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150. Geburtstag Thomas Mann: Teleplasma à la Einstein

Vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren. Der Literatur-Nobelpreisträger bediente sich für seine Romane aller möglichen Wissensbestände, von der Psychoanalyse bis zur modernen Physik. Und mit Okkultismus beschäftigte er sich ganz praktisch.
Ein Mann im Anzug sitzt an einem Schreibtisch, umgeben von Büchern und Papieren. Er hält ein Schriftstück in der rechten Hand und schaut nach links direkt in die Kamera. Auf dem Schreibtisch stehen eine verzierte Lampe, Schreibutensilien und ein Tintenfass. Im Hintergrund sind Bücherregale zu sehen. Die Atmosphäre ist ernst und erhaben.
Thomas Mann (1875–1955) interessierte sich für nahezu jede Art von Wissen – zum Okkultismus suchte er sogar einen experimentellen Zugang.

Thomas Mann gilt in der Literaturwissenschaft als Paradebeispiel des modernen Poeta doctus, des gelehrten Schriftstellers universeller humanistischer Bildung. Auf Schritt und Tritt ist die Prosa des Literatur-Nobelpreisträgers mit geistes- und humanwissenschaftlichen Wissensbeständen angereichert. Literatur, Kunst, Musik, Mythologie, Philosophie, Theologie, Psychologie, Soziologie und Medizin spielen in Exkursen, Gesprächen, Anspielungen und Zitaten in sein Erzählen hinein, das einem vielstimmigen (»polyphonen«) Montieren gleicht, wie Mann es mit Bezug auf seinen Roman »Doktor Faustus«, der 1947 erschien, nennt.

Weniger offensichtlich hingegen ist, dass Mann in sein polyphones Erzählen auch die so genannten »unsicheren Wissenschaften«, die artes incertae, hineingewoben hat: das Mystische und Magische, die philosophia occulta, so ihr Name im humanistischen Zeitalter. Im »Doktor Faustus« ist diese Gegenüberstellung in den beiden Protagonisten ausgestaltet: auf der einen Seite der Altphilologe und Gymnasiallehrer Dr. phil. Serenus Zeitblom, auf der anderen der Komponist Adrian Leverkühn.

Zeitblom ist der klassische Typus des braven humanistischen Gelehrten, geleitet vom Streben nach dem Vernünftigen, Guten und Schönen der Wissenschaften und Künste. Leverkühn hingegen öffnet sich kühn dem Magischen und Dämonischen, das im kranken Künstlergenie noch übersteigert ist und in der Musik dunkel zum Ausdruck kommt. Als Muster diente Mann Friedrich Nietzsches griechischer Antagonismus der apollinischen Künste des »schönen Scheins« sowie der »fröhlichen« Wissenschaften einerseits und des dunklen Vitalismus nach dem mythischen Modell des Dionysischen andererseits. Gleichzeitig inspirierte ihn die deutsche Sage vom »Erzzauberer« Doktor Johannes Faustus, der von der Theologie abfällt und sich der Magie in die Arme wirft.

Zauberei auf dem Zauberberg

Der Einbezug des dunklen Wissens als Gegenpol zum humanistischen, bürgerlichen ist im »Doktor Faustus« sehr augenfällig durchexerziert. Bei genauerem Hinsehen spielt es jedoch hintergründig, subtil und experimentell in vielen Texten Thomas Manns in unterschiedlichen Formen hinein: als Sphäre des Unbewussten, Irrationalen, Okkulten. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist der im Herbst 1924 veröffentlichte »Zauberberg«. Mit dem »Doktor Faustus« teilt er die Annahme, dass das »gesunde«, »lautere« Leben nur vom »kranken« her zu begreifen sei und dass die humanistische Kultur auf einem vorhumanistischen Kultus gründe. Das Leben in einem Tuberkulose-Sanatorium im Schweizerischen Davos, dem zentralen Schauplatz des »Zauberberg«, ist immer schon dem Unterweltlichen zugeneigt. Das Sanatorium bildet förmlich eine exterritoriale Raum-Zeit, eine dem geschäftigen bürgerlichen Leben enthobene, dem Tode nahe Zwischenwelt, die die Lungenkranken mit nichtfunktionalen Beziehungen, Ritualen und Diskursen ausfüllen.

Die Natur dieses Zwischenlebens wird im »Zauberberg« unterschiedlich gedeutet: durch den Aufklärer, Humanisten und Freimaurer Settembrini, der alles Kranke ablehnt und an der »Würde und Schönheit des Menschen« festhält; durch den desillusionierten Antiaufklärer und Posthumanisten Naphta, der Krankheit gerade umgekehrt als Erhöhung versteht; und vermittelnd durch den Protagonisten Hans Castorp, der – in Settembrinis Worten – gleich »Odysseus im Schattenreich […], wo Tote nichtig und sinnlos wohnen«, von der Sphäre des Kranken zwar stark angezogen ist, ohne aber davon trotz Fieberkurven stärker infiziert zu werden.

Eine zentrale Rolle in der Analyse dieser Schatten- und Zwischenwelt spielt Dr. Edhin Krokowski, der Assistent und »Fomulus« des Klinikleiters und »Höllenrichters« Prof. Behrens, »ein ganz gescheutes Etwas«, das »Seelenzergliederung mit den Patienten« betreibt und mit medizinisch-psychologischen Vorträgen die intellektuelle Instanz des Sanatoriums bildet. Unter anderem erklärt Krokowski im Kapitel »Analyse« die Liebe nicht etwa nach bürgerlicher Art als ein moralisches Ideal, das der »Einfriedung, Sicherung und Sittigung der irrenden Triebe« dient. Vielmehr versteht er sie in radikaler Lesart Sigmund Freuds als ein verdrängtes Gemisch von Trieben »in den Untergründen der Seele«, die »zur Verirrung und heillosen Verkehrtheit geneigt« sind. Dieser »in Dunkelheit gefesselte« Eros verschafft sich nach Krokowski ausgerechnet im zerfallenden Körper der Kranken seinen stärksten Ausdruck.

Schon in dieser Sexualisierung des kranken, fiebrigen Körpers liegt eine Art okkultes Wissen, verstanden im Sinne der Psychoanalyse

Schon in dieser Sexualisierung des kranken, fiebrigen Körpers, um den sich im »Zauberberg« alles dreht, liegt eine Art okkultes Wissen, verstanden im Sinne der Psychoanalyse. Tatsächlich lassen sich in Krokowski konkrete Züge des Psychoanalytikers Georg Groddeck (1866–1934) erkennen, der in seinem Sanatorium bei Baden-Baden vergleichbare Vorträge hielt. Auch Richard von Krafft-Ebings »Psychopathia sexualis« aus dem Jahr 1886, eines der einflussreichsten Bücher der frühen Sexualwissenschaft, klingt in Krokowskis Engführung von Krankheit und Sexualität an.

Von der Psychoanalyse zum Okkultismus

Doch im Laufe der Romanhandlung nehmen Krokowskis Vorträge eine folgenreiche Wendung: von der Psychoanalyse zum Okkultismus. Der Übergang wird im »Zauberberg« allerdings als organisch dargestellt, sachlich in der Privilegierung des Unbewussten, Pathologischen und Anormalen gegenüber dem Bewussten, Gesunden und Normalen, begrifflich im »Okkulten« hüben wie drüben. So lässt Thomas Mann seinen Erzähler festhalten: »Der Bereich des Unterbewußtseins, ›okkult‹ dem eigentlichen Wortsinne nach, erweist sich sehr bald auch als okkult im engeren Sinn dieses Wortes.«

Tatsächlich teilen Psychoanalyse und Okkultismus die Vorstellung, dass das metaphysische Jenseits, das noch der Spiritismus annahm, eigentlich ein »Jenseits der Seele« sei: das Unbewusste, so der Begründer der Parapsychologie Max Dessoir (1867–1947). Die 1889 geprägte Disziplin sollte in diesem Sinne unbewusste psychische Phänomene im Grenzgebiet zwischen dem Normalen und Pathologischen experimentell erforschen. Das war auch das Programm der von Dessoir 1888 gegründeten Berliner »Gesellschaft für Experimentalpsychologie« ebenso wie das der ein Jahr älteren Münchner Psychologischen Gesellschaft, wo der Philosoph Carl du Prel (1839–1899) und der Arzt Albert von Schrenck-Notzing (1862–1929) den Ton angaben.

Schrenck-Notzing ist es denn auch, der hinter Krokowskis Abwendung von der Psychoanalyse erkennbar wird, wie sie im Kapitel »Fragwürdigstes« ausgeführt wird:

Mit Edhin Krokowskis Konferenzen hatte es im Laufe der Jährchen eine unerwartete Wendung genommen. Immer hatten seine Forschungen, die der Seelenzergliederung und dem menschlichen Traumleben galten, einen unterirdischen und katakombenhaften Charakter getragen; neuerdings aber […] hatten sie die Richtung ins Magische, durchaus Geheimnisvolle eingeschlagen, und seine vierzehntäglichen Vorträge im Speisesaal, Hauptattraktion des Hauses, Stolz des Prospektes – diese Vorträge […] handelten von den profunden Seltsamkeiten des Hypnotismus und Somnambulismus, den Phänomenen der Telepathie, des Wahrtraums und des Zweiten Gesichtes, den Wundern der Hysterie, bei deren Erörterung der philosophische Horizont sich derart weitete, dass auf einmal solche Rätsel dem Auge der Zuhörer erschimmerten wie das des Verhältnisses der Materie zum Psychischen, ja dasjenige des Lebens selbst, welchem beizukommen auf unheimlichstem, auf krankhaftem Wege, wie es scheinen mochte, mehr Hoffnung war, als auf dem der Gesundheit.
Teleplasma | Der Mediziner Albert von Schrenck-Notzing untersuchte das polnische Medium Stanisława P. im Jahr 1913 während mehrerer Séancen. Dabei meinte er auch »Teleplasma« gesehen zu haben – einen Stoff, der laut Parapsychologie aus den Körperöffnungen eines Mediums austritt und dann »materialisiert«. Fotografien wie diese fanden Eingang in Schrenck-Notzings Werk »Materialisationsphänomene: Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie« von 1914, das Thomas Mann kannte. Zeitgenössische Kritiker hielten das angebliche Teleplasma für Gazetuch. Später wurde Stanisława P. des systematischen Betrugs beschuldigt.

Gegenüber diesen theoretischen Vorträgen hat in der Romanhandlung die experimentelle Seite des Okkultismus den Vorzug. Im Zentrum stehen Krokowskis Versuche mit der 19-jährigen tuberkulösen Patientin Ellen Brand, von der sich herausstellt, dass sie die Fähigkeiten eines Mediums besitzt: »Er hatte das Kind mit wissenschaftlichem Beschlag belegt, hielt Sitzungen mit ihr in seinem analytischen Verlies, hypnotisierte sie, wie man hörte, war bestrebt, die in ihr schlummernden Möglichkeiten zu entwickeln und zu disziplinieren, ihr seelisches Vorleben zu erforschen.«

Die wissenschaftlichen Sitzungen mit Elly und ihrem jenseitigen männlichen Alter Ego, dem Geist Holger, werden bald zu Séancen ausgeweitet. Auch Castorp wird dazu geladen, der sich anfänglich unter Settembrinis Einfluss allerdings noch widersetzt. Doch seine Neugierde für das Okkulte ist stärker, zumal es unter Krokowskis Leitung eben wissenschaftlich erforscht zu werden verspricht. Die Sitzung, an der Castorp in der Folge teilnimmt, ist jedoch nicht nur okkultistischer, sondern auch spiritistischer Natur, geht es doch darum, einen »Abgeschiedenen […] herbeizuführen«.

Castorp wählt seinen an Tuberkulose verstorbenen Vetter Joachim Ziemßen. Dass diese »skandalöse Niederkunft« überhaupt gelingen kann, der Verstorbene nämlich phantomhaft erscheint, ist das eigentlich verstörende Erlebnis für Castorp. Seine mythische Fahrt in die Unterwelt, mit der er nunmehr gleich Orpheus einen Toten zurückholen will, scheint in Krokowskis »analytischem Verlies« zumindest für einen flüchtigen, schemenhaften Moment erfolgreich:

Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine Augen gingen, ohne suchen zu müssen, den richtigen Weg. Es war einer mehr im Zimmer, als vordem. Dort, abseits von der Gesellschaft, im Hintergrund, wo die Reste des Rotlichtes sich fast in Nacht verloren, so daß die Augen kaum noch dahin drangen, zwischen Schreibtisch-Breitseite und spanischer Wand, auf dem gegen das Zimmer gedrehten Besucherstuhl des Doktors, wo während der Pause Elly gesessen, saß Joachim.

Wie bei Orpheus muss der hybride Versuch jedoch scheitern: Das Phantom löst sich beim Einschalten des Weißlichts sofort auf. Der Eindruck des wissenschaftlich und moralisch höchst fragwürdigen Experiments bleibt dennoch tief und nachhaltig. Das umso mehr, als Thomas Mann nicht etwa darauf abzielte, den Okkultismus als pseudowissenschaftliche Verfehlung zu entlarven. Vielmehr entsprach gerade dieses noch so fragwürdige Experiment einem genuinen Anliegen.

Auf okkulter Bildungsreise

Tatsächlich nahm Thomas Mann Ende 1922 und Anfang 1923 selbst an vier Sitzungen bei Albert von Schrenck-Notzing teil, die er auch protokollierte. Drei seiner vier Berichte wurden 1924, dem Jahr der Erstausgabe des »Zauberberg«, in dem von Schrenck-Notzing herausgegebenen Band »Experimente der Fernbewegung (Telekinese)« abgedruckt. Zudem verarbeitete Mann die Sitzungen zu einem größeren Essay, der im März 1924 in der »Neuen Rundschau« sowie noch im selben Jahr als bibliophiler Druck unter dem Titel »Okkulte Erlebnisse« erschien. All diese Publikationsstufen – Sitzungsberichte, Essay, Roman – machen deutlich, dass es Thomas Mann mit seinem Exkurs in das Gebiet des Okkultismus auf spielerische Art ernst war.

Das zeigt sich schon am Motiv seines Besuchs bei Schrenck-Notzing. Mann trieb dieselbe Neugierde nach dem Okkulten an wie seinen Romanhelden Hans Castorp, wenn er sich in seinem Essay gewissermassen als »links«, das heißt progressiv-offen und nicht etwa konservativ-ablehnend gegenüber dem Okkultismus einstufte – und das nicht nur in einer momentanen Laune:

Was mich betrifft, so hatte ich Zeit meines Lebens in Fragen des Okkultismus ziemlich weit »links« gestanden, hatte also, im Sinne jenes weitergehenden Skeptizismus, das Verschiedenste für möglich gehalten, ohne mich persönlich irgendwelcher Erfahrungen auf dem Gebiet des Übersinnlichen rühmen zu können. Mein Interesse war eine theoretische Sympathie, welche diese Dinge wohlwollend auf sich beruhen ließ. Ich empfand und äußerte wohl gelegentlich den Wunsch, einer Séance beizuwohnen.

Dieser Wunsch des prominenten Autors ließ sich durch Vermittlung des Malers Rudolf Großmann (1882–1941) erfüllen, der gerade dabei war, Mann zu karikieren, und mit Schrenck-Notzing bekannt war. Der Mediziner versprach wissenschaftliche Seriosität und war daher besonders in der akademischen Welt für seine Experimente bekannt. Mann zeichnet das soziale Profil seiner Klientel: »Universitätsprofessoren, und zwar keineswegs nur Philosophen und Psychologen, sondern Naturwissenschaftler, Physiker, Physiologen und Ärzte.« Daneben vereinzelt auch Schriftsteller wie, neben dem in Sachen Okkultismus ganz weit »links« stehenden Gustav Meyrink (1868–1932), »Dr. h.c. Thomas Mann«, wie er bei Schreck-Notzing angesprochen wird. Mann berichtet, wie er mit Großmann erstmals am 20. Dezember 1922 zu dem »palaisartigen Haus des Barons von Schrenck […] in bevorzugter Stadtgegend« ging: »aufgeräumt, unternehmend und neugierig wir beide, in einer Verfassung zwischen Übermut und Nervosität, die mich – ich bitte jedermann wegen des Vergleiches um Verzeihung – ein wenig an die Stimmung junger Leute erinnerte, die sich zu ihrem ersten Besuch bei Mädchen anschicken.«

Spukschloss | Albert von Schrenck-Notzings Domizil in München: Thomas Mann schrieb vom »palaisartigen Haus des Barons von Schrenck in bevorzugter Stadtgegend«.

Wie der Romanheld Hans Castorp das weibliche Medium Elly kontrollierte, dem der männliche Geist Holger entsprach, war es an Mann, das männliche Medium Willy Schneider zu kontrollieren, dem in einem analogen Geschlechtertausch der weibliche Gegenpart »Minna« entsprach. Und wie Castorp gab auch Mann das »placet experiri«, indem er erklärte: »Mein Wohlwollen war grenzenlos, und ich ließ es mir angelegen sein, den Künstler das merken zu lassen, ihn gewiß zu machen, daß in mir kein Feind und böser Aufpasser, kein Skeptiker jener Art sich eingefunden habe, die auf nichts als Entlarvung und triumphbrüllende Überrumpelung bedacht ist. Ich war ein positiver Skeptiker, ein Skeptiker, der seine Freude hatte, wenn etwas gelang.«

Zwar unterboten Manns okkulte Erlebnisse diejenige seines Romanhelden: kein ganzes Phantom, immerhin aber eine Reihe telekinetischer Phänomene wie zunächst die banale »Erhebung eines Taschentuchs im Rotlicht«, dann aber auch Teilkörpermaterialisationen, »unverständige organische Ausbildungen«, »psychogene Objektivierungen […] scheuen, flüchtigen, versteckten und vexatorischen Charakters«. Nach der dritten Sitzung zog der Autor gegenüber seinem Gastgeber Schrenck-Notzing positive Bilanz: »Ich will noch die am Schluss der gestrigen Sitzung auftretende, kurze, flüchtige und schemenhafte Erscheinung der Materialisation erwähnen, die sich vor dem Vorhang auf einen Augenblick blitzartig selbst beleuchtete, und mit der Erklärung schließen, dass an der Realität, der okkulten Echtheit der Phänomene für mich nicht mehr der Schatten eines Zweifels besteht.«

Nicht nur Manns experimentelle, auch seine theoretische Bilanz fiel positiv aus. Seine Erklärung der beobachteten Phänomene entsprechen nicht zufällig derjenigen Schrenck-Notzings, wie er sie bereits 1914 in der Schrift »Materialisationsphänomene: Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie« formuliert hatte. Mann, der das Werk zitiert, deutet jene Phänomene analog als flüchtige materielle Objektivierungen und organische Externalisierungen psychischer »Kraftfelder«. In Manns eigener an Schrenck-Notzing geschulter Terminologie:

Als gesicherte Tatsache des Okkultismus kann heute gelten, dass jenes in der normalen Physiologie wirkende bildende Prinzip in gewissen Fällen »teleplastischen« Charakter gewinnt, d.h. die Grenze des Organismus überschreitet und außerhalb seiner (»ektoplastisch«) wirkt – nämlich so, dass es aus der exterritorisierten […] organischen Grundsubstanz Formen, Glieder, körperliche Organe, namentlich Hände, vorübergehend ins Dasein ruft, die alle biologischen Eigenschaften und funktionellen Fähigkeiten normal-physiologischer Gebilde besitzen, biologisch lebendig sind. Diese teleplastischen Endorgane bewegen sich scheinbar frei im Raum, stehen aber allen Beobachtungen zufolge mit dem Medium in physiologischem und psychologischem Rapport, dergestalt, dass jeder durch das Teleplasma empfangene Eindruck auf den medialen Organismus zurückwirkt – und umgekehrt.

Schulterschluss zwischen Okkultismus und Physik

Die wissenschaftliche Pointe der Materialisationsphänomene kommt aber erst noch: der Schulterschluss mit der modernen Physik. Wenn es von Krokowskis Vorträgen heißt, sie rührten an die elementare Grundlage des »Verhältnisses der Materie zum Psychischen«, so ist damit auf eine der kühnsten Behauptungen des Okkultismus angespielt, die er ausgerechnet der Physik entlehnte: die Überwindung des klassischen durch einen energetischen Materiebegriff, abstrahiert aus der Äquivalenz von Masse und Energie, die Albert Einstein wenige Jahre zuvor in seiner Relativitätstheorie formuliert hatte. Analog gilt dem Okkultismus Materie als Ausdruck psychischer Energie. Die Experimentalpsychologie des Okkultismus mit ihren metaphysischen Annahmen ließ sich insofern mit Einsteins Physik begründen, wie es Schrenck-Notzing ausdrücklich tat – und analog Mann.

Die Intellektuellen waren elektrisiert von der Behauptung, mit Hilfe der modernen Physik wissenschaftlich erklären zu können, was wie Metaphysik aussah

In Manns eigenen Worten aus dem Jahr 1924 las sich das dann so: »[…] die Grenze zwischen mathematischer Physik und Metaphysik [ist] fließend geworden […]. Ist es noch ›Physik‹, oder was ist es eigentlich, wenn man sagt (und man sagt es heute so!), die Materie sei zuletzt und zuinnerst nicht materiell, sie sei nur eine Erscheinungsform der Energie, und ihre ›kleinsten‹ Teile, die aber bereits weder klein noch groß sind, seien zwar von zeiträumlichen Kraftfeldern umgeben, aber sie selber seien zeit- und raumlos?«

Solche Adelung durch die moderne Physik lässt die Attraktivität des Okkultismus für viele Intellektuelle in den 1910er und 1920er Jahren verständlich werden: Sie waren elektrisiert von der Behauptung, mit Hilfe der modernen Physik wissenschaftlich erklären zu können, was wie Metaphysik aussah. Auch Thomas Manns spielerische, von theoretischen Überlegungen getriebene Neugierde an den flüchtigen und unsicheren Phänomenen des Okkultismus war, bei »positiver Skepsis«, von dieser Erwartung beflügelt.

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