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Hirnforschung: Vorhersehbare Vergesslichkeit

Gerade erst vernommen - und schon wieder weg: Unser Gedächtnis spielt uns tagtäglich seine Streiche. Warum vergessen wir Namen, Telefonnummern oder Vokabeln? Fehlte den kleinen grauen Zellen vielleicht die richtige Einstellung?
EEG
Wie war noch mal die Telefonnummer von Herrn ..., ja, wie hieß er denn gleich? Sicherlich kennen Sie das: Erst vor einer Stunde haben Sie Name und Telefonnummer erfahren – doch die Information hat wohl nicht ihren Weg ins Langzeitgedächtnis gefunden. Während wir uns an manches Ereignis noch nach Jahren erinnern, bleibt frisch gelerntes Wissen oft bald verschollen. Doch warum versagt unser Gedächtnis immer wieder seinen Dienst?

Bisher gingen Hirnforscher davon aus, dass vor allem Ereignisse, die während und nach der zu speichernden Information auf unsere grauen Zellen einstürmen, das Gedächtnis beeinflussen. Doch wie sieht es mit Geschehnissen unmittelbar davor aus? Wirken sie sich auf die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses aus? Lässt sich messen und damit voraussagen, wie gut wir uns etwas merken können?

Genau das versuchten Leun Otten und ihre Kollegen vom University College London. Hierfür konfrontierten die Forscher ihre Versuchspersonen mit immer neuen Wörtern, die alle vier bis fünf Sekunden auf einem Bildschirm erschienen.
"Es klingt wie Hellsehen: Wir können voraussagen, ob sich jemand an ein Wort wird erinnern können, bevor er es überhaupt gesehen hat"
(Leun Otten)
Die Probanden ahnten dabei nicht, dass ihr Gedächtnis geprüft werden sollte. Ihre Aufgabe bestand vielmehr darin zu entscheiden, ob der gerade gelesene Begriff etwas Lebendiges repräsentierte – die Bedeutung des Worts war also gefragt –, oder schlicht anzugeben, ob der erste und der letzte Buchstabe des Worts in alphabetischer Reihenfolge erschien – also auf die Orthografie zu achten. Welche Aufgabe anstand – Bedeutungsanalyse oder Rechtschreibung – zeigte ein kleines Symbol auf dem Bildschirm wenige Sekunde zuvor an.

Knapp zwanzig Minuten später kam dann der Test: Die Probanden sollten entscheiden, ob sie sich an die erneut gezeigten Wörter erinnern konnten. Wie zu erwarten, taten sie das vor allem dann, wenn sie sich zuvor auf die Bedeutung der gelernten Vokabeln konzentriert hatten.

Interessant wurde es, als die Forscher die Hirnströme ihrer Versuchspersonen analysierten, die sie während des Experiments per Elektroencephalogramm (EEG) aufgezeichnet hatten. Im Gegensatz zur beliebten funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) erreichen EEG-Messungen zwar längst nicht die räumliche Auflösung, können jedoch Veränderungen in der Hirnaktivität innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde erfassen.

Und hier tat sich einiges: Sobald die Versuchspersonen erkannt hatten, dass sie sich auf die Wortbedeutung zu konzentrieren hatten, regten sich die Bereiche des Großhirns unterhalb der Stirn – in denen das bewusste Denken lokalisiert wird. Je besser sich die Versuchspersonen später an die Begriffe erinnern konnten, desto stärker erschienen zuvor die nur wenige Millisekunden andauernden, so genannten ereigniskorrelierten Potenziale (EKPs).

"Es klingt ein wenig wie Hellsehen, aber wir können tatsächlich voraussagen, ob sich jemand an ein Wort wird erinnern können, bevor er es überhaupt gesehen hat", erläutert Otten. "Wissenschaftler wussten bereits, dass sich die Hirnaktivität verändert, wenn das Gedächtnis etwas speichert. Aber jetzt haben wir eine Hirnaktivität gefunden, mit der sich vorhersehen lässt, wie gut das Gedächtnis in Zukunft arbeiten wird."

Unser Gehirn scheint sich demnach wenige Sekunden, bevor es eine neue Information verarbeitet, darauf vorzubereiten.
"Versuchen Sie, das Geschriebene zu verstehen"
(Leun Otten)
Bestätigt wird diese Annahme durch ein zweites Experiment: Hier sollten sich die Versuchspersonen immer auf die Bedeutung der Wörter konzentrieren, die sie allerdings mal zu lesen, mal zu hören bekamen. Dabei traten die negativen EKPs – die eine gute Gedächtnisleistung ankündigten – nur bei den zu lesenden Begriffen auf. Wie die Forscher vermuten, dauert das Umschalten des Eingangskanal vom Ohr zum Auge für das Gehirn schlicht zu lange, um sich sofort auf einen zu lernenden Begriff einzustellen.

"Wir möchten gerne wissen, welche Hirnregionen bei dieser Vorbereitung beteiligt sind", meint Otten. Ergänzende fMRT-Studien sollen diese Frage beantworten. Doch bereits jetzt kann die Hirnforscherin Schülern, Studenten und allen anderen Lernwilligen einen wichtigen Rat geben – nämlich über die Dinge nachzudenken, statt sie stupide auswendig zu lernen: "Versuchen Sie, das Geschriebene zu verstehen und nicht einfach herzubeten!"

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