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Psychotherapie: Heilen mit VR-Brille

VR-Therapie wirkt – vor allem gegen Angst, Sucht und Posttraumatische Belastungsstörung. Doch auch bei anderen seelischen Problemen könnten die virtuellen Welten ein fester Bestandteil moderner Psychotherapie werden.
Eine Person trägt ein Virtual-Reality-Headset und interagiert mit einer digitalen Benutzeroberfläche. Der Hintergrund ist in Blau- und Orangetönen gehalten, und leuchtende Zahlen oder Buchstaben sind sichtbar. Die Person zeigt mit dem Finger auf etwas in der virtuellen Umgebung, was auf eine immersive Erfahrung hinweist.
Virtual-Reality-Therapie (VRET) ermöglicht via VR-Brille eine realitätsnahe Begegnung – etwa mit angstauslösenden und traumatischen Erlebnissen. Durch die wiederholte Exposition wird die Furcht mit der Zeit nachweislich weniger.

Der Raum macht auf mich einen etwas heruntergekommenen Eindruck. An den Wänden befinden sich Filzstift-Kritzeleien wie in einer Bahnhofstoilette. »FCK NZS« steht da zum Beispiel. Sieben Personen hätten Platz, sagt ein Schild. Dann schließt die Tür automatisch. Nervös werde ich nicht. Nächstes Szenario: Ich stehe auf einer Wendeltreppe an der Außenwand einer ehemaligen Fabrik, der Himmel ist bedeckt. Ich schaue nach unten, vom Boden trennen mich schätzungsweise mindestens zehn Meter. Und erneut bleibe ich ruhig. 

Die beiden Erfahrungen machte ich nicht im echten Leben. Vielmehr war ich zu Besuch in der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz für Erwachsene in Heidelberg und trug eine VR-Brille – VR steht für Virtual Reality. Die leitende Psychotherapeutin Christina Timm erklärt mir, dass man solche Szenarien hier künftig nutzen werde, um Patientinnen und Patienten mit ihren Phobien zu konfrontieren – und zwar schrittweise und kontrolliert. Durch die wiederholte Exposition und das Aushalten der Angst wird die Furcht mit der Zeit nachweislich weniger.

Manche Menschen ängstigen sich beispielsweise außergewöhnlich stark vor engen, geschlossenen Räumen, im Fachjargon heißt das Klaustrophobie. Es kann sein, dass sie in Panik geraten, sobald sie in einem Aufzug stehen und sich seine Türen schließen. Diese Situation erlebte ich im ersten VR-Szenario. Im zweiten stand ich auf der Fluchttreppe an der Außenwand des Gebäudes, in dem sich die Ambulanz befindet – eine virtuelle Umgebung für Menschen mit Höhenangst. Aufgezeichnet hat die Videos der Techniker des Instituts, Olaf Papendieck, mit einer 3-D-Kamera. In einem weiteren seiner Filme wähnt man sich in einem Fahrstuhl, in dem nur noch fünf Personen Platz finden, es ist also enger. Das entspreche einem höheren Schwierigkeitsgrad der Exposition, erklären Papendieck und Timm. Sie können sich vorstellen, die Anforderungen noch weiter zu steigern – etwa durch ein dreidimensionales Video, in dem man durch eine enge Röhre krabbelt. Da ich mich weder vor Enge noch vor Höhe fürchte, konnte ich beide Demonstrationen relativ entspannt über mich ergehen lassen. Doch das sollte sich noch ändern.

Die Virtual-Reality-Expositionstherapie (VRET) ist die am häufigsten eingesetzte psychotherapeutische Intervention mit VR. Die Klienten tragen dabei eine Virtual-Reality-Brille, mit der sie in eine computergestützte dreidimensionale Welt eintauchen. Der Therapeut oder die Therapeutin verfolgt die virtuelle Situation derweil auf einem Bildschirm und leitet die betreffende Person an. Bei fortgeschrittenen Systemen kann der oder die Behandelnde sogar in Echtzeit in das virtuelle Geschehen eingreifen und die Situation entsprechend den Bedürfnissen des Patienten anpassen.

Inzwischen gibt es ausreichend Belege dafür, dass die VRET bei Angststörungen hilft – etwa bei spezifischen Phobien und sozialen Ängsten. Einer Literaturanalyse von 2025 zufolge ist sie dabei ähnlich effektiv wie eine reale Exposition. Allerdings ist die Anzahl der Studien laut den Autoren noch zu gering, um abschließend zu beurteilen, welcher Ansatz in welchen Fällen besser geeignet ist. Angesichts der Studienlage empfehlen die S3-Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen die VR-Therapie konkret bei spezifischen Phobien – vor allem dann, wenn eine Konfrontation »im echten Leben« aus Zeit- oder Kostengründen nicht praktikabel ist. Zu sozialer Phobie heißt es: Die VR-Exposition kann angeboten werden, dann aber nur in Begleitung mit einer Standardpsychotherapie.

Die Johannesbad Fachklinik Hochsauerland war eine der ersten Einrichtungen in Deutschland, die VR für psychotherapeutische Zwecke einsetzte. »Herkömmliche Expositionen binden sehr viele Ressourcen, sie sind aber der wirksamste therapeutische Ansatz bei einer Angsterkrankung«, sagt Sabrina Perick, die stellvertretende klinisch-psychologische Leiterin. Deshalb habe man sich vor fünf Jahren dazu entschieden, die VR-Brillen anzuschaffen. »Für die Betroffenen ist die Schwelle sehr hoch, sich der angstauslösenden Situation zu stellen, aber im Virtuellen fällt vielen der erste Schritt etwas leichter.«

Nebenwirkungen der virtuellen Welt

Das Eintauchen in eine virtuelle Welt kann auch Nebenwirkungen haben. Bei manchen Menschen tritt eine Cybersickness auf, die sich vorübergehend in Übelkeit und Schwindel äußert. Sie ähnelt der Reisekrankheit, bei der es ebenfalls zu einem Konflikt zwischen zwei Sinneskanälen kommt: Wir sehen etwas anderes, als unser Gleichgewichtssinn meldet. Weitere mögliche Effekte sind die Depersonalisierung und die Derealisierung, wie anekdotenhaft immer mal wieder in Gaming-Foren berichtet wird. Während Ersteres eine Entfremdung gegenüber dem eigenen Selbst beschreibt, kommt es bei Zweiterem zu einem Gefühl der Unwirklichkeit oder Losgelöstheit von der Realität. 2022 hat ein Team um Niclas Braun von der Universität Bonn das Phänomen systematisch untersucht. Die Studie ergab, dass sowohl VR- als auch normales Computer-Gaming kurzfristig solche Symptome auslösen können – der Effekt war bei VR jedoch signifikant stärker.

Die Klinik arbeitet mit einem kommerziellen VR-Therapie-Dienstleister zusammen: »Man kann einerseits auf eine Bibliothek mit Szenarien zurückgreifen, andererseits auch maßgeschneiderte Umgebungen erstellen lassen«, berichtet Perick. Neben engen Räumen oder schwindelerregenden Höhen gibt es etwa Aufnahmen von Spinnen oder dem Inneren eines Flugzeugs. Außerdem wurden Situationen nachgestellt, in denen man in einem Seminarraum vor einer Gruppe steht. Gedacht sind sie für Menschen mit sozialer Phobie, die sich unter anderem vor fremden Blicken und Bewertungen fürchten. »Man wird aktiv von den Personen angeschaut. Allein das auszuhalten, ist der erste Schritt«, erklärt die Psychologin.

Mitunter sind die Ängste aber so speziell, dass individuell angepasste virtuelle Umgebungen nötig sind. »Wir hatten zum Beispiel mal einen Kraftfahrer, der sich nach einem Unfall vor dem Fahren fürchtete. Der Dienstleister hat dann eigens dreidimensionale Videos aus der Fahrerkabine eines Lkws aufgenommen«, sagt Perick. In Heidelberg geht man grundsätzlich nur diesen Weg. »Wir haben uns bewusst dafür entschieden, eigene Szenarien zu kreieren«, erzählt Christina Timm. Das sei zwar aufwändiger, aber passgenauer. »Ich kann mir außerdem vorstellen, dass wir mit unseren Patienten angstauslösende Situationen im realen Leben aufsuchen und diese gleichzeitig mit einer 3-D-Kamera filmen«, sagt Timm. Im Nachhinein lässt sich die Situation beliebig oft im virtuellen Raum ansehen und die Angst dabei schrittweise abbauen. »Wir wollen also reale und virtuelle Expositionen kombinieren.«

»Wir wollen reale und virtuelle Expositionen kombinieren«Christina Timm, Psychologin

In der Fachklinik Hochsauerland hat man mit der VRET fast ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Anfangs gebe es zwar manchmal Berührungsängste mit der Technik, sagt Perick. »Ich habe aber selten jemanden erlebt, der nach der VR-Therapie behauptete, es habe ihm nicht geholfen.« Jetzt möchte man die Methode auch auf andere Störungsbilder ausweiten – im Fokus stehen hier besonders die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie Suchterkrankungen.

Dass eine virtuelle Therapie hier und in anderen Fällen helfen kann, legen inzwischen einige Studien nahe. Ein Team um Niclas Braun von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn unter Leitung von Alexandra Philipsen fand in seiner systematischen Übersichtsarbeit Hinweise für eine Wirksamkeit vor allem bei Angststörungen, PTBS und diversen Süchten, aber auch für kognitives VR-Training bei Demenz sowie für Sozialkompetenztraining bei Autismus-Spektrum-Störungen. Eines der neuesten Reviews aus der Fachzeitschrift »Nature« listet außerdem Depressionen, Essstörungen und Psychosen auf. Bei Letzteren setzt man die Betroffenen in der virtuellen Welt sozialen Situationen aus und ermutigt sie, ihre Fehlannahmen über andere zu korrigieren. Menschen mit Paranoia lernen so allmählich: »Andere Personen sind nicht bedrohlich.« Mithilfe der sogenannten AVATAR-Therapie wiederum will man unter anderem akustische Halluzinationen behandeln, die ebenfalls häufig bei einer Psychose auftreten. Die Patienten kreieren hierbei eine virtuelle Abbildung ihrer inneren Stimme und können dann mit ihr ins Gespräch kommen.

Traumatisches erneut durchleben

Menschen mit PTBS tauchen in eine virtuelle Umgebung ein, die ihrer traumatischen Erfahrung sehr nahe kommt. Währenddessen schildern sie der oder dem Behandelnden das Geschehen so, als würden sie es erneut erleben, einschließlich der damit verbundenen Gedanken, Emotionen und Sinneseindrücke. Dieses Vorgehen ähnelt der Standardtherapie bei PTBS, der imaginären Exposition. Ähnlich wie bei Angsterkrankungen führt auch hier die wiederholte Konfrontation dazu, dass die Furcht und die Stressreaktionen allmählich abnehmen.

Traumatische Erlebnisse, die eine PTBS auslösen, können etwa Kriegserfahrungen, Unfälle, Anschläge oder sexuelle Übergriffe sein. In den USA kommt die VR-Therapie bei ehemaligen Soldaten bereits häufig zum Einsatz. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist der klinische Psychologe Albert »Skip« Rizzo, Direktor für Medical Virtual Reality an der University of Southern California. In einem Podcast-Interview der American Psychological Association berichtete er 2015, wie die Entwicklung ab 2003 Fahrt aufgenommen habe. Zu jener Zeit kehrten immer mehr traumatisierte Irak-Veteranen in die USA zurück. Das Militär suchte daher nach neuartigen Therapien, um den Betroffenen den Zugang zu einer Behandlung zu erleichtern. Mit Virtual Reality war das Militär schon damals gut vertraut, denn es nutzte die Technik zu Ausbildungszwecken. Gleichzeitig gab es erste Studien, die vielversprechende klinische Ergebnisse lieferten. Daraufhin finanzierte das US-Militär einen Großteil der Grundlagenforschung für VR-Anwendungen im therapeutischen Kontext.

Ein Markt in Afghanistan, Stimmen in fremder Sprache, tief am Himmel fliegen Helikopter. Dann eine Explosion. Panik macht sich breit, Menschen schreien, ein Baby weint. Auf der anderen Straßenseite brennt ein Auto, zwei Verletzte liegen auf dem Boden. Dieses Szenario stammt aus »BraveMind«, einer VR-Anwendung, die das Team um Rizzo entworfen hat. Anhand des Feedbacks von Klinikern und Patienten habe man sie schrittweise weiterentwickelt, erklärt der Psychologe. Die Simulationen sind dabei nicht nur visuell realistisch, sondern enthalten auch echte Geräusche. Selbst Gerüche von Diesel, verrottendem Müll oder brennendem Gummi lassen sich hinzufügen. Indem die Patienten beispielsweise eine Maschinengewehr-Attrappe in der Hand halten, während sie durch die virtuellen Straßen patrouillieren, erfahren sie zusätzlich taktile Reize. Die Veteranen werden so gezielt an ihr individuelles Trauma herangeführt – etwa an die Detonation einer Autobombe in Afghanistan wie oben beschrieben.

Mittlerweile hat Rizzos Team die Anwendungen auch auf zivile Situationen übertragen: für Terroropfer oder Unfallbeteiligte sowie Polizisten oder Feuerwehrleute. Studien belegen, dass VR-basierte Verfahren bei PTBS genauso gut wirken können wie klassische Behandlungsansätze – teils sogar besser, etwa bei Menschen mit gleichzeitiger schwerer Depression. Die meisten Betroffenen bevorzugen sogar die VRET gegenüber der bloßen Vorstellung. Und selbst eigentlich therapieresistente Patienten sprechen mitunter darauf an.

Auch zur bloßen Entspannung lässt man die Betroffenen in die virtuelle Welt eintauchen: »Menschen mit PTBS sind oftmals sehr wachsam und angespannt, weil sie sich ständig bedroht fühlen«, erklärt Sabrina Perick. Das kann zu einer Vielzahl an Problemen führen, darunter Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und eine erhöhte Reizbarkeit. »Mit VR können wir einen sicheren Raum schaffen, etwa eine Waldlichtung, wo die Patienten dann üben können, sich zu entspannen.«

Virtueller Waldbesuch

Ein ähnliches Setting testete eine Arbeitsgruppe an der Charité Universitätsmedizin in Berlin unter Leitung der Ärztin und Wissenschaftlerin Alva Franziska Lütt. »Man weiß, dass Naturerfahrungen heilsam sind«, erklärt sie und berichtet dann von einer kürzlich abgeschlossenen, noch unveröffentlichten Studie. Darin hat das Team Personen mit einer Depression oder einer Psychose in einen virtuellen Regenwald versetzt. »Menschen haben heutzutage immer weniger Kontakt mit der Natur – und wenn sie gerade in akuter psychiatrischer Behandlung sind, fast gar nicht mehr, obwohl das gerade dann wichtig wäre.« Die VR-Wälder seien gut angekommen, so Lütt – und vieles deute darauf hin, dass sich die Sitzungen positiv auf den psychischen Zustand der Erkrankten auswirkten.

Tatsächlich gibt es bereits einige Untersuchungen dazu. Eine 2018 erschienene Übersichtsarbeit attestierte dem virtuellen Waldbesuch positive Effekte auf das körperliche und mentale Wohlbefinden – wobei die reale Natur der virtuellen vorzuziehen sei, wie die Autoren betonen. Zudem senken die simulierten Landschaften laut einer Metaanalyse von 18 relevanten Studien den Stresspegel.

In einer Pilotstudie testete Simon Riches vom King's College London VR in der psychiatrischen Akutversorgung. 42 Probandinnen und Probanden mit einer Psychose, Persönlichkeits- oder Angststörung erlebten jeweils eine entspannende VR-Sitzung, die eine halbe Stunde oder etwas länger andauerte. Dabei sahen sie zum Beispiel eine Unterwasserwelt oder fanden sich umgeben von einer idyllischen Bergkulisse wieder. Die Teilnehmenden beschrieben die Erfahrungen im Nachhinein als »angenehm, entspannend und hilfreich«. Auf der Station sanken in den zwölf Wochen danach gewalttätige Vorfälle um die Hälfte im Vergleich zu den zwölf Wochen davor. Für Alva Lütt sind das »sehr vielversprechende Ergebnisse«.

»Ich bin immer wieder selbst überrascht, wie stark die Wirkung von VR-Szenarien ist«Alva Lütt, Medizinerin

Schon etwas weiter ist der Einsatz von VR bei Substanzabhängigkeiten. Denn auch im Virtuellen lässt sich ein Verlangen (Craving) nach Drogen erzeugen – nachgewiesen wurde das insbesondere für Alkohol, Nikotin und Methamphetamine, wie eine Literaturrecherche von Alva Lütt und zwei ihrer Kollegen 2023 ergeben hat. Es ist bekannt, dass das Craving eine wesentliche Rolle bei Rückfällen spielt. Eine therapeutische Strategie konfrontiert die Suchterkrankten daher wiederholt mit »ihrer« Droge, damit sie lernen, anders als bisher darauf zu reagieren. Bloß ist etwa ein Glas Wein – oder sogar nur ein Foto davon – in einem Therapieraum weit entfernt von einer lebensechten Situation. Hier kann eine virtuelle Welt viel realistischer sein. Allerdings fehlt es noch an randomisierten Untersuchungen, die die Wirksamkeit, Langzeiteffekte und Kosten im Vergleich zu herkömmlichen Therapien untersuchen.

Lütts Team arbeitet daran, dies zu ändern. Im Rahmen eines geförderten Projekts unter der Leitung von Stefan Gutwinski von der Berliner Charité und gemeinsam mit einem Startup hat die Ärztin VR-Expositionen für alkoholabhängige Menschen entwickelt: Es dämmert. Man läuft durch die Gassen. Dann taucht eine Trinkstube auf. »Roter Rabe« steht auf dem leuchtenden Schild, daneben zwei gefüllte Bierkrüge. Durchs Fenster kann man die Theke sehen. Man tritt ein. Andere Gäste trinken Bier, eine Zigarette qualmt im Aschenbecher vor sich hin. »Wir haben bislang zwei verschiedene Bars und ein Wohnzimmer als VR-Umgebungen«, erzählt Lütt (siehe »Verlangen nach einem simulierten Bier«). »Alle sind mit Alkoholreizen ausgestattet, die personalisiert werden können.« Im Vorfeld der Sitzung lässt sich zum Beispiel das Lieblingsgetränk platzieren. »Wir denken, dass die Exposition dadurch wirkungsvoller wird«, sagt Lütt. Auf einem Bildschirm kann sie mitverfolgen, was der Patient oder die Patientin sieht, wohin er oder sie schaut. »Wenn ich merke, dass es der Person nicht gut geht, dann sehe ich, was sie gerade wahrnimmt, und kann sie bei dieser Erfahrung begleiten«, erklärt Lütt das Vorgehen.

Verlangen nach einem simulierten Bier | Zu sehen sind die virtuelle Bar (links) und das simulierte Wohnzimmer (Mitte), welche von einem Team der Charité – Universitätsmedizin Berlin gemeinsam mit einem Startup entwickelt wurden. Zwischen den Getränken auf dem Wohnzimmertisch kann der Proband im Vorfeld auswählen. Ein virtueller Barkeeper serviert den entsprechenden Drink (rechts).

»Das subjektive Verlangen war in einer Pilotstudie von 2024 während und unmittelbar nach der VR-Sitzung höher als direkt davor«, sagt Lütt. Solche Ergebnisse sind aber häufig verzerrt, weil Menschen eher solche Antworten geben, von denen sie denken, dass man sie von ihnen erwartet. In einer laufenden Studie mit 60 Patienten untersucht die Arbeitsgruppe daher das Ausmaß des Cravings möglichst objektiv. »Wir bestimmen physiologische Parameter, darunter zum Beispiel Hautleitfähigkeit, Herzrate, Herzratenvariabilität, Pupillenreaktion und Atemfrequenz während der VR-Exposition.« So lässt sich auch herausfinden, welche Reize die größten Risikofaktoren für die jeweiligen Betroffenen darstellen – etwa Bier, Wein, ein anderes Getränk oder gar die Bar selbst.

»In einer Therapiesitzung würde man die Person dann exakt diesen Reizen aussetzen, damit sich ihr Körper und ihre Psyche daran gewöhnen. Und man kann ihr kognitive Strategien für solche kritischen Situationen an die Hand geben«, sagt Lütt. Das bisherige Feedback der Teilnehmenden sei durchweg positiv. Um das Erlebnis noch realistischer zu gestalten, will das Team neben dem Visuellen und dem Auditiven weitere Reizebenen einbauen – also Gerüche und Haptik. Lütt sieht jedenfalls großes Potenzial in den VR-Anwendungen bei Süchten: »Ich bin überzeugt, dass sie bisherige Behandlungsstrategien wirkungsvoll ergänzen können.«

VR als Diagnosehilfe

Ein noch relativ junges Forschungsfeld ist der Einsatz von VR bei ADHS. Die Störung kann sich sehr unterschiedlich äußern, und es gibt bisher keinen ausreichend verlässlichen Biomarker, der sich zur Diagnostik nutzen lässt. Der Leiter der Arbeitsgruppe »Virtual Reality Therapy and Medical Technology« am Universitätsklinikum Bonn, Niclas Braun, versucht daher mit Hilfe von virtuellen Umgebungen ADHS besser zu charakterisieren: Ein Seminarraum. Man sitzt in der letzten Reihe. Vorne an der Leinwand wird eine Aufgabe gezeigt, die es zu bearbeiten gilt. Gleichzeitig geschehen verschiedene Dinge, die einen ablenken: Jemand öffnet die Tür, ein Handy klingelt, und plötzlich knallt ein Vogel gegen die Scheibe. 

»Mit diesem Setting untersuchen wir, ob sich Betroffene anders verhalten als neurotypische Personen«, erklärt der Psychotherapeut. Also: Lassen sie sich leichter ablenken? Wohin fallen ihre Blicke? Wie beeinflusst das ihre Konzentration und Impulsivität? Dazu messen die Fachleute nicht nur, wie die Teilnehmenden bei den Aufgaben abschneiden, sondern untersuchen auch ihre Blickrichtung und Kopfbewegungen. Zusätzlich ermitteln sie die Aktivität bestimmter Hirnbereiche. »Die Idee ist zunächst, genauer herauszufinden, was eigentlich das Problem von Menschen mit ADHS in solchen Situationen ist«, erklärt Niclas Braun. Er und sein Team entdeckten mit der Methode bereits, dass Personen mit ADHS, die keine Medikamente dagegen nehmen, mehr Fehler in den gezeigten Aufgaben machen, häufiger den Kopf bewegen, variablere Reaktionszeiten aufweisen und sich schneller ablenken lassen als gesunde Freiwillige.

Auch konnten Braun und seine Kollegen mithilfe von maschinellem Lernen mit einer Genauigkeit von rund 80 Prozent vorhersagen, ob eine Person ADHS hat oder gesund ist. »Unsere Methode könnte perspektivisch helfen, die Störung besser zu charakterisieren und sie von anderen Störungen besser abzugrenzen.«

Im virtuellen Seminarraum | In A ist der simulierte 3-D-Seminarraum aus Sicht derjenigen Person (B) zu sehen, die die VR-Brille trägt und sich im VR-Labor des Uniklinikums Bonn befindet. Auf der Leinwand werden Leistungstests eingeblendet. Hin und wieder erscheint ein Ablenkungsreiz, zum Beispiel: Ein Avatar im Vordergrund steht auf und geht zu einem Schrank, wodurch er die Aufmerksamkeit des Teilnehmenden auf sich zieht (visualisiert durch den pinken Blickvektor in C). Immer, wenn der Proband seinen Blick länger als zwei Sekunden von der Leinwand abwendet oder ihn mindestens 0,5 Sekunden lang auf den ablenkenden Reiz richtet, wird automatisch eine audiovisuelle Rückmeldung abgespielt (schwarze Einblendung sowie Soundeffekt, D).

In einer noch nicht publizierten Arbeit untersuchte das Team um Braun zudem, ob man mit einem ähnlichen VR-Szenario zwischen Personen mit ADHS und solchen mit Depressionen differenzieren kann. »Beide Gruppen leiden nämlich häufig unter ähnlichen kognitiven Defiziten«, sagt der Psychologe. Er will nun den neuropsychologischen Test im virtuellen Seminarraum weiterentwickeln, um ihn irgendwann in der regulären Patientenversorgung zu verwenden. »Man könnte damit ADHS genauer charakterisieren und auch Verlaufsmessungen machen – also zum Beispiel überprüfen, ob ein Medikament die Aufmerksamkeit verbessert.«

Ideen zur Behandlung gibt es ebenfalls: »Wir haben in Echtzeit das Blickverhalten der Probanden gemessen und ihnen Rückmeldung gegeben, sobald sie von der Aufgabe abschweiften«, sagt Braun. Auf diese Weise sollen sie darin geschult werden, selbst zu bemerken, wann ihre Aufmerksamkeit nachlässt. »In der Studie gab es allerdings nur eine einzige Trainingssitzung, was nicht ausreichte, um einen Effekt zu sehen.« Niclas Braun hofft, dass sich das durch mehrere Sitzungen ändern könnte.

Zurück in die Psychotherapeutische Hochschulambulanz in Heidelberg: Ich stehe erneut in einem Aufzug, drücke einen Knopf an der Wand. Es geht nach oben. Die Tür öffnet sich. Vor mir Wolkenkratzer, ein Hubschrauber fliegt vorbei und ein tiefer Abgrund tut sich auf. Ich soll eine schmale Planke entlanglaufen, die aus dem Aufzug führt. Obwohl ich weiß, dass nichts davon real ist, wird mir mulmig zumute. Ich balanciere bis zum Ende der Planke, stoppe. Weiter? Nein, sagt etwas in mir. Auf keinen Fall! Ich muss mich zwingen, die Planke tatsächlich zu verlassen. Ich falle – und lande wohlbehalten und erleichtert auf dem virtuellen Asphalt der simulierten Großstadt. 

Dieses letzte Szenario, das ich ausprobierte, dient nicht der Konfrontation mit Höhenangst – es wäre zu extrem. Vielmehr zeigt es Nichtbetroffenen, wie unglaublich real sich eine Angst in einer virtuellen Welt anfühlen kann. »Ich bin immer wieder selbst überrascht, wie stark die Wirkung von VR-Szenarien ist«, sagt Alva Lütt. »Obwohl man rational weiß, okay, es ist nicht echt, fühlt sich alles sehr real an. Und entsprechend reagiert der Körper darauf.« Oder wie Rizzo es gegenüber ABCNews formuliert: »Was ich von VR gelernt habe, ist, dass sich das Gehirn sehr leicht täuschen lässt. Man ist in der Geschichte, man ist in der Welt.« Ich kann das nun bestätigen – und viele Patientinnen und Patienten, die die VR-Therapie ausprobiert haben, wohl auch.

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  • Quellen

Bell, I. et al., Nature Reviews Psychology 10.1038/s44159–024–00334–9, 2024

Difede, J. et al., Translational Psychiatry 10.1038/s41398–022–02066-x, 2022

Lütt, A. et al., BMC Psychiatry 10.1186/s12888–023–05346-y, 2023

Tsamitros, N. et al., Scientific Reports 10.1038/s41598–024–81071–0, 2024

Wiebe, A. et al., Translational Psychiatry 10.1038/s41398–024–03217-y, 2024

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