Emergenz: Die Welt ist mehr als die Summe ihrer Teile

Wo sich am Abend noch die Wasseroberfläche kräuselt, ist am Morgen alles erstarrt. Am Boden des Sees, tief unter der Eisschicht, tummeln sich Fische. Wie auf ein geheimes Zeichen ordnen sie sich zu einem Schwarm und bewegen sich wie ein einzelnes Wesen. Lange glaubten Menschen, höhere Kräfte müssten die Natur steuern. Was sonst könnte flüssige Seen mit festem Eis überziehen oder die kollektive Bewegung von Fischen lenken?
Heute erklärt die Wissenschaft solche Phänomene mit Emergenz: In komplexen Systemen können sich spontan neue Eigenschaften ausbilden. So wird Wasser plötzlich fest statt flüssig. Dabei bleiben die einzelnen Wassermoleküle allerdings dieselben. »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, soll schon Aristoteles die Idee vor mehr als 2000 Jahren formuliert haben.
Immer noch werfen emergente Phänomene viele Fragen auf. Wie entsteht aus einzelnen Molekülen Leben, aus individuellen Verhaltensweisen ein Kollektiv oder aus unzähligen Neuronen komplexes Denken und sogar Bewusstsein? Einige Fachleute sind davon überzeugt, dass es künftig mit genügend Forschung möglich sein wird, diese Fragen zu beantworten. Andere wiederum argumentieren, dass manche Phänomene für immer unerklärbar bleiben dürften und vermuten als Grund dafür eine Erscheinung namens starker Emergenz.
Vom holistischen Weltbild zu einem formellosen Phänomen
Bevor die Emergenz ein Konzept moderner Wissenschaft wurde, war sie eine philosophische Idee. Aristoteles beschrieb damit die Rätsel der Natur und vermutete, eine äußere Kraft würde diese ordnen und Lebewesen über ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften hinaus definieren.
Mit dem Beginn der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurden solche holistischen Weltbilder zunehmend in Frage gestellt. Philosophen wie Descartes betrachteten die Natur als eine präzise Maschine, und auch Newton war der festen Meinung: Jedes System lässt sich aus seinen Bausteinen rekonstruieren, wenn man dabei die grundlegenden Naturgesetze beachtet.
Etwa 200 Jahre später wurde jedoch klar, dass sich einige Phänomene nicht so kausal auflösen lassen. Im Ganzen können sich Eigenschaften entwickeln, die nicht auf einfache Weise auf die einzelnen Bestandteile zurückzuführen sind. Beim Beispiel des gefrierenden Wassers bewegen sich die unzähligen mikroskopischen Moleküle in der Flüssigkeit zunächst relativ frei. Dann ordnen sie sich in einer Kristallstruktur an – zu festem Eis. Die einzelnen Wassermoleküle sind dabei weder fest noch flüssig. Die Aggregatzustände betreffen das, was aus allen Molekülen gemeinsam entsteht.
Statt die Erklärungslücken für solche Abläufe mit übernatürlichen Kräften zu schließen, entstand im 19. Jahrhundert ein wissenschaftliches Konzept dafür: Emergenz. Verwendet hat den Begriff erstmals der britische Wissenschaftsphilosoph George Henry Lewes, als er in den 1870er Jahren überlegte, wie das Bewusstsein aus einem biologischen Gehirn hervorgehen könnte.
Schwarmintelligenz – ein System ohne Anführer
Ein Fischschwarm bewegt sich ohne zentrale Steuerung. Jeder Fisch hält Abstand, passt sich an seine Nachbarn an und reagiert blitzschnell. Erkennt ein Fisch Gefahr, ändert erst er, dann der ganze Schwarm die Richtung. Gemeinsam schwimmt der Schwarm schneller, als es ein einzelner Fisch könnte – eine emergente Fähigkeit. Wenn einzelne Fische sich zu weit voneinander entfernen, zerfällt der Schwarm und seine emergenten Eigenschaften gehen verloren.
Doch selbst ein einzelner Fisch ist ein komplexes System: Moleküle bilden Zellen, Zellen ordnen sich zu Gewebe, Gewebe formt Organe und Muskeln. Organe und Muskeln haben dann emergente Funktionen, zum Beispiel Kraftübertragung. Der Fisch als ganzer Organismus hat ebenfalls emergente Fähigkeiten, er kann seine Umgebung wahrnehmen und sich dadurch als Teil des Schwarms verhalten.
Zunehmend entwickelte sich Emergenz zu einem Forschungsgegenstand. Allerdings lässt sie sich – anders als die Naturgesetze in der Physik – nicht durch konkrete Formeln ausdrücken. Was durch Emergenz entsteht, unterscheidet sich von System zu System. Je detaillierter man eine spezifische Anwendung betrachtet, desto vielfältigere Aspekte können in den Vordergrund treten.
Auch wenn sich Emergenz nicht in eine Gleichung gießen lässt, heißt das nicht, dass ihre Erforschung keine wissenschaftliche Grundlage hat. Es reiche nicht festzustellen, dass etwas irgendwie emergent entsteht und sich damit zu begnügen, mahnt der Physiker und Philosoph Josef Honerkamp. Emergenz sei schließlich keine Denkfaulheit. Stattdessen müsse man untersuchen, wie genau einzelne Elemente miteinander wechselwirken und zu den emergenten Phänomenen beitragen.
Wenn sich Physiker den Kopf zerbrechen
In der Physik versteht man Emergenz meist in einem engeren Sinn: wenn gleichartige Bausteine lokal wechselwirken und sich daraus global neue Strukturen bilden. »In einfachen Beispielen lässt sich gut erklären, wie makroskopische Effekte aus mikroskopischen Wechselwirkungen entstehen, so dass es fast trivial wirkt«, sagt Viola Priesemann, Professorin für Systemtheorie am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen.
Das zeigt erneut das Beispiel des gefrierenden Wassers. Zwischen den einzelnen Molekülen bilden sich durch wechselseitige Anziehung so genannte Wasserstoffbrücken, die jedoch durch die Bewegungen im flüssigen Wasser immer wieder gebrochen werden. Sinkt die äußere Temperatur unter den Gefrierpunkt, passiert das seltener, und die Wasserstoffbrücken werden dauerhafter. Ihr lockeres Netzwerk ordnet sich zu einem festen Gitter. Schicht für Schicht entsteht festes Eis.
Eine offene Frage, die Physikerinnen und Physiker schon beschäftigt, sind turbulente Strömungen. Darin bewegen sich die einzelnen Wassermoleküle scheinbar chaotisch, doch aus diesem Chaos können sich stabile Strudel bilden. Deren emergente Eigenschaften wie Größe und Richtung bleiben sogar bestehen, wenn sich die äußeren Einflüsse ändern. Auch den kollektiven, quantenmechanischen Effekt der Supraleitung kann die Physik bis heute nicht vollständig erklären. Fest steht: Unterhalb einer »kritischen« Temperatur fließt Strom durch bestimmte, zuvor kaum leitende Materialien – und das ganz ohne Widerstand!
Beim Wasser oder der Supraleitung gibt es einen Phasenübergang, bei dem sich emergent die physikalischen Eigenschaften von Stoffen ändern – fest oder flüssig, leitend oder nicht leitend –, obwohl es keine chemischen Veränderungen gibt. Um den kritischen Punkt eines Systems stellt sich ein überraschend universelles Verhalten ein, unabhängig vom jeweiligen Material. Ob nun einzelne Elektronen oder ganze Wassermoleküle: Ihr Zusammenspiel lässt sich durch ähnliche Mechanismen beschreiben.
»Solche Phänomene mit Emergenz und Physik zu erklären, kann sie freilich ein Stück weit entzaubern«Viola Priesemann, Physikerin
Das gilt für viele Systeme in der Natur – ob nun lebendig oder nicht. Wenn sich etwas durch Evolution entwickelt, geschieht das nicht nach einem Bauplan, sondern durch Prozesse, bei denen der Zufall eine maßgebliche Rolle spielt. In Ökosystemen teilen sich zahlreiche Lebewesen einen Lebensraum, in dem die Nährstoff- und Energiekreisläufe miteinander verbunden sind. In der Natur treffen stets lokale Verhaltensweisen aufeinander und wirken sich global aus. »Solche Phänomene mit Emergenz und Physik zu erklären, kann sie freilich ein Stück weit entzaubern«, sagt Priesemann. Aber das hilft uns, die Welt um uns herum besser zu verstehen.
Emergente Phänomene lassen sich nicht erforschen, indem man Objekte in immer kleinere Teile zerlegt. Sie entstehen am Übergang von einer Größenordnung zur anderen. Entscheidend ist daher, mehrere Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen. Für die wissenschaftlichen Disziplinen bedeutet das: Materialien gehorchen nicht unbedingt nur den Gesetzen der mikroskopischen Elementarteilchenphysik – auf größeren Skalen gelten teilweise andere Regeln. Auch in der Biologie lässt sich eine Zelle nicht direkt aus der Chemie ihrer Moleküle erklären. Und die Dynamik einer Gruppe lässt sich nicht zwangsläufig durch psychologische Analysen ihrer Mitglieder vorhersagen. In diesen Fällen muss man sowohl die Eigenschaften der einzelnen Bestandteile kennen als auch verstehen, wie sie zusammenwirken.
Emergenz enträtseln
Eine einheitliche Theorie, die Emergenz abschließend erklärt, gibt es nicht. Ihr Konzept ist universell und zieht sich durch alle Fachbereiche, die den Begriff Emergenz oft unterschiedlich verwenden. Gleichzeitig braucht es meist interdisziplinäre Forschung, um emergentes Verhalten zu erklären – schließlich tragen Vorgänge auf verschiedenen Skalen zu emergenten Phänomenen bei. Ein Ansatz besteht darin, erst jeweils die mikroskopischen und makroskopischen Theorien eines Systems zu verstehen und dann miteinander zu verknüpfen.
Ein Ziel von Fachleuten ist es, emergente Eigenschaften unabhängig von spezifischen Systemen zu erkennen, aus den einzelnen Bestandteilen abzuleiten und zu charakterisieren. So wären sie in der Lage, emergente Phänomene vorherzusagen – das würde ihnen einige Überraschungen ersparen.
Wie 1911, als Heike Kamerlingh Onnes während eines Experiments Quecksilber immer weiter abkühlte und dabei feststellte: Bei einer Temperatur von 4,2 Kelvin verschwindet der elektrische Widerstand vollständig. Das war eine Überraschung, die die damals geltenden Theorien darüber widerlegte, wie sich Elektronen in Metallen bewegen. Fast 50 Jahre arbeitete die Festkörperphysik dann daran, Erklärungen für dieses emergente Phänomen der Supraleitung zu finden. In manchen Materialien scheinen sich, bei ausreichend niedrigen Temperaturen, Elektronen zu so genannten Cooper-Paaren zusammenschließen: So stoßen sich die Teilchen nicht länger ab und können gemeinsam den elektrischen Widerstand überwinden. Aus dem Verhalten einzelner Teilchen lässt sich dieser Vorgang unmöglich vorhersagen.
Um Emergenz zu untersuchen, braucht es also geeignete Betrachtungsweisen. Oft geht es nicht darum, jedes Detail eines Systems abzubilden, sondern nur die grundlegenden Dynamiken zu erfassen. Dabei helfen mathematische Modelle. Diese können ein reales System nie vollständig beschreiben, sondern nutzen Vereinfachungen. Anstatt beispielsweise alle Wassermoleküle eines Sees individuell abzubilden – was die Kapazität aller Rechenzentren übersteigen würde –, stellt das Modell dar, wie sich die Teilchen im Durchschnitt bewegen.
Modelle als Werkzeug
Die Modellierung beginnt an der Tafel: Welches Phänomen soll untersucht werden? Haben die Fachleute das Ziel gesteckt, skizzieren sie einen groben Weg, den sie am Computer weiter ausarbeiten. Anschließend überlegen sie, welche Eigenschaften das System für die Emergenz unbedingt braucht. »"Dann wird der simpelst mögliche Weg gesucht, mit dem das System diese Fähigkeit entwickelt«, erklärt Priesemann. Anschließend werden die erarbeiteten Prinzipien in Programmcode umgesetzt und getestet. Zum Beispiel: Bildet sich in der Simulation eines Sees unterhalb der berechneten kritischen Temperatur eine Eisschicht? Falls ja, gilt das Modell für diesen Aspekt als erfolgreich.
Hat man ein solches Modell gefunden, heißt das aber nicht, dass man das zu Grunde liegende System ganz verstanden hätte. Denn Modelle gestatten nicht automatisch Einsicht in alle relevanten Zusammenhänge oder Ursachen. Im besten Fall können sie die Dynamik eines Systems zuverlässig darstellen und Vorhersagen liefern, wie es bei Wetter- und Klimamodellen der Fall ist. Da verschiedenste komplexe Systeme ähnliche Dynamiken entwickeln, lassen sich die zugehörigen Modelle auf scheinbar völlig unverwandte Anwendungen übertragen. So griff Priesemanns Gruppe während der Coronapandemie auf Modelle aus den Neurowissenschaften zurück, um die Ausbreitung des Virus zu simulieren.
Die Wissenschaft kann nachbilden, wie sich etwas verhält, aber nicht unbedingt erklären, warum es das tut
Mit Modellen lassen sich sogar emergente Phänomene nachbilden, deren zu Grunde liegende Mechanismen noch unbekannt sind. So ist es beispielsweise oft schwierig, das Verhalten von Wolken auf kleinen Skalen vorherzusagen. Dennoch versuchen Klimamodelle den Effekt von Wolken zu berücksichtigen, indem sie deren Eigenschaften auf übergeordneter Ebene erfassen – als Zusammenspiel ganzer Wolkenkomplexe. Mit etwas Glück liefert ein Modell dann umgekehrt sogar Hinweise darauf, welche Regeln auf kleinerer Skala gelten könnten, damit sich bestimmte Eigenschaften im Größeren ergeben.
Denn nicht selten gilt für emergente Phänomene: Die Wissenschaft kann nachbilden, wie sich etwas verhält, aber nicht unbedingt erklären, warum es das tut. Eis hat zum Beispiel eine geringere Dichte als Wasser, während die meisten anderen Stoffe bei sinkender Temperatur dichter werden. Diese Besonderheit ist lange bekannt und gut untersucht. Doch warum verhält sich Wasser anders? Einige Physiker führen auf Basis von Computersimulationen und Strukturuntersuchungen die seltsame Erscheinung auf verschiedenartige, unterschiedlich dicht gepackte Molekülanordnungen zurück. Wasser sei quasi eine Mischung aus zwei Flüssigkeiten. Die Hypothese ist allerdings umstritten.
Starke Emergenz – die Grenze der Wissenschaft?
Solche Beispiele bergen zwar Mysterien, aber zugleich besteht die Hoffnung, sie zu enträtseln, denn es handelt sich um so genannte schwache Emergenz. Damit sind Phänomene gemeint, die zwar komplex und unvorhersehbar sind, sich aber prinzipiell darauf zurückführen lassen, wie sich ihre Bestandteile verhalten. Ob nun Wassermoleküle, die zu Eis erstarren, Fische, die als Schwarm schwimmen, oder quantenmechanische Teilchen, die kollektiv zum Supraleiter werden: Ihr Wirken lässt sich mit den etablierten wissenschaftlichen Methoden nachweisen und erforschen.
Umstritten ist jedoch, ob es darüber hinaus eine »starke Emergenz« gibt. Anhänger dieser Sichtweise gehen einen Schritt weiter. Sie behaupten: Bestimmte Eigenschaften oder Phänomene lassen sich grundsätzlich nicht vollständig durch ihre Bestandteile und deren Wechselwirkungen allein erklären. Wenn stark emergente Phänomene einmal in einem System entstanden seien, könnten sie wiederum Einfluss auf dessen Strukturen und Funktionen nehmen. Selbst wenn alle Prozesse eines stark emergenten Systems bekannt wären, bliebe demnach eine Wissenslücke.
Indem es die Regeln seines Systems selbst mitgestalten kann, könnte sich ein stark emergentes Phänomen der Wissenschaft entziehen und vom Prinzip her unerklärbar bleiben
Vertreter dieser Anschauung nennen oft das menschliche Bewusstsein als Beispiel für starke Emergenz. Ein stark emergentes Bewusstsein würde zwar aus den Funktionen von Neuronen hervorgehen, ließe sich aber nicht vollständig darauf zurückführen – es könnte nämlich selbst verändern, wie diese Neuronen arbeiten.
Indem es die Regeln seines Systems selbst mitgestalten kann, könnte sich ein stark emergentes Phänomen der Wissenschaft entziehen und vom Prinzip her unerklärbar bleiben. Das würde eine Grenze dessen markieren, was Menschen verstehen können. Bislang lässt sich allerdings unmöglich beweisen, dass es solche für immer rätselhaften Phänomene gibt. Im Gegensatz zur empirisch erforschten schwachen Emergenz bleibt ihr starkes Gegenstück bisher eine umstrittene Idee.
Das große Rätsel im Kopf
Nach aktuellem Forschungsstand sind emergente Prozesse daran beteiligt, dass im Gehirn Bewusstsein entsteht. Dieses Phänomen wirft bis heute viele Fragen auf und lässt so Platz für spirituelle Interpretationen. Der Ansatz der philosophisch-theologischen Emergenz-Theorie lautet hierbei: Das Bewusstsein habe sich zwar durch Evolution gebildet, doch es lasse sich nicht vollständig aus biologischen Vorgängen erklären. Laut Priesemann widerspricht ein solches nicht entschlüsselbares Bewusstsein allerdings der Arbeitshypothese der Neurowissenschaften. Dort versuchen die Fachleute, komplexe kognitive Phänomene durch naturwissenschaftliche Prinzipien zu verstehen.
Glücklicherweise ist das Gehirn heute keine Blackbox mehr, sondern ein Paradebeispiel für ein komplexes System. Es ist ein dynamisches Netzwerk, in dem Milliarden einzelner Neurone miteinander verknüpft sind. Es verarbeitet unter anderem eine Vielzahl an visuellen Reizen. Alle Neurone agieren eigenständig und leiten nach einfachen elektrochemischen Regeln Signale weiter. Einzelne Neuronengruppen können sich dabei sehr spezialisieren und beispielsweise nur dann feuern, wenn ein ganz bestimmter Mensch zu sehen ist.
»Wie genau letztendlich aus relativ simplen Neuronen durch Emergenz am Ende komplexes Denken oder Bewusstsein entstehen könnte, daran beißt sich die Forschung aktuell die Zähne aus«Viola Priesemann, Physikerin
Im Zusammenspiel dieser Neurone treten emergente Phänomene auf, die verschiedene Ebenen kognitiver Funktionen ermöglichen. Menschen können ihre Umgebung wahrnehmen, sich erinnern, darauf basierend etwas entscheiden und aus den Folgen dieser Entscheidungen lernen. Auch wie das Gehirn lernt, lässt sich im Wesentlichen nachvollziehen: Neurone passen ihre Verbindungen untereinander immer weiter an. Doch wie diese Prozesse im Detail funktionieren und ineinander greifen, ist offen.
»Wie genau letztendlich aus relativ simplen Neuronen durch Emergenz am Ende komplexes Denken oder Bewusstsein entstehen könnte, daran beißt sich die Forschung aktuell die Zähne aus«, sagt Priesemann. Allerdings scheine das Denkorgan permanent Modelle der Welt zu erzeugen. »Wieso nicht auch davon, was es bedeutet, ein Subjekt in dieser Welt zu sein?«, fragt die Forscherin. Ist diese Fragestellung bereits ein Teil des Bewusstseins?
Selbst wenn man beweisen könne, dass das Bewusstsein im Menschen selbst entsteht, bliebe trotzdem ein kleiner, unerklärbarer Rest übrig, davon ist der Philosoph Thomas Metzinger überzeugt: Die subjektiven Erfahrungen einzelner Personen werden sich niemals objektiv beschreiben lassen.
Emergenz macht Karriere
Inzwischen haben viele Bereiche das Konzept der Emergenz übernommen. In den Wirtschaftswissenschaften beschreibt man damit Eigenschaften von Börsen und Märkten, in den Medienwissenschaften verschiedene Online-Phänomene. Softwaresysteme werden als emergent bezeichnet, wenn sie viele verschiedene Komponenten dynamisch miteinander verbinden, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz. In physiologischen Systemen heißt das räumliche Sehen aus dem Zusammenspiel zweier Augen emergent. Und blicken solche Augen tief ineinander, kann aus zwei Menschen mit individuellem Verhalten ein Paar mit völlig neuer Dynamik werden – ein beliebtes Beispiel für Emergenz in der Psychologie.
Auch jenseits der akademischen Welt kommt Emergenz in Mode: Im Emergenten Leadership werden Anführende nicht explizit gewählt, sondern gehen aus der Dynamik der Gruppe hervor. Emergente Coachings beziehen verschiedene Ebenen mit ein, um positive Veränderungen von innen heraus zu ermöglichen.
Neue Probleme für ein altes Phänomen
Die Debatte, ob Bewusstsein stark oder schwach emergent ist, hat durch die Entwicklung von künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren einen weiteren wichtigen Aspekt gewonnen. In der KI-Entwicklung werden künstliche neuronale Netzwerke durch maschinelles Lernen trainiert. Dort zeigen sich bereits schwach emergente Eigenschaften, die nicht explizit programmiert wurden. Zum Beispiel finden KI-Modelle selbstständig Lösungen, lernen aus Feedback oder treffen Entscheidungen. Einige Fachleute befürchten, dass in solchen Prozessen emergent so etwas wie ein Bewusstsein entstehen könnte, wodurch die KI selbst ihre eigene Entwicklung beeinflusst. Deshalb fordert Metzinger, keine Forschung zu fördern, bei der KI-Systeme irgendwann eine Form von künstlichem Bewusstsein entwickeln könnten.
Was Aristoteles wohl zu diesen Problemen moderner Technologien sagen würde? Vor 2300 Jahren beschäftigte sich der antike Gelehrte mit dem Thema, weil ihn die Rätsel der Natur faszinierten: das Wasser, die Fische, das Denken. Viele davon lassen sich inzwischen mit Emergenz erklären.
Das Phänomen Emergenz selbst bleibt dabei komplex. Es hat über die Jahrtausende eine eigene Dynamik entwickelt und verzweigt sich immer weiter. Seine Ströme mäandern durch eine vielfältige Wissenschaftslandschaft. Jedem einzelnen lässt sich folgen – doch beim Versuch, sie alle ins Bild zu bekommen, wird das Ergebnis unscharf. Denn allgemein betrachtet geht Emergenz über alle ihre Anwendungen hinaus. Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.