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News: »Die Topografie eines Vulkans kann sich dramatisch verändern«

Im Interview erklärt die Vulkanologin Alina Schewtschenko, warum Vulkane unsterblich sind. Die Feuerberge, zeigen ihre Forschungen, haben ein Formgedächtnis.
Ausbruch des Vulkans Cotopaxi nahe der Stadt Quito. Im Vordergrund das Stadtzentrum, im Hintergrund ein rauchender Vulkankegel.

Öfter als einmal pro Woche bricht irgendwo auf der Welt ein Vulkan aus. Etwa 60 bis 80 Eruptionen gibt es weltweit pro Jahr. Nur wenige sind dabei so dramatisch wie der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010, der den Luftverkehr in Europa so stark beeinträchtigte wie kein Naturereignis zuvor. Aber auch jene unbeachtete Mehrheit der Vulkanausbrüche, von denen wir meist nichts erfahren, setzt gigantische Energiemengen frei. Häufig bricht dadurch der ganze Berg teilweise oder gar komplett zusammen.

Was aber geschieht danach? Mittlerweile ist bekannt, dass viele Vulkane aus den eigenen Überresten neu heranwachsen. Bislang allerdings hat niemand solche Vorgänge über lange Zeiträume beobachtet und analysiert. Gemeinsam mit russischen Vulkanologen hat nun ein Forscherteam des Deutschen Geoforschungszentrums in Potsdam diese Lücke geschlossen. Zu der Gruppe gehört auch die Geologin Alina Schewtschenko, die Luftaufnahmen von Vulkanen in Island und Kamschatka macht und auswertet.

Spektrum.de: Frau Schewtschenko, Sie und Ihre Kollegen haben am russischen Vulkan Besymjanny untersucht, wie dieser nach einem Kollaps aus seinen eigenen Überresten wieder heranwächst. Das ist kein neues Phänomen. Was macht Ihre Studie so besonders?

Alina Schewtschenko: Sie haben Recht, es gibt etliche Vulkane, die nach einem Zusammenbruch die gleiche Struktur und Form wie vor dem Kollaps entwickelten. Beispielsweise der Mount St. Helens in den USA, Santa Maria in Guatemala oder Ritter Island auf Papua-Neuguinea. Allerdings wuchsen kaum welche wieder zu ihrer ursprünglichen Größe heran. Das Besondere bei Besymjanny ist, dass wir diesen Prozess erstmals jahrzehntelang detailliert beobachten und Erkenntnisse über die einzelnen Wachstumsphasen des Vulkangebäudes gewinnen konnten.

Alina Schewtschenko | Alina Schewtschenko wurde in Petropawlowsk-Kamtschatski geboren und hat auch dort studiert. 2016 promovierte sie an der Staatlichen Universität St. Petersburg zu fotogrammetrischen Untersuchungen an aktiven Vulkanen in Kamtschatka. Inzwischen arbeitet sie am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Bei Feldarbeiten in Kamtschatka und Island macht Schewtschenko Luftaufnahmen von Vulkanen aus Hubschraubern und mit Drohnen, um die gesammelten Daten anschließend mit ihren Kollegen auszuwerten.

Wie sah diese Beobachtung konkret aus?

Als Grundlage dienten uns Luftaufnahmen, die wir ausgewertet und anhand spezieller Software in ein 3-D-Oberflächenmodell des Vulkans umgewandelt haben.

Das Hauptverfahren dahinter nennt sich Fotogrammetrie.

Genau. Diese Technik ermöglicht es uns, die Oberfläche eines Areals zu vermessen und zu rekonstruieren. Die Bilder müssen auf eine bestimmte Art und Weise aufgenommen werden – sich beispielsweise um 60 Prozent überlappen, ehe wir sie anschließend verarbeiten. Das Ergebnis ist eine Wolke aus zahllosen Punkten, die jeweils die Raumkoordinaten enthalten und zusammen die räumliche Oberflächenstruktur abbilden. Wie auf einer dreidimensionalen Landkarte.

Die Fotogrammetrie wird in vielen Bereichen der Geowissenschaften angewandt. Besonders hilfreich ist sie bei der Untersuchung von sich schnell verändernden Landschaften oder Regionen, zum Beispiel nach Erdrutschen, Vulkanausbrüchen oder bei der Dokumentation von Gletschern. Wir können die Topografie dieser Areale zum Beispiel mit Drohnenaufnahmen, Laserscannern oder mit Hilfe von Archivbildern rekonstruieren und dreidimensional speichern.

Woher stammte Ihr Bildmaterial?

Die ersten Bilder entstanden 1949 bei Kartierungsflügen der damaligen Sowjetunion. Sie wurden mit analogen Luftbildkameras aufgenommen, die sich an Bord eines Antonow-An-2-Flugzeugs sowie eines Mil-Mi-8-Transporthubschraubers befanden. Glücklicherweise wurden diese historischen Aufnahmen im Institut für Vulkanologie und Seismologie in Kamtschatka archiviert. Insgesamt arbeiteten wir mit 33 Aufnahmen, die 1949, 1967, 1976, 1977, 1982, 1994, 2006 und 2013 gemacht wurden. 2017 kamen noch digitale Drohnen- und Satellitenfotos hinzu.

Was geschah anschließend mit den Bildern?

Das Problem mit diesen alten Bildern ist, nun ja, ihr Alter. Sie sind verzerrt und deformiert. Wir mussten sie erst digitalisieren und dann manuell bearbeiten, ehe sie für das Fotogrammetrieverfahren verwendbar waren. Vor allem in Bereichen, die mit vulkanischem Dampf und Gas bedeckt waren, mussten wir jeden Punkt manuell setzen. Dafür trugen wir eine Anaglyphenbrille – den meisten von uns als 3-D-Brille bekannt –, mit der wir die Morphologie des Vulkans dreidimensional sehen konnten. Diesen mühseligen Job kann derzeit noch keine Software übernehmen.
Besymjanny vor dem Kollaps von 1956

Bei den nächsten Schritten half Ihnen der Computer allerdings.

Genau. Zunächst wurden Kameraeinstellungen wie Brennweite und die Verzerrung der Linse für jedes Bild ins System eingetragen und die Bilder optisch korrigiert. Danach folgte die so genannte relative Orientierung: Die Software glich identische Punkte auf den unterschiedlichen Bildern ab und setzte sie zueinander in Beziehung.

Dann kam die äußere Orientierung: Die Koordinaten der Fotos wurden nicht miteinander verglichen, sondern mit externen Referenzpunkten. So konnten wir unsere Messpunkte noch genauer kartieren und skalieren. Im letzten Schritt entstand aus all diesen Informationen eine Punktewolke, die wir schließlich als 3-D-Modell visualisieren können.

Wie aber konnten Sie anhand der Oberflächenfotos Aussagen über die Entwicklung im Inneren des Vulkans treffen?

Durch die Rekonstruktion der Oberfläche ergaben sich diverse Parameter – etwa die relative Höhe und Position der Schlote –, anhand derer wir modellieren konnten, was im Innern des Vulkans geschah, und so konnten wir beispielsweise die Ausbreitung der Magmabahnen berechnen. Auch wenn wir an der Oberfläche aktive vulkanische Schlote finden, erlaubt das Rückschlüsse auf das Vulkaninnere. Doch um dort detaillierte Aussagen machen zu können, sind petrologische Analysen nötig, die sich auf die Entstehung und Veränderung von Gesteinen konzentrieren.

Der neu gewachsene Besymjanny ist dem Vulkan vor dem Zusammenbruch sehr ähnlich. Sie und Ihre Kollegen sprechen davon, dass er ein strukturelles Gedächtnis hat.

Richtig. Wir konnten rekonstruieren, dass zunächst mehrere Kegel an unterschiedlichen Positionen wuchsen, etwa 400 Meter voneinander entfernt. Knapp 20 Jahre später stieg die Magmaaktivität des Vulkans, und die Schlote rutschten immer enger zusammen, bis sich die Aktivität nach gut 50 Jahren auf einen einzigen Schlot konzentrierte. Erst dadurch war es möglich, dass Besymjanny als ein einziger, steiler Kegel weiterwuchs.

Die Wiedergeburt des Besymjanny | Die beiden 3-D-Darstellungen zeigen zwei Momentaufnahmen des Wachstums von Besymjanny aus den Jahren 1967 und 2017. Anhand solcher präzisen räumlichen Darstellungen erschloss das Team um Schewtschenko, wie sich das Innere des Berges über die Jahrzehnte veränderte.

Inwiefern unterscheidet sich Besymjanny trotzdem von seiner früheren Version, und was bedeuten diese Veränderungen?

Der größte Unterschied besteht darin, dass sich der neue Vulkanschlot nun näher in Richtung der früheren Einsturzstelle befindet. Das beobachten wir auch bei anderen neu entstandenen Vulkanen. Beim »alten Besymjanny« gab es außerdem Anzeichen von zwei kleinen Gipfelkollapsen. Die sehen wir beim neuen Vulkan noch nicht.

Was geschah 1956 eigentlich mit Besymjanny?

Zunächst brach der gesamte östliche Sektor zusammen. Anschließend folgte eine enorme Eruption, die die Oberfläche des Vulkans zerstörte. Sie müssen verstehen: Die Topografie eines Vulkans und seiner Umgebung kann sich während eines Tages dramatisch verändern. Ein riesiger, steil abfallender Berg kann buchstäblich verschwinden. Doch nahezu unmittelbar nach dem Ausbruch begannen aus den Überresten neue Lavakuppeln zu wachsen. Auf eine destruktive folgte also sehr schnell eine konstruktive Phase.

Besymjanny ist heute fast wieder so hoch wie vor dem Einsturz, etwa 3113 Meter, und wächst immer weiter. Deutet das auf einen baldigen Einsturz hin?

Voraussagen in eine solche Richtung sind schwierig. Aber ich denke, dass ein neuer Einsturz dieser Größenordnung in nächster Zeit unwahrscheinlich ist. Der Zusammenbruch von 1956 wurde durch das Eindringen von Magma in geringe Tiefen des Vulkangebäudes ausgelöst. Gegenwärtig ist Besymjanny äußerst aktiv. Er bricht im Durchschnitt zweimal pro Jahr aus – häufig sehr explosiv mit 10 bis 15 Kilometer hohen Aschewolken.

Aber auch moderate Eruptionen mit Einlagerung von Lavaströmen sind möglich. Das neue Magma findet also immer einen Weg aus dem Vulkan heraus, bevor es zum Knall kommt. Deswegen gehen wir davon aus, dass sich Besymjanny höchstwahrscheinlich wie ein typischer Schichtvulkan verhalten und es in naher Zukunft nur zu kleineren Teileinstürzen des Gipfels kommen wird.

In den ersten zehn Jahren nach seinem Einsturz wuchs Besymjanny mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit von 56 000 Kubikmeter pro Tag. In den vergangenen vier Jahrzehnten verlangsamte sich dieses Tempo fast auf ein Viertel. Ein Vulkan hat also verschiedene Wachstumsphasen?

Ja. Am größten ist das Tempo im ersten Stadium der Neubildung, der Entwicklungsphase des Lavadoms. Danach geht es langsamer voran, denn die Lava wird meist dünnflüssiger. Als 1977 die ersten Lavaströme auftraten, stabilisierte sich die Wachstumsgeschwindigkeit auf den heutigen Wert. Diese Entwicklung ist bei den meisten der untersuchten Vulkane üblich.

Der Mount St. Helens in den USA und Schiwelutsch in Kamtschatka wuchsen deutlich schneller.

Das stimmt. Allerdings haben beide neuen Vulkangebäude noch nicht die Größe und Morphologie erreicht wie vor dem Zusammenbruch. Der Mount St. Helens wächst periodisch, und seit 2008 beobachten wir keine Aktivität des Lavadoms mehr. Und bei Schiwelutsch überwiegen destruktive Prozesse gegenüber konstruktiven. Es kommt also immer wieder zu kleinen Einbrüchen.

Besymjanny in seiner heutigen Form | Der ursprüngliche Gipfel des Vulkans hat sich nach dem Kollaps quasi regeneriert.

Wie kamen Sie überhaupt auf dieses außergewöhnliche Forschungsprojekt?

Als ich 2016 aktuelle Luftaufnahmen von Besymjanny auswertete, fiel mir auf, dass sich unter der Einsturznarbe seines neuen Vulkangebäudes kein Lavadom befindet – so, wie wir es vermutet hatten –, sondern ein Schichtvulkan. Auf einer Vulkanologenkonferenz anlässlich des 50. Jahrestages von Besymjannys Einsturz hielt ich darüber einen Vortrag, der sehr kontrovers diskutiert wurde.

Glücklicherweise haben wir im Institut für Vulkanologie und Seismologie in Kamtschatka ein riesiges Archiv mit Luftbildern von Besymjanny. Also beschlossen meine Koautoren und ich, diese Aufnahmen zu nutzen, um den Vulkan zu verschiedenen Zeiten in 3-D zu rekonstruieren – und so letztlich unsere Theorie zu belegen. Anfangs wollte ich lediglich die Vulkanoberfläche in 3-D wiederherstellen, um zu sehen, wie sich Besymjanny im Laufe der Zeit entwickelt hat. Um das Magmaverhalten in den Tiefen des Vulkans ging es mir gar nicht. Doch zum Glück schlugen meine Kollegen vom GFZ vor, auch diesen Aspekt zu untersuchen.

Worauf sind Sie, abgesehen vom »Vulkangedächtnis« noch gestoßen?

Als Geomorphologin faszinieren mich vor allem die vielfältigen Landformen, die während des Wiederaufbaus entstanden sind: Scherloben, Faltenstrukturen, Lavaströme, Lavapfropfen, Krater und so weiter. Es war unglaublich interessant, sie zu kartieren und über die Prozesse ihrer Entstehung zu spekulieren. Noch gibt es viele offene Fragen, die wir in unseren nächsten Studien beantworten wollen.

Was bedeuten Ihre Ergebnisse der Besymjanny-Untersuchung für die Evolution von Vulkanen im Allgemeinen?

Dank dieser Langzeitbeobachtung können wir im Detail sehen, wie ein Vulkan nach einem Sektorzusammenbruch wieder heranwächst und sind in der Lage, diverse Stadien des Wiederaufbaus zu unterscheiden. Nehmen wir beispielsweise den russischen Vulkan Awatschinskaja Sopka. Dessen letzter Sektorkollaps liegt inzwischen mehrere Jahrtausende zurück, und er ist seither zu einem neuen Kegel herangewachsen. Wir können nun davon ausgehen, dass er einen ähnlichen Prozess durchläuft wie Besymjanny. Darauf deuten auch einige Gesteinsuntersuchungen.

Inwieweit können Regierungsbeamte, Wissenschaftler oder Experten für Krisenmanagement und -prävention von diesem »Vulkangedächtnis« profitieren?

Grundsätzlich sollte man sich gut überlegen, ob und wie man Gebäude in der Nähe von zusammengestürzten oder vermeintlich stabilen Vulkanen errichtet. Wenn ein neuer Vulkan auf den Überresten des alten heranwächst, kann die Lava in alle Richtungen fließen. Genau das ist bei Besymjanny passiert: Zuvor waren sämtliche Hänge des Vulkans mit Ausnahme des Südostens – das war letztlich die Einsturzrichtung – verhältnismäßig sicher.

Momentan allerdings ist ein Forschungsgebäude der Vulkanologen am südlichen Fuß des Vulkans bedroht. Erst vergangenes Jahr kamen in Folge zweier starker Eruptionen riesige pyroklastische Ströme der Hütte gefährlich nahe. Das Gebäude muss also woandershin verlegt werden. Außerdem können wir uns darauf einstellen, dass es in Zukunft zu weiteren Flankenkollapsen kommt. Diese müssen nicht so katastrophal sein wie der von 1956, dennoch stellen sie für Besucher eine große Gefahr da.

Frau Schewtschenko, herzlichen Dank für das Gespräch.

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