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Wahrnehmung: Schleimpilz misst Größe von Objekten

Der ohnehin als intellektuell bekannte Schleimpilz Physarum polycephalum verblüfft durch eine weitere komplexe Fähigkeit. Er schließt anhand der Dehnung des Untergrunds auf die Größe von Objekten.
Der plietsche Schleimpilz Physarum polycephalum kann sich erinnern und löst komplexe Probleme. Aber kann er auch Kanzler?

Schleimpilze haben kein Gehirn, können jedoch trotzdem Informationen verarbeiten und auf dieser Basis Entscheidungen treffen. Wie eine Arbeitsgruppe um Michael Levin von der Tufts University in Medford berichtet, kann der Schleimpilz Physarum polycephalum nicht nur die Präsenz eines Objekts erkennen, sondern auch dessen Größe, und sich an dieser Information orientieren. Laut ihrem Bericht in »Advanced Materials« nutzte Physarum in dem Versuch die Dehnung des Untergrunds, um zwischen zwei entfernten Objekten unterschiedlicher Ausdehnung zu unterscheiden und auf eines von ihnen zuzukriechen. Bereits in früheren Studien hatte sich gezeigt, dass der Organismus Erinnerungen über frühere Nahrungsquellen speichern kann.

Es ist ein Unterschied, ob ein Organismus bloß auf bestimmte Signale reagiert oder ob er solchen Signalen Informationen entnimmt, diese verarbeitet und auf diese Weise Entscheidungen trifft. Für Letzteres, dachten Fachleute lange, bräuchte man Nervenzellen. Doch der plietsche Schleimpilz Physarum vollbringt solche Leistungen ohne diese oder auch nur irgendwelche Zellen. Sein amöbenartiger Körper besteht aus einer Zellmembran, die ein gemeinschaftliches Zellplasma umhüllt, in dem unzählige Zellkerne schwimmen. Man bezeichnet diese Struktur als Syncytium. Der Schleimpilz bewegt sich, indem er Röhren in alle Richtungen ausstreckt, durch die dann das Syncytium an den gewünschten Ort fließt.

Die Arbeitsgruppe setzte den Organismus ins Zentrum einer Petrischale, deren Boden mit einem flexiblen Gel bedeckt war. An entgegengesetzten Enden der Schale platzierten sie runde Glasscheiben auf dem Gel und ließen den Pilz dann im Dunkeln wandern. Dabei zeigte sich, dass der Pilz die Masse der Glasscheiben erspürte. Die Fachleute um Levin vermuten, dass das rhythmische Pulsieren des Syncytiums dem Pilz dabei hilft, Zugspannungen im Untergrund wahrzunehmen. Laut den Experimenten scheint eine Klasse von Membranproteinen, die TRP-artigen Proteine, dabei zu helfen. Diese Proteine spüren auch bei anderen Organismen Zugspannung – und wenn das Team den Pilz mit einem Hemmstoff für die Proteine behandelten, verlor er die Orientierung.

Physarum erspürt aber nicht bloß Masse, sondern auch deren Verteilung. Die Gruppe stellte fest, dass es für den Pilz attraktiver ist, wenn die drei Glasscheiben nebeneinander statt aufeinander liegen. Würde Physarum lediglich auf den Reiz reagieren, sollte man das Gegenteil erwarten: Die gestapelten Scheiben verzerren das Gel stärker. Da jedes gute Paper heutzutage ein Computermodell beinhaltet, simulierte die Arbeitsgruppe die Spannungsverteilung im Gel abhängig von der Verteilung der Glasscheiben auf dem Gel. Tatsächlich zeigte sich, dass sich das Muster der Verzerrungen im Gel ändert, wenn die Gewichte anders verteilt sind. Das Team schlussfolgert, dass der Schleimpilz diese Verzerrung nicht nur als reinen Reiz wahrnimmt, sondern auch deren räumliches Muster erfasst und daraus Schlüsse über die Ursache zieht.

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