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Coronavirus in Deutschland: »Von der Herdenimmunität sind wir noch sehr weit entfernt«

Um Corona zu stoppen, müssen alle weniger Menschen treffen, sagt die Virologin Sandra Ciesek im Interview. Die neuen Maßnahmen seien sinnvoll. »Wir sollten schwere Covid-19-Erkrankungen wenn immer möglich verhindern, selbst wenn es ausreichend freie Betten und Personal auf den Intensivstationen gibt.«
Im Kölner Alltag trug mancher Mitte Oktober 2020 Maske, manche trug sie falsch und andere trugen sie gar nicht.

Rund 450 000 Covid-19-Fälle gibt es in Deutschland. Seit Ende September stecken sich rasant immer mehr Menschen an. Deshalb haben Bund und Länder beschlossen, unter anderem Restaurants sowie Bars zu schließen und erneute Kontaktbeschränkungen erlassen. Wird das helfen? Was sollte nun jede und jeder tun? Und womit ist in den nächsten Wochen zu rechnen? Antworten liefert die Virologin Sandra Ciesek im Interview. Die Direktorin des Instituts für Virologie in Frankfurt erforscht den Covid-19-Erreger Sars-CoV-2, seit er Frankfurt am 1. Februar 2020 erreichte.

»Spektrum.de«: Wir sprechen nun zum zweiten Mal in einer Woche, denn zwischenzeitlich hat die Bundesregierung beschlossen, neue Maßnahmen zu erlassen. Restaurants und Fitnessstudios sind beispielsweise ab dem 2. November zunächst zu. War das die richtige Entscheidung?

Sandra Ciesek: Bislang hat es weniger am Einverständnis als am Bewusstsein gemangelt. Es gab Höchstgrenzen für Treffen in Räumen und die wurden halt nach dem vorgegebenen Hygienekonzept ausgereizt. Weil man sich an die Regeln hielt, entstand der Eindruck, es wäre sicher. Aber das ist nicht so. Es ist immer möglich, sich anzustecken. Nicht alles, was erlaubt ist, ist ungefährlich.

Bei der aktuellen Entwicklung der Fallzahlen war den meisten klar, dass schnell etwas unternommen werden muss. Ich halte die Schwerpunktsetzung der Maßnahmen mit Priorisierung der Kinder grundsätzlich für sinnvoll.

Schulen und Kindergärten sollen offen bleiben. Gut, sagen die einen – so können die Kinder lernen und Erziehungsberechtigte weiter arbeiten. Gefährlich, sagen die anderen, weil die Orte zu Corona-Hotspots werden könnten. Was ist über die Ausbreitung an Schule und Kita bekannt? Und finden Sie es richtig, sie offen zu halten?

Zum Glück sehen wir relativ wenige große Ausbrüche in Schulen und Kitas. Sicherlich sind wir verantwortlich, Dritte zu schützen. Doch es gibt auch ein Recht auf Bildung, und Schulen hier zu Lande können noch keinen rein digitalen Unterricht abhalten. Gleichzeitig ist es wichtig, Kinder zu betreuen, damit Erziehungsberechtigte ihren Jobs nachgehen können. Wichtig ist hier jedoch vor allem, insgesamt die Infektionszahlen zu drücken, da die Häufigkeit der Fälle in Schulen natürlich mit der Inzidenz in der Gesamtbevölkerung korreliert.

Sandra Ciesek | Die Medizinerin und Virologin ist Direktorin des Instituts für Virologie in Frankfurt. Zu ihren Schwerpunkten gehört die Suche nach neuen Therapieformen für Hepatitis C und seit diesem Jahr die Erforschung von Sars-CoV-2 und Covid-19.

Wissen wir mittlerweile, wie ansteckend Kinder und Jugendliche sind?

Nicht genau. Die meisten Studien liefen, als es Kontaktbeschränkungen gab. Klinisch-virologisch gibt es keinen relevanten Unterschied zwischen der Menge an Virus, die Kinder und Erwachsene ausscheiden. Kinder können also prinzipiell Überträger sein. Aber es lässt sich nicht einfach sagen, wer eine bestimmte Menge Viren im Rachen hat, ist deshalb besonders ansteckend. Es gibt noch andere Faktoren: anatomische Besonderheiten, die Zahl und Intensität der Kontakte, wie empfänglich das Gegenüber ist … Es fehlen zudem Längsschnittstudien: Sind Kinder womöglich einfach kürzer infektiös? Das hat noch keiner untersucht. Bei der Diskussion über Kinder ist es außerdem immer wichtig, das Alter mit zu betrachten. Wahrscheinlich sind Kinder im Kindergartenalter weniger ansteckend als Jugendliche. Daher sollten Kitas und Schulen in der Diskussion auch nicht gleichgesetzt werden.

Im Frühjahr lautete die Prämisse: Das Virus darf sich nur langsam ausbreiten, damit das Gesundheitssystem stabil bleibt und sowohl Covid-19-Patientinnen und -Patienten, die Behandlung bekommen, die sie brauchen, als auch alle anderen Kranken. Das klingt nach wie vor sinnvoll. Reichen die nun beschlossenen Maßnahmen, um das Ziel zu erreichen?

Wir sollten schwere Covid-19-Erkrankungen wenn immer möglich verhindern, selbst wenn es ausreichend freie Betten und Personal auf den Intensivstationen gibt. Denn auch mit bestmöglicher Behandlung versterben viele Patienten, oder es bleiben Schäden als Konsequenz der Infektion, aber auch der Behandlung mit der Beatmung zurück. Möglichst niedrige Zahlen erlauben es zudem, Schulen und Kitas offen zu halten.

Mehr als 14 964 neue Coronavirusfälle gibt es laut Situationsbericht seit dem Vortag dieses Interviews. Wir können also davon ausgehen, dass sich allein während unseres Gesprächs hier zu Lande hunderte Menschen mit Sars-CoV-2 anstecken. Wieso bloß steigen die Zahlen seit September so rasant?

Ein Anstieg war zu erwarten. Allerdings habe ich mit einem so deutlichen Anstieg eher im Dezember oder Januar gerechnet – wie bei der Influenza. Schon jetzt aber halten sich wohl entscheidend mehr Menschen in Innenräumen auf. Sie sind sich näher, begegnen sich öfter. Wie wir nun auch sehen, vermehrt das Virus sich in Großstädten leichter als auf dem Land, aus dem einfachen Grund, weil dort zahlreiche Menschen auf engem Raum leben.

»Irgendwann ist der Kipppunkt erreicht: Dann können nicht mehr alle Personen ermittelt werden, die sich möglichweise an einer gemeinsamen Quelle angesteckt haben«

Dem RKI-Bericht zufolge gibt es bundesweit zunehmend Infektionen, deren Quelle gar nicht mehr nachvollziehbar ist. Warum ist das bedenklich?

Im Frühjahr und Sommer gehörten viele Infizierte zu großen Familien oder kamen aus einem Urlaubsort; Ischgl etwa. Nun wissen Patientinnen und Patienten oft nicht, wo sie sich infiziert haben. Irgendwann ist der Kipppunkt erreicht: Es können nicht mehr alle Personen ermittelt werden, die sich möglichweise an einer gemeinsamen Quelle angesteckt haben. Die Unentdeckten tragen dann die Infektion ungehindert weiter. Die Dunkelziffer steigt, die Infektionszahlen steigen rasant. In Berlin und Frankfurt beispielsweise passiert derzeit genau das.

Was halten Sie von Kontakttagebüchern?

Kontakte in ein Buch zu schreiben, klingt altmodisch, würde Infektionsketten jedoch nachvollziehbarer machen. Nicht jeder Name ist nötig, es reicht, Events und Orte zu notieren, die mögliche Infektionsquellen sind. Man sollte denken, dass wir das im Jahr 2020 mit einer App hinbekommen könnten, aber trotzdem erleichtern solche Notizen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesundheitsämter durchaus die Arbeit.

Es gibt doch die Corona-Warn-App?

Aber die App zeichnet nicht auf, wo wir waren. Das lässt der Datenschutz nicht zu. Nutzerinnen und Nutzer können auch nicht erkennen, wann genau sie den Risikokontakt hatten. Außerdem ist der Nutzen der App immer dadurch eingeschränkt, dass viele Menschen sie nicht verwenden. Daher kann die App niemals alle möglichen Kontakte ermitteln.

Ist die App dann überhaupt sinnvoll?

Als Unterstützung, ja. Sie zeigt immerhin, wie viele riskante Begegnungen es gab und ob man sich testen lassen sollte. Aber die App ersetzt die Arbeit der Gesundheitsbehörden nicht. Zahlreiche Ämter kommen jetzt schon nicht mehr hinterher. Wir alle, jede und jeder Einzelne, sollte also das Bestmögliche tun, um die Ausbreitung zu verlangsamen.

Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende September vor 19 200 Neuinfektionen pro Tag an Weihnachten warnte, kritisierten einige aus Politik und Gesellschaft das als Panikmache … Nun hat die zweite Welle begonnen – früher als erwartet, wie Sie sagten –, und Deutschland nähert sich zielstrebig den 19 200. Was ist davon zu halten?

Ich schaue nie nur auf eine Zahl. Ein Wert allein zeigt mir noch nicht das Ausmaß des Problems an. Wichtig ist zu fragen: Wie alt sind die Patienten? Wie viele gehören zu Risikogruppen? Wie sind die Infizierten verteilt? Wenn die Fälle sich ballen und in einzelnen Städten besonders viele infiziert sind, wird es nicht nur für die Teststellen und Gesundheitsämter, sondern auch für Krankenhäuser und Kliniken problematisch.

Es werden wieder vermehrt Covid-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet. Die 7-Tage-Inzidenz der über 60-Jährigen liegt mittlerweile bei 59,3 Fällen pro 100 000 Einwohnern (Stand 29.10. 0:00 Uhr). Was halten Sie von der Strategie, genau diese Risikogruppen gezielt zu schützen. Also: Alle bis 60 dürfen unter der weiterhin wichtigen AHA-plus-L-Empfehlung – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften – raus, Gastronomie und Freizeiteinrichtungen bleiben geöffnet, aber eben Kliniken, Alten- und Pflegeheime haben starke Einschränkungen?

Von dieser Strategie halte ich gar nichts, sie ist offensichtlich unethisch. Da zuletzt zwar von den meisten Menschen im öffentlichen Leben die AHA-Regeln eingehalten wurden, man sich aber weiterhin in teils größeren Gruppen getroffen hat, sind die Fallzahlen massiv angestiegen. Und zwar als Erstes bei den jungen Menschen, die übrigens auch schwer an Covid-19 erkranken können. Wie sie richtig sagen, folgten später vermehrt Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. Das beobachtet man ebenfalls im Ausland immer wieder. Die einzige Möglichkeit, Menschen mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf dann noch zu schützen, würde bedeuten, dass man sie fast vollständig vom öffentlichen Leben ausschließen müsste.

Auch heute schon gibt es Maßnahmen, Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen zu verhindern. Daran arbeiten diese Einrichtungen mit riesigem Einsatz, der viel zu selten hervorgehoben und gewürdigt wird. Aber wenn die Fallzahlen so hoch sind wie jetzt, lassen sich solche Ausbrüche leider trotzdem nicht immer verhindern, ohne den pflegebedürftigen Menschen jeden Kontakt zur Außenwelt zu unterbinden. Besonders Pflegebedürftige brauchen aber doch Kontakt mit Menschen! Möchte man somit die Vulnerabelsten in unserer Gesellschaft schützen, muss man zwingend die Fallzahlen niedrig halten. Das kann nicht gelingen, wenn die Priorität der Gesellschaft nicht der Schutz vulnerabler Menschen ist, sondern das Bedürfnis junger Menschen nach Freizeitgestaltung.

»Wir müssen über den Winter damit klarkommen, dass das Grundrauschen höher sein wird als im Sommer«

Die Inzidenz der vergangenen sieben Tage ist deutschlandweit auf 93,6 Fälle pro 100 000 Einwohner angestiegen. Als dieser Grenzwert von 50 eingeführt wurde, haben viele beklagt, der sei viel zu hoch …

Jetzt sagen viele: Der Wert ist viel zu niedrig. Fest steht jedenfalls, dass wir über den Winter damit klarkommen müssen, dass das Grundrauschen höher sein wird als im Sommer. Dennoch ist es, wie bereits gesagt, wichtig, genau einzuordnen, wo der Grenzwert unter welchen Bedingungen überschritten wird.

Sie und ihr Team analysieren Sars-CoV-2 seit seiner Entdeckung. Wie darf man sich die Arbeit vorstellen?

Seit mit Sars-CoV-2 Infizierte am 1. Februar hier in Frankfurt mit einem Evakuierungsflug gelandet sind, sind wir mit dem Virus beschäftigt. Wir haben in unserem sicheren Labor Sars-CoV-2 in Zellkulturen vermehrt, um zu verstehen, wie das Virus aufgebaut ist, wie es sich etwa in Lungen- oder anderen Zellen verbreitet und dort wirkt. Die Zellkulturen basieren auf primären Lungenzellen von Menschen. Damit können wir deutlich besser als mit Tumorzellen testen, ob beispielsweise Medikamente wirklich gegen den Erreger wirken. Für die Tests nutzen wir Elektronenmikroskope, PCR, Immunfluoreszenzen – die Techniken der Molekularbiologie also.

Sie machen aber noch mehr als Grundlagenforschung.

Ja, wir forschen in drei Bereichen: erstens in besagter Grundlagenforschung, für die wir eng mit dem Institut für Biochemie der Universität Frankfurt kooperieren und beispielsweise die Signalwege identifiziert haben, die das Virus nutzt. Nun laufen darauf basierende Studien dazu, welche Medikamente helfen könnten. Zweitens versuchen wir die Diagnostik zu verbessern. Wir haben etwa zusammen mit dem Blutspendedienst hier in Frankfurt untersucht, wie sich mehrere Proben auf einmal analysieren lassen, um die Testkapazitäten zu erhöhen. Und drittens machen wir translationale Forschung, versuchen also für den Alltag relevante Fragen zu klären: wie sich das Virus auf Flügen überträgt beispielsweise. Mit dem Paul Ehrlich Institut und dem Team um Christian Drosten haben wir untersucht, wie das Risiko für eine Übertragung von Sars-CoV-2 bei Blutprodukten ist. Mit Kollegen in NRW wiederum wollten wir herausfinden, ob sich das Virus in Abwasser finden lässt und ob die Menge mit der Inzidenz in der jeweiligen Stadt korreliert.

Womit hat Sars-CoV-2 Sie überrascht?

Mit etwas, was wir ganz am Anfang gelernt haben: dass das Virus im Rachen sitzt und Menschen ansteckend sind, obwohl sie keine Symptome haben. Das ist ein bedeutender Unterschied zu Sars-CoV-1: Dieser Erreger sitzt in den tiefen Atemwegen, was weniger ansteckend ist. Sobald die Menschen Symptome zeigten, hat man sie isoliert und konnte so eine Ausbreitung eindämmen.

Breitet sich das Virus womöglich schneller aus, weil es sich an einer bestimmten Stelle verändert hat, also mutiert ist?

Eine Mutation im Spike-Protein von Sars-CoV-2 kann die Replikation und Infektiösität steigern. Das zeigt eine Studie, die aktuell in der Zeitschrift »Nature« erschienen ist. Ob diese Mutation auch zu einer gesteigerten Übertragung führt, wurde allerdings hier nicht untersucht.

»Die Anzahl bahnbrechender Erkenntnisse über Sars-CoV-2 ist geringer geworden«

Es kursieren doch aber verschiedene Virenstämme?

Ja, wir haben Stämme aus Israel, Italien, Deutschland, China … Als noch klar war, wo die Leute sich angesteckt haben, haben wir eine Virenbank aufgebaut. Wenn man sich die darin enthaltenen Stämme genau anschaut, lassen sich kleine Unterschiede erkennen. Es gibt also schon einzelne Mutationen. Die ändern aber bisher nichts wesentlich an den Eigenschaften des Virus.

Was gibt es über Sars-CoV-2 noch herauszufinden?

Zu Beginn gab es wöchentlich bedeutende Erkenntnisse, mittlerweile ist die Anzahl bahnbrechender Erkenntnisse geringer geworden. Wir wissen nun viel darüber, wie es sich ausbreitet und aufhalten lassen kann. Aber wir wissen noch immer nicht, was gegen Covid-19 hilft. Erst kürzlich hat sich gezeigt, dass das Mittel Remdesivir die Überlebenschancen doch nicht maßgeblich steigert. Das ist enttäuschend. Auch auf einen Impfstoff warten wir noch.

Welche Erkenntnisse über das Virus sind entscheidend, um Covid-19 besser behandeln zu können?

Es ist entscheidend zu verstehen, welchen Einfluss das Virus auf den Körper hat und welchen auf das Immunsystem. Das bedeutet etwa: Greift das Virus die Lunge an, oder ist das Immunsystem das zentrale Problem? Wie soll das Medikament wirken? Soll es das Virus hemmen oder die Abwehrkräfte des Körpers? Da gibt es leider noch Klärungsbedarf.

Auch stellt sich die Frage, ob es eine vollkommen neue Therapie braucht oder wir schon Mittel haben. Im ersten Fall muss man erst in Modellen Hemmstoffe entwerfen, sie in Zellkulturen testen, chemisch verändern, um sie bestenfalls anschließend in Tieren und schließlich irgendwann im Menschen zu testen. Das dauert aber Jahre. Die zweite Möglichkeit ist, bestehende Substanzen – so genannte Libraries – zu durchsuchen und die Mittel in systematischen Tests zu untersuchen. Das nennt man Screenings. Das machen nicht nur Pharmafirmen, sondern auch mein Team und ich in Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern aus ganz Europa.

Derzeit laufen mehr als 200 Impfstoffprojekte. Welches ist besonders vielversprechend?

In den kommenden Monaten erwarten wir die ersten Ergebnisse von Phase-III-Studien. In dieser Phase fallen möglicherweise auch zuvor unbekannte Risiken auf. Bevor die Daten darüber vorliegen, lässt sich also nichts Sicheres sagen. Ich bin wirklich gespannt, wie gut die ersten Kandidaten vor einer Infektion schützen können.

Was halten Sie von den russischen Vakzinen?

Die kann man überhaupt nicht abschätzen, da uns leider keine Daten zur Effektivität vorliegen. Aber auch hier läuft eine Phase-III-Studie, die wir abwarten müssen, bevor man von einem effektiven und sicheren Impfstoff sprechen kann.

In bislang zwei Fällen haben Firmen klinische Tests in der letzten und entscheidenden Phase gestoppt. Testpersonen waren unerklärlich erkrankt. Das klingt nicht gerade ermutigend …

Es ist kein Drama, dass Studien gestoppt werden. Das kommt sogar häufiger vor. Es ist im Gegenteil ein Qualitätsmerkmal, weil es zeigt, dass die Hersteller sehr gründlich vorgehen und kein Risiko eingehen wollen. Wenn man ein neues Mittel erstmals an vielen Personen testet, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es bei einem Probanden oder einer Probandin einen Zwischenfall gibt. Wichtig ist dann, innezuhalten, zu prüfen, ob es einen Zusammenhang mit der Impfung gibt und die übrigen Probanden möglicherweise gefährdet sind. Und letztlich zu begründen, warum die Tests weiterlaufen – oder eben nicht. Dass die Sicherheit aller Impfstoffkandidaten so gut wie möglich geprüft und die Ergebnisse transparent dargestellt werden, ist ganz entscheidend für die Akzeptanz in der Bevölkerung. Und davon hängt dann letztendlich der Nutzen der Impfung ab.

Sind wir bei der derzeitigen Durchseuchungsrate nicht sowieso alle immun, bis es gute Medikamente oder genug Impfstoffe gibt?

Nein. Überhaupt nicht. Die steil ansteigenden Fallzahlen zeigen, dass die meisten Menschen noch immer empfänglich sind. Von einer Immunität der Bevölkerung als Ganzes, also der Herdenimmunität, sind wir noch sehr weit entfernt. Kommt es so weit, dass sich ein Großteil der Bevölkerung infiziert, werden zwangsläufig viele Menschen schwer erkranken und sterben.

Es gibt erste dokumentierte Fälle, in denen Menschen als geheilt galten und sich dann neu angesteckt haben. Was ist derzeit über die Immunität bekannt?

Das ist bei respiratorischen Viruserkrankungen generell ein Problem. Bekannt ist, dass Coronaviren grundsätzlich zu keiner langen Immunität führen. Im Durchschnitt liegt diese bei den normalen »Corona-Erkältungsviren« bei einem Jahr. Bei Sars-CoV-1 war es allerdings deutlich länger. Bei Sars-CoV-2 gibt es bisher einzelne Fallberichte, die eine Reinfektion beschreiben. Das mag bedenklich klingen, aber wenn man sich überlegt, dass wir weltweit mehr als 40 Millionen Infektionen haben, dann ist diese Hand voll eine Rarität. Es ist eine der großen Aufgaben, sich das jetzt genauer anzuschauen. Denn sollte es der Standard sein, dass Menschen sich nach einem Jahr erneut mit Sars-CoV-2 infizieren können, dann wirkt sich das auch auf mögliche Impfstoffe und deren Anwendung aus.

So manches wissen wir also noch nicht. Das bedeutet, wir müssen weiter abwarten, weiter lernen. Was steht uns denn in den nächsten Wochen und Monaten bevor?

Das hängt maßgeblich davon ab, ob die Zahlen weiter steigen. Ginge alles weiter wie bisher, wird die Infektionskurve steil bergauf gehen. Jetzt müssen wir abwarten, wie gut die aktuell beschlossenen Maßnahmen wirken und die Menschen tatsächlich ihre Kontakte einschränken.

Grob heißt es: Eine Pandemie beschäftigt die Welt durchschnittlich zwei Jahre. Das würde bedeuten, bis 2022 geht es noch auf und ab.

Ich kenne diese Aussage auch mit den zwei Jahren. Viele dieser Pandemien fanden aber zu Zeiten statt, in denen wir nicht das Wissen über Medikamenten- und Impfstoffentwicklung hatten, wie es heute der Fall ist. Es ist einmalig, wie schnell wir Wesentliches über das Virus gelernt haben und wie schnell wir mit der Suche nach Impfstoffen derzeit vorankommen. Ich habe schon die Hoffnung, dass die Impfstoffe große Teile der Bevölkerung schützen – angefangen mit Risikogruppen und medizinischem Personal – und es damit immer wieder zu Unterbrechungen der Infektionsketten und insgesamt zu einer Entspannung der Lage kommt.

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