem: Die beiden Quellflüsse des Sangha kommen aus dem Savannengürtel Afrikas. Dort gibt es ausgeprägte Trocken- und Regenzeiten, in den Dürremonaten von Weihnachten bis April fehlt dem Fluss daher der Nachschub, und der Wasserspiegel sinkt. Boote mit normalem Tiefgang setzen in dieser Zeit leicht auf Untiefen auf – und bringen die Reise zu einem vorzeitigen Ende. Um das zu vermeiden, organisierte er über ein Reisebüro in Kamerun für die Expedition den Bau eines Bootes mit flachem Boden.
»Ein einfacher Motor trieb das Boot an – und hinten schöpfte immer einer der Besatzung Wasser«, berichtet Hering. Nur zwei Personen konnten auf einfachen Plastikstühlen nebeneinandersitzen, zwischen ihnen blieb gerade genug Platz für einen schmalen Durchgang. Eine blaue Plastikplane schützte vor der brennenden Tropensonne und den prasselnden Regenschauern gleichermaßen.
In diesem schwimmenden Wohnmobil legte die Besatzung schließlich mehr als 500 Flusskilometer zurück. Von Ouésso in der Republik Kongo, dem früheren Brazzaville, bis hinunter nach Mossaka und zur Mündung in den großen Strom Kongo. Als Schlafgelegenheit gab es meist nur die Wahl zwischen einer »Schlammschlacht« am Ufer, wie es Hering nennt, oder dem Platz unter einem Moskitonetz an Bord. »Jeden Abend mussten wir ein Dorf ansteuern. Andere Stellen hatte unsere Crew abgelehnt, weil die Gefahr zu groß wäre, dort auf Krokodile und Flusspferde zu stoßen.« Die Kolosse kommen nachts zum Weiden an Land und schätzen es nicht, dabei auf schlafende Zweibeiner zu stoßen. Das kann schnell tödlich enden.
Sandbänke im Regenwald
In den ersten Tagen des Januar 2025 machte sich der Beginn der Trockenzeit auch beim Blick über die niedrigen Bordwände deutlich bemerkbar. Der Sangha River wurde immer flacher. Aus Untiefen wurden Sandbänke und Sandinseln. Langlebig ist dieses Neuland nicht: »Wenn später im Jahr der Wasserstand steigt, verschwindet es wieder«, erklärt Jens Hering. Bis dahin sind die Inseln vom Ufer aus nur schwer zu erreichen. Die brütenden Tiere können sich also relativ sicher sein vor Räubern. In den wenigen Wochen, in denen die Untiefen aus den Wellen ragen, nutzen riesige Vogelscharen darum ihre Chance.
Von den Brutplätzen aus fliegen die Vögel dann tagtäglich zu den Nahrungsgründen und zurück– und das in solchen Massen, dass sich die Besatzung an Insektenschwärme erinnert fühlte. Zu untersuchen, wie dieses Zusammenspiel von Fortpflanzung und Ernährung funktioniert, war das eigentliche Ziel der Expedition.
Wenn im Fernglas der Forscher eine dieser Inseln als Erfolg versprechend erschien, landete das Boot dort an. Dann machte sich das Team auf die Suche nach Brutstätten, zählte Nester und Gelege, inspizierte in Bruthöhlen den Nachwuchs oder hielt Daten zum Nistmaterial und vielem mehr fest. Wo Schwalben eine Höhle für ihre Brut gegraben haben, vermaß die Gruppe diese möglichst genau. Wie viele Eier haben die Eltern gelegt? Wie viele Küken sperren ihre Schnäbel auf? Und immer wieder hielten sie mit Kameras dieses weitgehend unbekannte Brutgeschehen im Bild fest und dokumentierten es detailliert.
Um einen Überblick aus der Vogelperspektive zu gewinnen, ließ das Team immer wieder eine Drohne aufsteigen. Mit deren Kamerabildern ließen sich dann Daten zur Gesamtausdehnung, zur Lage und zum Aufbau der Brutkolonien gewinnen. All diese Zahlen und Fakten sind in der Gegend höchstwahrscheinlich noch nie erhoben worden, ist sich das Team sicher.
Wie singt der Kongo-Nektarvogel?
Besonders wichtig und charakteristisch sind die Stimmen, Melodien und Lieder der Vögel. Gute Aufnahmegeräte gehören daher zur Grundausrüstung einer wissenschaftlichen Expedition und haben sich prompt auch auf dem Sangha-Fluss bewährt: »Bisher wurde die Stimme des Kongo-Nektarvogels noch nicht für die Wissenschaft festgehalten«, berichtet Jens Hering. Die ersten Aufnahmen dieser Art sind während seiner Sangha-Expedition gelungen. Allerdings brütet diese Art nicht auf den Sandinseln des Flusses, sondern hängt ihre Nester in die Gehölze amUfer.
Bei einer anderen Art sind die Brutvorkommen dagegen sehr gut bekannt, liegen sie doch in den Ställen und Scheunen unserer heimischen Bauernhöfe: Rauchschwalben ziehen ihren Nachwuchs in Europa groß, fliegen aber mit Einsetzen der kalten Jahreszeit nach Afrika südlich der Sahara. Bekannt ist das schon lange. »Trotzdem war es mehr als faszinierend, so viele Rauchschwalben am tropischen Regenwaldfluss zu finden«, staunt Hering.
Zusammen mit den Kindern eines Dorfs sammelte er unter einem Rastbaum der Zugvögel ihren Kot, um ihn später von Herbert Grimm, einem ehemaligen Kurator des Naturkundemuseums Erfurt, untersuchen zu lassen. Was fressen die hier zu Lande so gut bekannten Luftakrobaten, wenn sie tausende Kilometer weiter südlich im Kongo unterwegs sind? Laut Grimm sind es vor allem Ameisen, die zu dieser Jahreszeit schwärmen: Satte 93Prozent der im Kot gefundenen Beutetiere gehören zu dieser Insektengruppe.
Das war allerdings nicht die einzige Schwalbenart, die am Sangha-Fluss aufgestöbert wurde. Ganz im Gegenteil, oft wimmelte es über dem Fluss vor Graubürzelschwalben, Kongouferschwalben und Rotaugenschwalben– echte Einheimische, die auf den Inseln ihre Nester in den Sand graben. Die pfeilschnellen Jäger sind auf den offenen Luftraum über dem Sangha angewiesen, im dichten Regenwald hätten sie schlechte Karten.
Borkenkäfer-Gourmets
Auch den Kot anderer Vogelarten sammelte das Team, um mehr über deren Nahrungsgewohnheiten herauszufinden. »Im extrem feuchtwarmen Tropenklima war das Trocknen dieser Proben eine echte Herausforderung für uns«, sagt Jens Hering.
Zurück in Deutschland liefern Analysen erste Ergebnisse: Im Kot der bisher wissenschaftlich kaum untersuchten Kongouferschwalben identifizierte Herbert Grimm aus Erfurt nicht die von Schwalben in Europa oft erbeuteten Libellen, sondern sehr viele Borkenkäfer, die auf den ersten Blick eher in das Beuteschema von Rindenspezialisten wie den Spechten passen. »In dieser Zeit aber schwärmen auch die Borkenkäfer aus und werden so zur leichten und häufigen Beute der Schwalben«, erklärt Jens Hering.
Auch den Ausscheidungen des Woodhouse-Ameisenpickers ist das Team nachgestiegen und dafür bis in den Südosten Kameruns marschiert. Extrem anstrengend sei das gewesen. Aber von Erfolg gekrönt: Im Lobéké-Nationalpark stießen die Wissenschaftler schließlich auf ein Nest des versteckt im Regenwald lebenden Vogels aus der Familie der Prachtfinken. »Am Nesteingang fanden wir einen Klumpen Kot von Jungvögeln.«
In der mühsam getrockneten Probe fand der Kurator für die Insektensammlungen des Museums für Naturwissenschaften in Brüssel Wouter Dekoninck anschließend fast nur Überreste von Ameisen-Arbeiterinnen der Art Tetramorium aculeatum. »Die Eltern verfüttern offensichtlich nur diese winzig kleinen Ameisen«, staunt der Ornithologe noch immer.
Das sind aber nur allererste Ergebnisse. Die Forschung an den mitgebrachten Proben, Bild- und Tonaufnahmen und den Messergebnissen läuft gerade erst an. Bis die letzten Auswertungen, vielleicht auch zu weiteren beobachteten Vogelarten wie Scherenschnabel, Krokodilwächter, Graubrachschwalbe oder Weißstirnregenpfeifer vorliegen, kann noch einige Zeit vergehen. »Neue Erkenntnisse über die Ökosysteme des Kongobeckens oder deren Bewohner werden sehr willkommen sein«, bekräftigt Julia Barske vom WWF. »Wir selbst machen ja keine Vogelforschung.«
Jens Hering denkt bereits über neue Expeditionen in die Region nach. »Dort gibt es noch so viel zu entdecken.« Unter den Weberknechten, die er von der Sangha-Expedition mitgebracht hat, »sind sehr wahrscheinlich auch Arten dabei, die bisher von der Wissenschaft noch gar nicht beschrieben wurden«. Geht es nach ihm, wird die nächste Forschungsreise ins Innere Afrikas, für die auch diesmal wieder der Urlaub draufgehen wird, bald kommen. Dann haben er und sein Team erneut Gelegenheit, sich nach einem harten Tag des Dokumentierens gleich doppelt zu freuen: Über die Scharen von Graupapageien, die mit Einsetzen der Tropendämmerung zu ihren Schlafplätzen fliegen. Und über wissenschaftliche Ergebnisse, die zu sammeln hauptberufliche Forscher heute weder die Zeit noch das Geld haben.
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