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Jahresrückblick: Von Zwergen, Schwaben und Bierbrauern

Archäologen und Anthropologen konnten auch im Jahr 2004 Spannendes zu Tage fördern. So stellten schwäbische Elfenbeinschnitzer und chinesische Bierbrauer ihre Künste unter Beweis. Doch besonders aufregend - aber auch besonders umstritten - dürften die indonesischen Zwerge sein.
<i>Homo floresiensis</i>
Anthropologen sind ein streitbares Volk – insbesondere wenn es um Menschen geht. Um die Bedeutung eines einzelnen gefundenen menschlichen Zähnchen, das einst friedlich über Jahrtausende in der Erde verborgen ruhte, wird erbittert gerungen. Was jedoch die Forscher um Peter Brown von der Universität von New England auf der indonesischen Insel Flores gefunden haben, birgt Sprengstoff für mehr als ein kleines anthropologisches Geplänkel: Frech behaupteten sie im Oktober, nichts anderes als die Überreste einer bisher unbekannten Menschen-Art geborgen zu haben und präsentierten damit ganz nebenbei die archäologische Sensation des Jahres. Homo floresiensis – so tauften sie den Neuen – soll noch vor 18 000 Jahren unter uns geweilt und so das Alleinstellungsmerkmal von Homo sapiens heftigst erschüttern haben.

Homo floresiensis und Homo sapiens | Homo floresiensis (links) heißt der Zwerg, der im Oktober 2004 für einigen Wirbel sorgte. Denn wenn sich bewahrheiten sollte, was australische und indonesische Anthropologen behaupten, dann ist der Mensch namens Homo sapiens (zum Größenvergleich rechts daneben) noch nicht lange allein: Nur 18 000 Jahre sollen die auf der Insel Flores gefundenen Überreste einer bisher unbekannten Menschenart sein, die sich vor allem durch ihre Kleinwüchsigkeit auszeichnet. Andere Forscher bleiben skeptisch und halten den Zwergenwuchs der Flores-Menschen lediglich für krankhafte Veränderungen. Die Anthropologenzunft streitet sich heftig – auch darum, wer die Knochen nun untersuchen darf.
Kein Wunder, dass sich manches Mitglied der Anthropologen-Zunft leicht verschnupft zeigte. "Alles Unsinn!", meint beispielsweise Browns indonesischer Kollege Teuku Jacob – und hat die umstrittenen Gebeine kurzerhand konfisziert. Er will nun nachweisen, dass der markante Zwergenwuchs der Flores-Menschen – sie erreichten wohl nur eine Körpergröße von einem Meter und hatten nur ein winziges Gehirn – nichts anderes als der Ausdruck krankhafter Veränderungen gewesen sei.

Doch auch sonst bargen fleißige Fossilsucher in diesem Jahr so manches Streitobjekt aus der Erde. So soll einer unserer äffischen Vorfahren namens Pierolapithecus catalaunicus ein waschechter Spanier gewesen sein – ein Katalane, um genau zu sein. Vor 13 Millionen Jahren hockte er nach Ansicht von Salvador Moyà-Solà auf katalanischen Bäumen und blickte in die hoffnungsvolle Zukunft der Menschenaffen, aus denen auch der Mensch hervorgehen sollte.

Alter Abfall

Nicht ganz so betagt, aber immer noch erstaunlich alt ist der Fund, von dem israelische Forscher im April berichteten. Sie fanden – Küchenabfälle, und dabei auch die Überreste eines Herdes, auf dem vor fast 800 000 Jahren gekocht wurde. Ältere Nachweise sind – wenn sie denn stimmen – für den Gebrauch des Feuers kaum bekannt.

Steinzeitflöte aus Mammutelfenbein | Die in der Geißenklösterle-Höhle auf der Schwäbischen Alb gefundene Flöte zählt wahrscheinlich zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt. Sie wurde vor mehr als 30 000 Jahren aus Mammutelfenbein geschnitzt.
Dass der Neandertaler das Feuer beherrschte, ist selbst unter den streitbarsten Anthropologen unumstritten. Ansonsten besteht jedoch noch nicht einmal über den Namen unseres Vetters – dessen Zähne übrigens im März aus dem Neanderthal-Museum kurz verschwanden – Einigkeit. Heißt er nun Homo neanderthalenis und beansprucht damit für sich einen eigenen Artstatus, oder kann er nur als Unterart Homo sapiens neanderthalensis firmieren? Genetische und morphologische Daten konnten ihn jedoch auch in diesem Jahr nicht zur Unterart degradieren.

Wer war's?

Über die künstlerischen Fertigkeiten des Neandertalers lässt sich ebenfalls trefflich streiten. Bisher galt als sicher, dass als Schöpfer der über 30 000 Jahre alten filigranen Elfenbeinkunst von der Schwäbischen Alb – die im Dezember mit einer Flöte bereichert werden konnte –, nur der anatomisch modernen Mensch in Frage kommt. Der Tübinger Archäologe Nicholas Conard konnte jedoch im Juli einen Beweis für diese Urheberschaft gnadenlos vernichten: Menschliche Skelettüberreste, die in unmittelbarer Nähe der Schnitzereien gefunden worden waren und eindeutig zu Homo sapiens zählen, waren dummerweise falsch datiert: Statt 30 000 Jahre schlummerten sie nur 5000 Jahre unter der Erde und scheiden somit als Elfenbeinschnitzer aus. Damit könnten sich zumindest theoretisch auch Neandertaler als Schwabenkünstler versucht haben – was andere Forscher wiederum strikt ablehnen.

Perforierte Reusenschnecken | Die perforierten Schalen der Reusenschnecke Nassarius kraussianus aus der südafrikanischen Blombos-Höhle sind mit einem Alter von 75 000 Jahren vermutlich die ältesten Perlen der Menschheitsgeschichte.
Christopher Henshilwood von der Universität Bergen kann vermutlich über den Schwabenstreit nur milde lächeln. Was sind schon 30 000 Jahre? Seine südafrikanischen "Kunstwerke", die er im April vorstellte – es handelte sich um durchbohrte Schneckenhäuser – sind mit 75 000 Jahren locker doppelt so alt. Er ist überzeugt, damit eines der ältesten Nachweise für Schmuck und Geschmeide in den Händen zu halten. Nicht nur die anatomische, sondern auch die kulturelle Wiege der Menschheit stand seiner Meinung nach in Afrika.

Himmelsscheibe von Nebra | Die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra galt als archäologische Sensation des Jahres 2002. Seit Oktober 2004 ist sie im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle zu bewundern.
Doch zurück nach Deutschland, wo nicht nur im Schwabenländle außergewöhnliche prähistorische Kultobjekte auftauchten. Die archäologische Sensation des Jahres 2002 kann seit dem 15. Oktober 2004 von der Öffentlichkeit bestaunt werden: Frisch restauriert, präsentiert das Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte den "geschmiedeten Himmel". Dass die Echtheit der 3600 Jahre alten Himmelsscheibe von Nebra von manchen Archäologen angezweifelt wird, was sogar zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führte, überrascht wenig.

Juristische Konsequenzen wird wohl auch der Fall Reiner Protsch von Zieten nach sich ziehen. Im August sah sich der Frankfurter Anthropologe, der bereits seit April vom Dienst suspendiert ist, dem Verdacht ausgesetzt, massenhaft Schädeldatierungen gefälscht zu haben – und zeigte damit die Schattenseiten seines Fachs.

Berühmte Leichen

Streitereien vor Gericht enden heutzutage zum Glück meist unblutig – blutrünstiger ging es dagegen im prähistorischen Mexiko zu. So entdeckte ein japanisch-mexikanisches Team in der berühmten Mondpyramide von Teotihuacan eine Grundsteinlegung besonderer Art: zwölf menschliche Skelette. Überhaupt schienen die Mexikaner mit dem Aufblühen der indianischen Hochkulturen Gefallen an rituellen Menschenopfern gefunden zu haben, wie amerikanische Archäologen im Dezember schilderten.

Mumie einer Katze | Im Ägypten des Altertums verwandelten sich Millionen von Vögeln, Reptilien und Säugetieren – insbesondere Katzen – zu Mumien.
Die Hochkultur der Ägypter ist ebenfalls für ihre Leichen berühmt, trieben sie doch deren Konservierung bis zur Perfektion. Auch an Tieren erprobten sie ihre Künste: Im Januar beschrieben französische Archäologen das erste mumifizierte ägyptische Löwenskelett, und im Dezember zeigten britische Kollegen, dass die alten Ägypter beim Einbalsamieren ihrer tierischen Hausgenossen ebenso wenig Aufwand scheuten wie bei ihren menschlichen Herrschern. Die älteste Grabstätte eines Haustieres stammt übrigens nicht aus Ägypten, sondern aus Zypern: ein 9500 Jahre altes Katzengrab.

Brad Pitt in Aktion | Brad Pitt als rasender Achill in Aktion
Nicht nur für Tierzucht, auch für pflanzliche Produkte interessieren sich Archäologen: In Israel tauchten 23 000 Jahre alte Fladenbrote auf, und sowohl die Peruaner als auch die Chinesen bewiesen ihre uralten Erfahrungen als Bierbrauer. Überhaupt zeigte sich China in diesem Jahr als Heimat gewiefter Tüftler: mit einer fast 2000 Jahre alten Multiplikationstafel und einer über 2500 Jahre alten Rillenritzmaschine.

Damit erwies sich die Archäologie auch in diesem Jahr wieder als spannendes Fach, das natürlich Hollywood ebenfalls für sich entdeckt hat: Im Mai durften wir auf der Leinwand die Metzelein von Achill und Hektor vor den Toren Troias bewundern, und Alexanders Schlachten werden uns ins neue Jahr begleiten. Über den historischen Wahrheitsgehalt derartiger Filmepen lässt sich natürlich streiten.

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