Wahrnehmung: Wer seltener hinsieht, ist leichter beeindruckt

»Du bist aber groß geworden!« Wer erinnert sich nicht an diesen Satz aus der Kindheit, vorzugsweise ausgesprochen von einem Onkel oder einer Tante, die man vielleicht nur einmal im Jahr zu Gesicht bekam. Hinter diesem Ausruf steckt wohl ein psychologischer Effekt, den ein Team aus Wissenschaftlern um André Vaz von der Ruhr-Universität Bochum jetzt näher untersuchte: Bewerten wir einen Prozess von stetigem Zuwachs – das Heranwachsen der Nichte, den Umsatz eines erfolgreichen Unternehmens, die Ausbreitung einer Infektionskrankheit –, so vernachlässigen wir, wie viel Zeit seit der letzten Kontrolle vergangen ist: Ins Auge fällt Onkel Reinhard dann nur, dass Lena bestimmt fünf Zentimeter größer geworden ist. Er vergisst dabei, dass er sie ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen hat. Um dem Effekt auf den Grund zu gehen, testeten die Wissenschaftler in einer Studienreihe knapp 4400 Personen; ihre Ergebnisse berichten sie im Fachmagazin »Journal of Experimental Psychology: General«.
In verschiedenen Studien sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Abläufe bewerten, zu welchen ihnen fortlaufend Informationen angezeigt wurden. Beispielsweise beobachteten sie den Anstieg der CO2-Emissionen zweier afrikanischer Länder – Ghana und Benin –, deren Emissionsdaten in einer fiktiven Zwölf-Jahres-Simulation präsentiert wurden. Die Studienleiter variierten dabei, wie regelmäßig die Versuchspersonen über Veränderungen unterrichtet wurden: Während etwa der ghanaische Emissionsbericht jedes Jahr angezeigt wurde, erhielten sie die Zahlen aus Benin nur alle drei Jahre. Angegeben wurde stets der Emissionszuwachs seit dem letzten Bericht. Im Anschluss an die Simulation sollten die Teilnehmenden einschätzen, wie stark die Emissionen der beiden Länder in den nächsten zwei Jahren zunehmen würden, wobei sie mit einem ähnlichen Anstieg rechnen sollten wie zuvor. Obwohl die CO2-Emissionen der beiden Länder in der Simulation genau gleich stark angestiegen waren, zeigte sich: Die Probanden überschätzten den Anstieg im selten überwachten Land – hier Benin – im Vergleich zum häufig kontrollierten Ghana.
In einer anderen Variante nahmen die Teilnehmenden die Rolle einer Führungsperson in einem Produktionsbetrieb ein. Über einen simulierten Zeitraum von zwölf Tagen war es ihre Aufgabe, zwei Mitarbeiter zu beaufsichtigen. In zufälligen Kontrollen erfuhren die Versuchspersonen, wie viele Produktionsteile der jeweilige Arbeiter seit seiner letzten Evaluation hergestellt hatte; der Arbeiter bemerkte von der Kontrolle nichts. Wieder erfolgten die Updates in unterschiedlichen Abständen: Über den Fortschritt eines Arbeiters erhielt man täglich Informationen – dieser produzierte rund vier Teile pro Tag –, der andere hingegen unterlag nur alle drei Tage einer Kontrolle und stellte durchschnittlich zwölf Teile in diesem Zeitraum her. Damit hatten die beiden Mitarbeiter in Summe gleich viele Teile angefertigt. Erneut überschätzten die Teilnehmer allerdings die Produktivität desjenigen Arbeiters, auf dessen Fortschritt seltener geblickt wurde.
Konnten sich die Versuchspersonen die absoluten Veränderungen einfach besser merken als die verstrichenen Zeiträume? Laut der Wissenschaftler war das nicht der Fall. Stattdessen scheiterten die Teilnehmer beim Integrieren der beiden Informationen zu einem Gesamturteil, wobei sie stets den vergangenen Zeitraum vernachlässigten.
In einer weiteren Studie sollten sich die Befragten in die Perspektive der Produktionsarbeiter versetzen: »Wenn es Ihr Ziel wäre, Ihrem Chef als besonders produktiver Mitarbeiter aufzufallen, würden Sie lieber öfter oder seltener als andere Mitarbeitende von ihm kontrolliert werden?« Im Mittel sprachen sich die Teilnehmenden eher für häufigere Kontrollen aus, was mit dem Wunsch nach genaueren Chefurteilen zusammenhing sowie der Überzeugung, dass es sich auszahlt, im Aufmerksamkeitsfokus der Führungsperson zu stehen. Dabei könnte seltenere Kontrolle nicht nur als Vertrauensbeweis interpretiert werden – offensichtlich beeindruckt die verrichtete Arbeit Chefs dann umso mehr!
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